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FORTBILDUNG
Die Rolle der Folsäuretherapie in der Epilepsiebehandlung
Foto: zVg
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Die Folsäuresupplementierung vor und während der Schwangerschaft hat einen wichtigen Stellenwert im Hinblick auf eine gesunde Kindsentwicklung. Die richtige Dosierung für Patientinnen mit Epilepsie wird nun aufgrund einer aktuellen Studie in Frage gestellt, wobei wir mit dieser Literaturaufstellung versuchen, anhand der aktuellen Evidenzen eine mögliche Entscheidungshilfe zu geben.
Roland Renzel Elisabeth Sellitto
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von Roland Renzel1 und Elisabeth Sellitto1
D ie Folsäuresupplementierung wird von der WHO bei Frauen mit Kinderwunsch bereits seit 1968 empfohlen und hat sich in den meisten Ländern als Standard etabliert (1). Es besteht eine gute Evidenzlage (2, 3) dafür, dass hierdurch ein grosser Anteil von Neuralrohrdefekten (NTD) verhindert werden kann. Bei Frauen mit Kinderwunsch und Epilepsie unter anfallssuppressiver Medikation mit Einfluss auf den Folsäurestoffwechsel wird in der Regel eine Hochdosissupplementierung von 5 mg/Tag empfohlen (4). 2022 hat eine prominent publizierte retrospektive Kohortenstudie zum Thema Krebsrisiko bei Kindern von Müttern mit Epilepsie und Hochdosis-Folsäuresupplementierung hohe Wellen in der Fachwelt geworfen (5). Sie lässt den behandelnden Neurologen vor allem mit offenen Fragen zurück: Wann ist eine HochdosisFolsäuresupplementierung bei Kinderwunsch und Epilepsie vertretbar? Und wenn ja, wieviel? Hierzu werden wir die Kernaussagen der Studie kurz vorstellen und anschliessend mit einem Überblick zur Studienlage die generelle Nutzen-Risiko-Abwägung der Hochdosis-Folsäuresupplementierung diskutieren.
Überblick über die Studie Die untersuchte Kohorte sind Kinder von Müttern mit und ohne Epilepsie und mit und ohne Hochdosis-Folsäuresupplementierung (definiert als > 1 mg Folsäure pro Tag) in der perikonzeptionellen Phase und der Schwangerschaft. Die Daten wurden aus den anonymisierten staatlichen Gesundheitsregistern der skandinavischen Staaten Schweden, Norwegen und Dänemark im Zeitraum 1997 bis 2017 erhoben und umfassen somit praktisch alle Einlingslebendgeburten dieser drei Länder. Das ergab selbst nach Anwendung der Ausschlusskriterien eine Kohortengrösse von über 3 Millionen Teilnehmern. Wichtigster Endpunkt war das Auftreten von Krebs in der Kindheit (bis zum 20. Lebensjahr) bei einem durchschnittlichen Beobachtungszeitraum von 7 Jahren.
1 Schweizerisches Epilepsie-Zentrum, Klinik Lengg
Es traten 18 Krebsfälle bei 5900 Kindern von Müttern mit Epilepsie und Hochdosis-Folsäure auf. Das entsprach hochgerechnet auf die ersten 20 Lebensjahre einem absoluten Risiko von 1,5% und einer 2,7-fachen Risikoerhöhung, an Krebs zu erkranken, gegenüber Kindern von Müttern mit Epilepsie, aber ohne Hochdosis-Folsäure. Bei Kindern von Müttern ohne Epilepsie – naturgemäss bei 100-fach grösserer Gesamtkohorte – wurde hingegen kein signifikanter Unterschied des Auftretens von Krebs mit oder ohne Hochdosis-Folsäuresupplementierung festgestellt. Hierbei muss einschränkend gesagt werden, dass im Durchschnitt andere Dosierungen der Supplementierung zum Einsatz kamen (2,9 mg vs. 4,3 mg bei Müttern mit Epilepsie). Andere Risikofaktoren für die Entwicklung von Krebs (z. B. etwa die anfallssuppressive Medikation) wurden gemäss Studienautoren nicht identifiziert.
Bedeutung der Studie und Einordnung in die bisherige Datenlage zur Folsäuresupplementierung Die unabhängige Studie von Vegrim et al. (5) liefert eine erstmalige allgemeine und aufgrund der riesigen Datenquelle umfassende Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Krebsrisiko von Kindern von Müttern mit Epilepsie und Hochdosis-Folsäuresupplementierung. Die grundsätzliche Frage lautet, ob Folsäuresupplementierung an sich mit einem erhöhtem kanzerogenen Risiko behaftet ist. Daraus leitet sich dann die spezifischere Frage ab, ob Kinder von Müttern unter Folsäuresupplementierung einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind.
Rolle der Folsäure Hierzu lohnt es sich, die Rolle von Folsäure bzw. der biologisch aktiven Form Tetrahydrofolat im Stoffwechsel und ihre medizinische Bedeutung kurz zusammenzufassen. In Zusammenwirkung mit Vitamin B12 (6) ist Methyltetrahydrofolat an der Umsetzung von Homocystein zu Methionin beteiligt und damit indirekt an DNA-Methylierungsvorgängen. Über seine methylierte Form ist Tetrahydrofolat ferner auch an der Purin- und Thymidilatsynthese und somit direkt an der DNA-Synthese selbst beteiligt (Abbildung). Hiermit erklärt sich die po-
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Folsäure Dihydrofolat
Tetrahydrofolat
Purinsynthese
5-Formyltetrahydrofolat
DNA/RNA-Synthese
5,10-Methylentetrahydrofolat Thymidilatsynthese
5-Methyltetrahydrofolat
Vitamin B12
HomocysteinMethionin-Zyklus
Methylierungsvorgänge Abbildung: Stark vereinfachte schematische Darstellung der Rolle des Fettstoffwechsels (Grafik: R. Renzel/E. Sellitto)
tenzielle Wichtigkeit des Folsäurestoffwechsels sowohl beim Wachstum und als auch bei der Entstehung von Neoplasien. Die in der Abbildung beschriebene Co-Aktion mit Vitamin B12 in der Methioninsynthese erklärt auch die schon in der Vergangenheit empfohlene Beschränkung der Dosierung auf unter 1 mg (7). Die isoliert erhöhte Folsäurezufuhr könnte zu einer Maskierung der Vitamin-B12-Defizienz führen, dies aufgrund der isolierten Verbesserung der megaloblastären Anämie (4, 7) bei jedoch weiterhin bestehender Vitamin-B12-Mangel-Neuropathie. Unbestritten bleibt der günstige Effekt der Folsäuresupplementierung auf die Verhinderung von Neuralrohrdefekten (8). Die genauen Mechanismen hierfür sind nicht bekannt (7), bzw. es wird allgemein die oben beschriebene Rolle bei der De-novo-Synthese von DNA-Bausteinen (Purine, Thymidilate) betont. Diese günstige Wirkung hat sogar dazu geführt, dass Folsäure in Ländern wie den USA dem Mehl zugesetzt wird (sogenannte Fortifikation [9]). Etablierter Konsens war bislang auch die Hochdosis-Supplementierung für Risikogruppen (women at high risk [1, 10]) wie beispielsweise Frauen unter (mehrfacher) anfallssuppressiver Medikation.
Empfehlungen und Evidenzlage pro Folsäure Die Einnahme einer präkonzeptionellen Folsäureprophylaxe mit mindestens 0,4 mg/Tag wird jeder gebärfähigen Frau mit Kinderwunsch empfohlen, um das Risiko grosser angeborener Fehlbildungen (MCM, major congenital malformation) zu minimieren (11, 12). Diese werden als strukturelle Abnormitäten mit signifikanter medizinischer, sozialer oder kosmetischer Relevanz (13) definiert. Eine randomisierte Studie konnte bereits 1991 zeigen, dass für Patientinnen, die bereits eine Anamnese für einen Neuralrohrdefekt in einer früheren Schwangerschaft hatten, eine Folsäureprophylaxe von 4 mg/Tag das Risiko für weitere Neuralrohrdefekte im Vergleich zu keiner Einnahme von Folsäure reduzierte (14). Die Dosis von 4 mg in dieser Studie basierte dabei auf der zu dieser Zeit verfügbaren Pillengrösse. Patientinnen mit Epilepsie und Einnahme eines anfallssuppressiven Medikamentes galten diesbezüglich bis anhin als Hochrisiko-Gruppe. Dies basiert auf der Assoziation von Medikamenten mit erhöhten Fehlbildungs-
raten und Enzyminduktoren mit Eingriff in den Folsäurestoffwechsel. Zur Verhinderung von Neuralrohrdefekten wird in den DGN-Leitlinien für alle Epilepsiepatientinnen im gebärfähigen Alter mit Kinderwunsch bislang eine Folsäureprophylaxe mit 5 m g/Tag bereits vor Eintritt der Schwangerschaft empfohlen (Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie – Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter, Stand 04/2017). Diese Empfehlung ist konsistent zu den Empfehlungen in anderen europäischen Ländern und im Vereinigten Königreich (15). Das American Congress on Obstetrics and Gynecology Committee (ACOG) empfiehlt eine tägliche Dosis von 4 mg für Frauen mit Epilepsie (16). Die Evidenz bezüglich hochdosierter Folsäureeinnahme bei dieser Patientengruppe ist bisher eher schwach. In einer longitudinalen prospektiven Kohortenstudie anhand der Daten des EURAP-Registers fand sich keine Risikoreduktion angeborener Fehlbildungen bei passender präkonzeptioneller Einnahme von Folsäure über 0,4 mg/Tag. Im Gegenteil: Es zeigte sich eine grenzwertig erhöhte Assoziation mit MCM in dieser Gruppe, wobei dies damit begründet wird, dass man Patientinnen mit einem erwarteten negativen Schwangerschaftsoutcome eher eine Folsäuresubstitution verordnete (17, 18). Auch eine frühere grosse prospektive Studie des UK epilepsy and pregnancy registers fand keinen Nutzen einer hochdosierten Folsäuretherapie zur Reduktion des Fehlbildungsrisikos bei Einnahme anfallssuppressiver Medikamente (19). Allerdings zeigt sich in einer prospektiven Kohortenstudie ein Zusammenhang zwischen einer erniedrigten Folsäurekonzentration im Serum < 4,4 nmol/l und neonatalen Fehlbildungen (20). Gute Evidenz liegt mittlerweile für den präventiven Effekt der (normal dosierten) Folsäure auf das Risiko von Autismus-Spektrum-Störungen vor (21, 22). Diese basiert vor allem auf Untersuchungen mit der Standarddosierung von 0,4 mg/Tag, wobei auch ein positiver Effekt auf die psychomotorische Entwicklung des Kindes aufgezeigt werden konnte (23, 24). In einer grossen norwegischen Kohortenstudie mit Kindern von Müttern mit Epilepsie und Einnahme von anfallssuppressiven Medikamenten war das Risiko für autistische Züge signifikant reduziert, wenn eine Folsäureprophylaxe erfolgte (adjusted odds ratio nach 18 Monaten: 5,9; nach 36 Monaten: 7,9). Eine adäquate Folsäureprophylaxe wurde als Einnahme einer Dosis ≥ 0,4 mg/Tag 4 Wochen vor bis 12 Wochen nach Konzeption definiert. Zusätzlich fand sich eine negative Korrelation des in der 17. bis 19. Schwangerschaftswoche gemessenen mütterlichen Folsäureserumspiegels zum Ausmass des Autismus-Risikos (25). Auch ein protektiver Effekt auf eine verzögerte Sprachentwicklung konnte bei Einnahme von Folsäure mindestens 4 Wochen vor Konzeption bis zum Ende des ersten Trimenons nachgewiesen werden (26). Eine Arbeit der NEAD Study Group (Neurodevelopmental Effects of Anticonvulsive Drugs) fand einen um durchschnittlich 5 Punkte höheren Gesamt-Intelligenzquotienten bei Untersuchung von je 311 3- und 6-jährigen Kindern von Müttern mit Epilepsie, anfallssuppressiver Therapie und präkonzeptioneller Folsäureeinnahme im Vergleich zu keiner Folsäureeinnahme. Ein
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signifikant positiver Effekt ergab sich zudem für den nonverbalen Index, den expressiven Sprachindex und die exekutiven Funktionen im Alter von 6 Jahren. Dabei war der Nutzen der Folsäureeinnahme nicht nur auf die Risikogruppe der Valproat-Exponierten alleine beschränkt, sondern galt für alle untersuchten anfallssuppressiven Medikamente. In der Studie unterschied man 4 Dosierungsgruppen der Folsäureeinnahme: 0–0,4 mg; 0,4–1 mg; 1–4 mg und > 4 mg/Tag, wobei sich die meisten Kinder in der Gruppe > 4 mg befanden (54/221) und lediglich 6 Kinder in der Gruppe ≤ 0,4 mg (27, 28).
Evidenzbasierte Risiken der Folsäuretherapie Risiken bezüglich Neoplasien Zusammenfassend wird in der Literatur sowohl bei Mangel als auch bei Folsäureüberschuss ein etwas erhöhtes Neoplasierisiko angenommen (27). Beim FolatMangel wird das Risiko mit der Instabilität des Genoms und verändertem Methylierungsstatus von Tumorsuppressorgenen begründet. Beim Folatüberschuss beschreibt die Literatur hingegen eine Begünstigung des Tumorwachstums aufgrund der Unterstützung der DNA-Synthese in Tumorzellen (6). Passend zu diesen Annahmen weisen einzelne Studien bei Nichtepilepsiepatienten auf ein leicht erhöhtes Risiko für einige Neoplasien hin. In einem Follow-up zwei randomisierter, plazebokontrollierter Studien in Norwegen wurden insgesamt 6837 Patienten mit ischämischer Herzerkrankung und einer Therapie mit Folsäure (0,4–0,8 mg/Tag) und Vitamin-B12-Supplementation auf ein erhöhtes Karzinomrisiko untersucht. Dabei erhielten, nach durchschnittlich 39 Monaten Behandlung und 38 Monaten Follow-up, 10% der Teilnehmer in der Folsäure + Vitamin-B12-Gruppe eine Karzinomdiagnose vs. 8,4% in der Gruppe ohne Supplementierung (Hazard Ratio [HR]: 1,21; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,03–1,41); p = 0,02). Am häufigsten beobachtete man dabei das Auftreten von Lungenkarzinomen (30). Zum spezifischen Risiko, nach Folsäureeinnahme an einem kolorektalen Karzinom zu erkranken, liegen in der Literatur unterschiedliche Ergebnisse vor. So fanden mehrere Reviews einen protektiven Effekt eines kontinuierlichen Folsäurespiegels (31) oder einer höher dosierten Folsäureeinnahme (32, 33). Die Definition einer höheren Folsäuredosis war dabei von Studie zu Studie sehr heterogen definiert und belief sich auf Dosen > 243 µg/Tag bis > 2430 µg/Tag. Andere Arbeiten kommen zu einem gegenteiligen Schluss. So identifizierte das Langzeit-Follow-up einer grossen multizentrischen niederländischen Studie ein erhöhtes Risiko für kolorektales Karzinom bei Einnahme von Folsäure von 0,4mg/Tag über 2 bis 3 Jahre (HR: 1,77; 95%-KI:1,08–2,90); p = 0,02) (34). Spezifisch für Kinder von Müttern unter Hochdosis-Supplementation wird die Datenlage weitaus dünner. Die Literatur bezog sich hierbei bisher nur auf Standarddosierungen der Folsäure. In einer Studienkohorte aller Lebendgeburten in Norwegen zwischen Januar 1999 und Dezember 2010 (687 406), fand sich kein erhöhtes Karzinomrisiko in den ersten 6 Lebensjahren bei Kindern, deren Mütter vor und/oder während der Schwangerschaft Folsäure eingenommen hatten (35).
In anderen Studien fand man eine inverse Korrelation zwischen mütterlicher Folsäureeinnahme vor und während der Schwangerschaft (in Standarddosierung) und dem Auftreten kindlicher Hirntumore (36) und akuter lymphatischer Leukämie (ALL) (37–39). Zusammenfassend bleibt die Studienlage zum Neoplasierisiko offen und zum Teil sogar widersprüchlich. Der umfassende Review von Field et al. (7) kommt zum Schluss, dass kein eindeutiger Hinweis für ein erhöhtes Gesamtrisiko für Standarddosierungen (0,2 bis 1 mg) besteht. Spezifisch für Kinder hochdosiert supplementierter Mütter fehlte bis zur aktuellen Studie (5) eine gesonderte Betrachtung des Neoplasierisikos.
Risiken bezüglich ZNS-Entwicklung Eine spanische Kohortenstudie wies erstmals auch auf einen möglichen negativen Effekt einer hoch dosierten Folsäureprophylaxe auf die psychomotorische Entwicklung bei Kindern, ein Jahr nach der Geburt, hin. Kinder von Frauen, die präkonzeptionell und während der Schwangerschaft > 5 mg Folsäure pro Tag einnahmen, hatten einen signifikant verminderten Wert im psychomotorischen Score der durchgeführten Entwicklungsdiagnostik (Bayley Scales of infant developement, BSID), verglichen mit der Gruppe, deren Mütter 0,4–1 mg/Tag einnahmen (Differenz: -4,35 Punkte, 95%-KI: -8,34 bis -0,36). Eine Limitation dieser Studie ist die fehlende Information über die Indikation der Hochdosis-Folsäuretherapie. Frauen mit anfallssuppressiven Medikamenten wurden von dieser Studie ausgeschlossen (40). Eine weitere spanische Kohorten Studie derselben Arbeitsgruppe fand die Tendenz zu einem geringeren Geburtsgewicht bei perikonzeptioneller Folsäureeinnahme von > 1 mg/Tag (41).
Gesamtbewertung In Kenntnis der vorgenannten Studien erscheint ein Einfluss einer Hochdosis-Folsäuresupplementierung bei Müttern auf das Neoplasierisiko der Kinder pathophysiologisch plausibel – zumal Folat aktiv in den fötalen Kreislauf transportiert wird und somit dort in höherer Konzentration als bei der Mutter vorhanden ist (42). Der Umstand, dass bei Kindern von Müttern ohne Epilepsie jedoch kein Unterschied hinsichtlich des Neoplasierisikos bei einer Hochdosis-Supplementierung festgestellt wurde, deutet darauf hin, dass auch andere Faktoren als Folsäure beim Neoplasierisiko eine Rolle spielen, die in der Studie nicht abgebildet wurden (5). Die Grundproblematik der retrospektiven Registerstudie ist, dass die Epilepsiediagnose, die Hochdosis-Folsäuresupplementierung und auch das Krebsrisiko jeweils keine gänzlich voneinander unabhängigen Variablen darstellen. So könnte der Entscheid zur Hochdosissupplementierung auf ärztlicher Kenntnis individueller Risikofaktoren beruhen (Lebensstil, gesundheitliche Risikofaktoren abseits dokumentierter syndromaler Erkrankungen, komplexe Pharmakotherapie), die naturgemäss in einer reinen Registerstudie nicht abgebildet werden können, was auch bereits von den Studienautoren als Einschränkung genannt wurde (5). Abgesehen von diesen grundsätzlichen Erwägungen besteht auch das Problem der nicht erfolgten detaillierten Risikostratifizierung hinsichtlich der Dosierung der Folsäure. Auch in den vorangegangenen grossen Stu-
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Merkpunkte:
● Folsäureprophylaxe ist wichtig zur Prophylaxe grosser angeborener Fehlbildungen.
● Ein leicht erhöhtes Karzinomrisiko bei Hochdosis-Folsäuretherapie > 4mg/Tag ist möglich.
● Die schlechteste Folsäuredosis ist keine Dosis. ● Bis zum Vorliegen weiterer Studien schlagen wir vor, bei Frauen mit Epilepsie
im gebärfähigen Alter Folsäure pragmatisch mit mindestens 1 mg/Tag bis maximal 3 mg/Tag zu substituieren.
dien erfolgte die Dosierung in der Praxis oft pragmatisch nach der vorhandenen Tablettengrösse (14). Zusammenfassend besteht ein durch eine qualitativ hochstehende Studie erbrachter Hinweis auf ein leicht erhöhtes kanzerogenes Risiko von Kindern von Müttern mit Epilepsie unter Hochdosis-Folsäuresupplementierung, was nicht im Widerspruch bisheriger Erkenntnisse steht. Weitere Faktoren, die das vermehrte Auftreten von Neoplasien in dieser Gruppe begünstigen, müssen durch zukünftige Studien noch identifiziert werden. Insgesamt überwiegen wegen der grossen Häufigkeit von Neuralrohrdefekten/ZNS-Entwicklungsstörungen gerade bei Müttern mit Epilepsie und anfallssuppressiver Medikation aus unserer Sicht klar die Vorteile einer Hochdosis-Folsäuresupplementierung. Für Dosierungen bis 1 mg besteht gestützt auf die Literatur sehr gute Evidenz für kein erhöhtes Risiko bzw. sogar vielfache Hinweise auf eine Risikoreduktion sowohl für einige Neoplasiearten (36–39) als auch für kognitive Entwicklungsstörungen (25, 27, 28).
Fazit Die Hochdosis-Supplenmetierung bei Risikopatientinnen mit anfallssuppressiver Medikation ist weiter klar zu empfehlen; die optimale Dosierung der Hochdosis-Supplementierung bleibt aber offen. Angesichts der noch offenen Datenlage zu diesen entscheidenden Fragen könnte bei Risikopatientinnen unter anfallssuppressiver Medikation ein pragmatischer Mittelweg sinnvoll sein mit moderater Dosierung zwischen 1 und 3 mg pro Tag. Hierfür würde sprechen, dass die Studiendaten von Vegrim et al. keine signifikante Risikoerhöhung für (angenommene) Dosierungen bis 3 mg/Tag nachweisen konnten (5, 43). Zu überlegen ist dabei auch, die Folsäuredosierung innerhalb dieses Bereichs je nach individuell vorbekannten Risikofaktoren (Anwendung enzyminduzierender anfallssuppressiver Medikation, in früheren Schwangerschaften stattgehabten Neuralrohrdefekte) zu variieren. Wir hoffen, mit diesem Beitrag den praktizierenden Kollegen eine kleine Entscheidungshilfe in die Hand geben zu können. Die Diskussion zur Hochdosis-Folsäuresupplementierung bei Frauen mit Epilepsie bleibt aber bis zum Vorliegen neuer Erkenntnisse weiterhin offen. l
Korrespondenzadresse: Dr. med. Roland Renzel
Oberarzt Klinik Lengg AG Bleulerstrasse 60, 8008 Zürich E-Mail: Roland.Renzel@kliniklengg.ch
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