Metainformationen


Titel
Wo Gadgets enden und die Medizin beginnt
Untertitel
-
Lead
-
Datum
Autoren
-
Rubrik
Neurologie — Fortbildung
Schlagworte
-
Artikel-ID
61751
Kurzlink
https://www.rosenfluh.ch/61751
Download

Transkript


FORTBILDUNG
Wo Gadgets enden und die Medizin beginnt
Der technische Entwicklungsstand und die Genauigkeit der Algorithmen kommerziell verfügbarer mobiler Sensoren (wearables) haben in den letzten Jahren signifikante Fortschritte gemacht. Ungeachtet dessen finden diese Devices nur langsam den Weg in das Gesundheitswesen. Die Gründe hierfür sind neben kulturellen Unterschieden zwischen Verbrauchermarkt und Gesundheitswesen die eingeschränkte Anwendbarkeit der Algorithmen bei Patienten.

Foto: zVg

Jens Eckstein

von Jens Eckstein
Mobiles Monitoring ist möglich Spätestens seit der offiziellen Empfehlung der kardiologischen Fachgesellschaften, Smartphone-Kameras zum Screening von Vorhofflimmern einzusetzen, sind mobile Sensoren aus dem Verbrauchermarkt mitten in der Medizin angekommen (1). Die dafür verwendeten Signale werden durch Photoplethysmografie (PPG) generiert. Dieses aus der pulsatilen Perfusion der Haut abgeleitete Videosignal lässt unter optimalen Bedingungen nicht nur Rückschlüsse auf die Regelmässigkeit des Pulses zu, sondern bietet auch die Basis zur Kalkulation von Herzfrequenz, Herzfrequenzvariabilität, Atemfrequenz und Blutdruck (2–4). Für diese Vitalparameter bestehen bereits zertifizierte Algorithmen, die ein kontinuierliches Monitoring mit mobilen Sensoren theoretisch ermöglichen. Die mobile Messung der Sauerstoffsättigung und der Körpertemperatur ist bereits länger medizinischer Standard. Durch den Einsatz von Heatflux-Sensoren erscheint nun auch eine kontinuierliche Messung der Körperkerntemperatur möglich und die Integration all dieser Parameter in ein medizinisches Armband technisch umsetzbar (5). In Kombination mit den bereits standardmässig integrierten Aktivitätsmessungen mittels Akzelerometer und Gyrometer ergibt sich daraus die Möglichkeit, die derzeitig üblichen Frequenzen der Vitalparameterbestimmung beinahe beliebig zu erhöhen. Gleichzeitig können durch die häufigeren Messungen die individuellen Normwerte erhalten und somit persönliche Trends als Hinweis auf Krankheitsverläufe frühzeitig erkannt werden.

Herausforderungen bei der Verwendung von PPG-Signalen Während sich die Herzfrequenz verhältnismässig leicht aus der Anzahl Pulswellen pro Minute errechnen lässt, benötigt man für die Bestimmung der Regelmässigkeit bereits eine höhere Signalqualität, um die Intervalle zwischen den einzelnen Wellen ausreichend genau bestimmen zu können. Sind diese komplett arrhythmisch, besteht mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Vorhofflimmern, das zum Beispiel durch ein mobil aufgezeichnetes 30-Sekunden-Elektrokardiogramm (EKG) verifiziert werden kann (1). Die subtilen, mit der Atmung korrelierenden Veränderungen dieser Intervalle werden als Herzfrequenzvariabilität (HRV) bezeichnet und sind besonders bei jungen gesunden Menschen sehr ausgeprägt. Dies bedeutet aber auch, dass die HRV bei älteren Menschen mit schweren Erkrankungen kaum mehr ausgeprägt ist (6). Da sie ein wesentlicher Bestandteil der meisten Algorithmen zur Kalkulation der Atemfrequenz ist, kommt es bei diesen Patienten häufiger zu falsch hohen oder falsch niedrigen Werten. Diese Unschärfe ist gerade bei einem so kritischen Parameter wie der Atemfrequenz im klinischen Gebrauch jedoch nicht akzeptabel. Interessanterweise korreliert aber eine Abnahme der HRV intraindividuell nicht nur mit somatischen, sondern auch mit einigen psychischen Erkrankungen wie Burnout und Depression, was eindrucksvoll demonstriert, weshalb diese Daten im Rahmen des Gesundheitswesens geschützt werden müssen und nicht unverschlüsselt und zuordenbar über Drittanbieter analysiert werden sollten (7). PPG-basierte Armbänder zur kontinuierlichen Blutdruckmessung sind kommerziell verfügbar (8). Die Messungen beschränken sich im Standardbetrieb auf mehrere Messungen pro Tag, und das Armband muss

5/2022

PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

33

FORTBILDUNG

regelmässig gegen eine oszillometrische Messung kalibriert werden. Das heisst, der Algorithmus referenziert auf zuvor konventionell gemessene Werte und erreicht damit die für die Zertifizierung geforderte Genauigkeit. Auch wenn der genaue Inhalt des Algorithmus nicht bekannt ist, erscheint es sehr wahrscheinlich, dass die Morphologie der Pulswelle und der Abstand zwischen den beiden Peaks der Welle eine entscheidende Rolle für die Kalkulation des absoluten Blutdrucks spielen. Korrekterweise gibt das Gerät nur Werte an, wenn Signalqualität und Dauer ausreichend sind. Daraus ergibt sich eine Limitation von PPG-Messungen: Für eine ausreichend gute Signalqualität ist es in der Regel notwendig, stillzuhalten und einen guten Kontakt zwischen Wearable und Haut zu haben. Diese Voraussetzungen für eine Messung gelten allerdings auch für die bisher im medizinischen Alltag verwendeten Blutdruckwerte. Sollte sich diese Technologie weiter etablieren und entwickeln, könnte sich eine neue, differenziertere Sicht auf den Blutdruck als physiologische Messgrösse ergeben. Bestrebungen, kontinuierliche Körperkerntemperaturmessungen mit Heatflux-Sensoren am Handgelenk durchzuführen, werden wegen der individuellen Perfusionsunterschiede eines jeden Einzelnen herausgefordert. Weitere Komplexität erfährt dieses Vorhaben aufgrund der Tatsache, dass der menschliche Körper in schweren Schock- oder Infektsituationen die Perfusion der Extremitäten drosselt, sodass diese kalt werden, obwohl der Körperkern eventuell eine erhöhte Körpertemperatur aufweist. Deshalb braucht es, besonders bei diesen schwerkranken Patienten, weitere simultan prozessierte Daten, um diese Situationen sicher erkennen zu können, oder es besteht diesbezüglich eine Limitation für die Anwendung. Beinahe zu trivial oder eben bereits als Standard akzeptiert sind Aktivitätsmessungen mittels Akzelerometer und Gyroskop. Die verfügbaren Algorithmen beeindrucken im Privatleben mit einer sehr differenzierten Erkennung verschiedener Tätigkeiten wie Gehen, Treppesteigen, Radfahren oder Joggen. Diese Aktivitäten wurden von einer sehr grossen Anzahl von Anwendern monitorisiert und durch individuelle Korrektur der Anwender bei Fehleinschätzungen immer weiter geschärft. Auch zahlreiche klinische Studien konnten wichtige Erkenntnisse aufgrund der so erhobenen Daten gewinnen. Komplexer wird es jedoch, neben den bekannten Problemen um Datenschutz und Datensicherheit, wenn die Probanden keine «normalen» Bewegungsmuster aufweisen, weil sie beispielsweise sehr kleine Schritte machen, wie zum Beispiel beim Parkinson-Syndrom oder bei Benützung eines Rollators (9). Zur korrekten Detektion dieser Aktivitäten braucht es eine Adaptation der vorhandenen Algorithmen anhand von Rohdaten dieser Patienten. Das heisst, die Algorithmen müssen meist erst noch lernen, wie sich Patienten mit chronischen Krankheiten (z. B. Huntington-Krankheit, Multiple Sklerose oder Herzinsuffizienz) bewegen. Im klinischen Bereich ist hinlänglich bekannt, dass es innerhalb dieser Patientengruppen sehr heterogen verteilte Bewegungseinschränkungen gibt. Darüber hinaus interessieren im medizinischen Bereich nicht nur Aktivitäten wie Radfahren oder Joggen, sondern auch subtile Bewegungen, die von bettlägerigen Patienten absolviert werden. Diese Informationen können zum Beispiel von

Physiotherapeuten als Trigger zur gezielten Mobilisation genutzt werden. Eine weitere Datenquelle ergibt sich durch die Geo-Lokalisation, die mit jedem Smartphone erhoben werden kann. Wenn diese Werte für Individuen zur Verfügung stehen, lässt sich erkennen, ob der Aktivitätsradius einer Person sich gegenüber den Ausgangswerten verringert, und dadurch auf eine mögliche psychische oder physische Zustandsverschlechterung schliessen. In Kombination mit HRV-Daten, bei denen eine Abnahme ebenfalls mit einer Verschlechterung bei bekannter Depression einhergeht, könnten auf diese Weise Rezidive dieser Patienten früh erkannt und die Therapie entsprechend angepasst werden (7).
Innovation und Co-Kreation Ein gängiges Problem für die Hersteller der beschriebenen Devices und Algorithmen ist der Zugang zu Daten erkrankter Menschen. Diese Messungen sind, je nach benötigtem Parameter, nicht ohne Weiteres möglich. Bereits bei der Fiebermessung ist es eine Herausforderung, ausserhalb des Gesundheitswesens deutlich erhöhteTemperaturen bei Personen unter standardisierten Bedingungen dokumentieren zu können. In der stationären Patientenversorgung bestehen streng standardisierte Abläufe, sodass dieses Umfeld für eine Validierung derartiger Sensoren gegen Goldstandard ideale Bedingungen bietet. Als Folge dieser Bedürfnisse entstehen in Institutionen des Gesundheitssystems immer mehr Forschungsgruppen und Infrastrukturen zur Validierung neuer Algorithmen und Devices. Durch diese Infrastrukturen werden im Optimalfall aktive Entwicklungspartnerschaften geschaffen, die durch Studien und Co-Kreation mit dem frühen Einbezug von Patienten zu klinisch anwendbaren Produkten führen. Ein wichtiges Augenmerk muss dabei nicht nur auf die üblichen Standards für klinische Studien gelegt werden, sondern auch auf die Verwendung von Infrastrukturen und Devices, die eine maximale Datensicherheit der Patienten gewährleisten. Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser gemeinsamen Entwicklungen betrifft die Praxistauglichkeit der Produkte. Hier gilt es einfach, Punkte wie den Komfort der Patienten und die vorhandenen Prozesse im Gesundheitswesen zu berücksichtigen. Auch wenn dies häufig sehr einfache Fragestellungen betrifft, kann eine spätere Einführung des Produkts scheitern, wenn diese nicht sorgfältig adressiert und entsprechend beantwortet wurden. Auf der Basis von gesammelten Erfahrungen und dem hohen Qualitätsanspruch in der Patientenversorgung wurde am Universitätsspital Basel 2017 in der Abteilung für Innovationsmanagement das Innovation-Lab gegründet. Hier werden erfolgreich neben den erwähnten Validierungsstudien für externe Partner interne innovative Projekte der Mitarbeiteren gefördert. So entstand in diesem Rahmen bereits ein Smart-SelfCheck-in-Terminal, das geeigneten Patienten neben einer selbst geführten administrativen Aufnahme eine fokussierte Anamnese und eine erste Vitalparametermessung ermöglichen wird. Diese Messung wird kontaktlos mittels einer integrierten Kamera erfolgen und wurde bereits erfolgreich für Herz- und Atemfrequenz getestet. Weitere Parameter sind Gegenstand von Forschung und Entwicklung. Es liegt auf der Hand, dass

34

PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

5/2022

FORTBILDUNG
Stationär

Zugang für Ärztinnen/Ärzte im Spital

Ambulant

Zugang für Ärztinnen/Ärzte in der Praxis

Abbildung: Konzept «Basler Band»: Patienten erhalten beim Spitalaufenthalt ein Armband, mit dem unter anderem alle relevanten Vitalparameter kontinuierlich aufgezeichnet werden. Nach Austritt kann dieses Monitoring bei Bedarf ambulant fortgesetzt werden, wobei ein Smartphone mit einer spezifischen sicheren App als Schnittstelle dient. Die so erhobenen Daten sind sowohl für die Ärzte im Spital als auch für die niedergelassenen Kollegen in Echtzeit einsehbar und werden mittels Algorithmen kontinuierlich analysiert, um kritische Veränderungen zu erkennen. Bei Eintreten solcher vordefinierten Veränderungen wird eine Nachricht ausgelöst, um die Patienten kontaktieren zu können. Diese Infrastruktur wird derzeit im Rahmen des SHIFT-Projekts am Universitätsspital Basel entwickelt und aufgebaut. (Grafik: ©J. Eckstein

diese Entwicklungen einen früheren Einbezug der Patienten zur Folge haben, der in naher Zukunft bereits ausserhalb des Spitals möglich sein wird. Der erwartete Mehrwert liegt neben einem höheren Komfort für die Patienten in der Möglichkeit einer sehr frühen Triagierung und damit, beispielsweise bei Verdacht auf Hirnschlag, bei einer gezielten Zuweisung an ein entsprechendes Zentrum. In einem anderen Innovationsprojekt wird eine durchgängige Infrastruktur für mobiles Monitoring mit den Patienten vor, während und nach einem Spitalaufenthalt entwickelt. Als praktisches, bereits angewendetes Beispiel ergibt sich hier das Screening nach Vorhofflimmern bei Hirnschlagpatienten. Mithilfe eines einfachen Armbands mit einem PPG-Sensor kann mit einer hohen Spezifität und guten Sensitivität das Vorhofflimmern detektiert und bei Bestätigung im EKG eine entsprechende Therapie zur Vermeidung weiterer Strokes eingeleitet werden. Neben der Entwicklung der entsprechenden Gebäudeinfrastruktur zum Abfragen der Daten wurde am Universitätsspital Basel das «Basler Band»-Konzept entwickelt, nach dem ein einfaches Armband für eine einwöchige Überwachung aller wichtiger Vitalparameter genügen soll. Diese Infrastruktur soll den niedergelassenen Kollegen ebenfalls zur Verfügung stehen und damit einen guten Transfer der Patienten vom Spital in das häusliche Umfeld unterstützen (Abbildung). Auch wenn es technisch umsetzbar erscheint, zeigt sich in der klinischen Prüfung und der Zusammenarbeit mit unseren Patienten immer wieder, dass noch einiges an Entwicklungsarbeit nötig ist, bis dieses Ziel erreicht ist.
Datenflut Bereits vor der Verwendung mobiler Sensoren stellte die sorgfältige Analyse der vorhandenen Patientendaten für Kliniker eine Herausforderung dar. Während in den sogenannten Fieberkurven durch Standardisierung der Darstellung von Vitalparametern und Medikation ein

hohe Informationsdichte erreicht werden konnte, kamen durch Bildgebungen, Laboruntersuchungen und Spezialistensysteme weitere Informationen hinzu, die von den Behandlungsteams integriert und interpretiert werden mussten. Aufgrund dieser bereits bestehenden hochgradigen Komplexität ergab sich gezwungenermassen der Anspruch an Entscheidungsunterstützungssysteme, die eine Visualisierung und bestenfalls intuitive Interpretation der zahlreichen Datenpunkte ermöglichen. Idealerweise folgen sie dabei der ärztlichen Logik und bieten dem Behandlungsteam Vorschläge für eine konklusive Interpretation an. Damit Fachpersonen diese Entscheidungsunterstützungsysteme verantwortungsvoll verwenden können, ist die Nachvollziehbarkeit der Empfehlung unabdingbar. Es muss erkennbar sein, weshalb ein Algorithmus oder eine künstliche Intelligenz zu der präsentierten Schlussfolgerung kommt. Dieser Anspruch an die Systeme wird mit dem viel diskutierten Thema «explainable AI» adressiert. Wenn dieses Mass der Transparenz erreicht ist, können solche Systeme in naher Zukunft sicher noch mehr, als bereits praktiziert, in medizinische Entscheidungen einbezogen werden. Die bei dieser Gelegenheit wiederholt gestellt Frage nach dem Ersatz von Ärzten durch künstliche Intelligenz erscheint jedoch nicht sinnvoll, da es sich nicht um autonom entscheidende Systeme, sondern um Unterstützungssyteme handelt, die mit einer guten Literaturrecherche oder dem Konsil eines Spezialisten vergleichbar sind. Eine wichtige Aufgabe dieser Systeme wird darin bestehen, das Behandlungsteam dabei zu unterstützen, den aktuellen Zustand von Patienten trotz der hohen Dichte an Informationen intuitiv zu erfassen. Dabei sollten die Möglichkeiten digitaler Medien so weit ausgeschöpft werden, dass die persönliche Informationsverarbeitung nicht nur über Text, Zahlen und Bilder geschieht, sondern beispielsweise auch Farben, Töne, taktile Reize und dreidimensionale Darstellung eingesetzt werden. Zwangsläufig muss bei der Entwicklung der-

5/2022

PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

35

FORTBILDUNG

Merkpunkte:
● Algorithmen, die mit Daten von gesunden Personen trainiert wurden, können bei Patienten mit krankheitsspezifischen Veränderungen versagen.
● Neben der technischen Komponente (Signalgewinnung) und der Analyse (Resultate) müssen die Informationen so aufbereitet werden, dass sie durch das Behandlungsteam möglichst intuitiv erfasst werden können.
● Aufgrund der sensiblen Informationen, die sich aus harmlos erscheinenden Signalen wie der Pulswelle extrahieren lassen, ist es unabdingbar, die im Gesundheitswesen üblichen Ansprüche an die Datensicherheit anzuwenden.
artiger Systeme auf das Risiko für Alert-Fatigue oder Over-Alerting geachtet werden (10).
Mehrwert durch Gleichzeitigkeit Klinisch tätige Ärzte integrieren multiple Informationen und generieren daraus eine Hypothese. Für diese Integration benötigen sie in aller Regel valide Messungen der Vitalparameter und eine detaillierte Anamnese, um die jeweiligen Symptome der Patienten erfahren und einordnen zu können. Bei dieser Integration kommt der Gleichzeitigkeit der Informationen eine grosse Bedeutung zu. So ist zum Beispiel ein rascher Anstieg der Herzfrequenz bei sportlicher Belastung plausibel. Wird er jedoch bei völliger Inaktivität und in Kombination mit Atemnot und einem Blutdruckabfall registriert, spricht das zum Beispiel für eine Lungenembolie. Mit den oben beschriebenen Sensoren besteht nun die Möglichkeit, diese Muster von Vitalparameterverläufen synchron und kontinuierlich zu erfassen und analog dem ärztlichen Denken der Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen zuzuordnen. Gerade im Kampf gegen COVID-19 zeigte sich, dass bei den Erkrankungsverläufen neben dem typischen Fieber und Krankheitsgefühl eine ungewöhnliche Senkung der Ruheherzfrequenz zu beobachten war (11). Um diese subtilen Veränderungen rechtzeitig detektieren zu können, braucht es idealerweise individuelle Vorwerte, die den jeweiligen «Normalzustand» der Person definieren. Möglicherweise ergibt sich durch diese wesentlich höhere Informationsdichte, die in vielen Fällen bereits die Informationen aus der Zeit vor Manifestation einer Erkrankung enthalten wird, ein ganz neuer Blickwinkel auf die Entstehung und die Diagnose von spezifischen Krankheiten. Gerade im Kontext der Neurologie könnten Abweichungen von der individuellen Norm erkannt werden und früh eine spezifischere Diagnostik auslösen. Dasselbe gilt für Erkrankungen im psychiatrischen und kardiovaskulären Bereich. Es ist zu erwarten, dass sich durch die gleichzeitige und longitudinale Aufzeichnung von Vitalparametern mehr Muster identifizieren lassen, die für einzelne Erkrankungen spezifisch sind.
Ethische Betrachtungen als Chance Neben offensichtlichen und aktuell aktiv adressierten Problemen der digitalen Medizin wie der Vertraulichkeit und der Kommerzialisierung von Daten stellen sich, wie bei jeder neuen Entwicklung, grundsätzliche gesellschaftliche Fragen wie die zukünftige Rolle von Ärzten und Patienten. Ergeben sich zum Beispiel durch die Verfügbarkeit medizinischen Wissens in Form von künstlicher Intelligenz für Laien eine stärkere Eigenver-

antwortung oder sogar eine Delegation von Diagnostik und Therapieentscheidung an die Patienten? Wäre das eine Entwicklung, die gesellschaftlich gewünscht ist, oder sollten diese Informationsquellen eher eine Grundlage für eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Ärzten und Patienten sein? Eine weitere ethische Herausforderung stellen die Regulierung und die Kontrolle der medizinischen Applikationen dar, die sicherstellen müssen, dass, analog den pharmazeutischen Substanzen, die Wirksamkeit gegeben sein muss, ohne dass die Risiken und Nebenwirkungen überwiegen. Im Gegensatz zu Pharmaka, die nach aufwendiger Entwicklung und Testung unverändert und streng kontrolliert produziert werden, werden Algorithmen, die auf künstlicher Intelligenz basieren, kontinuierlich verändert. Die damit verbundene aufwendige Kontrolle und Regulierung zum Erhalt der Qualitätsstandards ist jedoch unbedingt notwendig, um das grundlegende Vertrauen in das Gesundheitswesen zu erhalten. Ohne dieses Vertrauen ist eine supportive menschliche Medizin kaum denkbar. Deshalb ist in diesem Kontext auch explizit zu bedenken, welchen Schaden Patienten durch die eingesetzten Applikationen nehmen können. Beim Einsatz von Apps zum Screening von Vorhofflimmern konnte exemplarisch gezeigt werden, dass es einer guten Abwägung von Sensitivität und Spezifität bedarf, um eine Überlastung des Systems durch zu viele falsch positive Befunde zu verhindern, ohne auf eine akzeptable Sensitivität zu verzichten. Neben einer teilweise ungerechtfertigten Beanspruchung von Ressourcen ging es bei diesen teilweise nicht supervidierten Tests und Anwendungen auch darum, den Patienten psychischen Stress durch fälschlicherweise geäusserte Verdachtsdiagnosen zu ersparen.

Schlussfolgerung

Die Anwendung von mobilen Sensoren und Algorith-

men ist in einigen Bereichen der Medizin bereits in der

Routine angekommen, während sie in anderen Berei-

chen noch Gegenstand aktiver Forschungsvorhaben

sind. Vor dem Hintergrund der berechtigten Ansprüche

an Qualität, Sicherheit und Anwendbarkeit im Gesund-

heitswesen sind diese Entwicklungsarbeiten nötig und

gerechtfertigt. Neue Strukturen, die eine gemeinsame

Entwicklung dieser Technologien unterstützen, entste-

hen an der Schnittstelle zwischen Gesundheitswesen

und Industrie. Es ist zu erwarten, dass uns durch diese

zusätzlichen, gleichzeitig und kontinuierlich aufgezeich-

neten Daten neue Perspektiven hinsichtlich Entstehung

und Verlauf von Erkrankungen eröffnet werden. Diese

Informationen können dann entsprechend genutzt

werden, um Patienten früher und gezielter zu therapie-

ren und, wo immer möglich, zu heilen.

l

Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Dr. phil Jens Eckstein Klinik Innere Medizin & Department Digitalisierung und ICT
CMIO Office Universitätsspital Basel
Hebelstrasse 10 4031 Basel
E-Mail: jens.eckstein@usb.ch

36

PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

5/2022

FORTBILDUNG
Referenzen: 1. Hindricks G et al.: 2020 ESC Guidelines for the diagnosis and
management of atrial fibrillation developed in collaboration with the European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS): The Task Force for the diagnosis and management of atrial fibrillation of the European Society of Cardiology (ESC) Developed with the special contribution of the European Heart Rhythm Association (EHRA) of the ESC. Eur Heart J. 2021 Feb 1;42(5):373-498. doi: 10.1093/eurheartj/ehaa612. 2. Blok S et al.: The accuracy of heartbeat detection using photoplethysmography technology in cardiac patients. J Electrocardiol. 2021;67:148-157. doi: 10.1016/j. jelectrocard.2021.06.009. Epub 2021 Jul 2. PMID: 34256184. 3. Brophy E et al.: Estimation of continuous blood pressure from PPG via a federated learning approach. Sensors (Basel). 2021 Sep 21;21(18):6311. doi: 10.3390/s21186311. PMID: 34577518; PMCID: PMC8471262. 4. Haddad S et al.: PPG-based respiratory rate monitoring using hybrid vote-aggregate fusion technique. Annu Int Conf IEEE Eng Med Biol Soc. 2021;2021:1605-1608. doi: 10.1109/EMBC46164.2021.9630685. PMID: 34891592. 5. Mendt S et al.: Circadian rhythms in bed rest: Monitoring core body temperature via heat-flux approach is superior to skin surface temperature. Chronobiol Int. 2017;34(5):666-676. doi: 10.1080/07420528.2016.1224241. 6. Buchman TG et al.: Heart rate variability in critical illness and critical care. Curr Opin Crit Care. 2002;8(4):311-5. doi: 10.1097/00075198200208000-00007. 7. Sgoifo A et al.: Autonomic dysfunction and heart rate variability in depression. Stress. 2015;18(3):343-52. doi: 10.3109/10253890.2015.1045868 8. https://aktiia.com. Letzter Abruf. 23.8.22 9. Fazio P et al.: Gait measures with a triaxial accelerometer among patients with neurological impairment. Neurol Sci. 2013 Apr;34(4):435-40. doi: 10.1007/s10072-012-1017-x. 10. Ancker JS et al. with the HITEC Investigators.: Effects of workload, work complexity, and repeated alerts on alert fatigue in a clinical decision support system. BMC Med Inform Decis Mak. 2017 Apr 10;17(1):36. doi: 10.1186/s12911-017-0430-8. 11. Douedi S et al.: COVID-19 induced bradyarrhythmia and relative bradycardia: An overview. J Arrhythm. 2021 Jun 14;37(4):888-892. doi: 10.1002/joa3.12578.

5/2022

PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE

37