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Wie(so) Medizinstudenten lernen sollten, wie künstliche Intelligenz funktioniert
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Neurologie — Fortbildung
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61743
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FORTBILDUNG
Wie(so) Medizinstudenten lernen sollten, wie künstliche Intelligenz funktioniert
Zukünftige Ärztinnen und Ärzte müssen während ihres Studiums viele Fakten und Konzepte auswendig lernen sowie praktische Fähigkeiten erlangen. Wieso sollte man diesen vollen Stundenplan um Inhalte aus der Informatik ergänzen? Die Digitalisierung wird auch in der Medizin immer bedeutender. Sie verändert, was wir über Patienten erfahren, was sie über sich selbst erfahren und wie wir die Informationen interpretieren.

Foto: zVg

Pamela Reissenberger

von Pamela Reissenberger*
Dr. Google und die Anamneseerhebung der Zukunft «Grüezi! Was führt Sie heute zu mir?» «Guten Morgen, Frau Doktor. Ich habe zu 67% eine Lungenentzündung. Ich glaube, ich brauche Antibiotika.» So oder ähnlich könnten uns Patienten in nicht allzu weiter Zukunft begrüssen. Vorbei die Zeiten, in denen Ärzte alleinige Träger medizinischen Wissens waren. Das Internet mit Informationsplattformen seriöser und unseriöser Natur, die auch für Laien verständliche Informationen zu Krankheiten und deren Therapien verbreiten, haben bereits heute die Interaktion zwischen Ärzten und ihren Patienten verändert. Laut der Eurostat-ICT-Haushaltsumfrage der EU suchten im Jahr 2020 55% der 16- bis 74-Jährigen über das Internet nach Gesundheitsinformationen (1). Viele Patienten googeln ihre Symptome, bevor sie zum Arzt oder zur Ärztin gehen. Das zeigt die aktive Partizipation der Patienten an ihrer eigenen Gesundheit, doch kann die Fülle an Informationen mit teilweise widersprüchlichen Aussagen die Patienten auch überfordern. Für uns Ärzte bedeutet diese «Onlinekonkurrenz» eine andere Art der Patientenversorgung. Wir nehmen eine neue Rolle ein, weg von den Göttern in Weiss, hin zu einem Informationsmanager, häufig gezwungen, den Patienten eine Falschinformation von Dr. Google zu widerlegen. Es gibt viele verschiedene Bestrebungen, die Selbstrecherche der Patienten in geordnete Bahnen zu lenken, zum Beispiel Chat-Bots, wie sie von verschiedenen Krankenkassen angeboten werden (2). Diese nutzen spezifisch entwickelte Algorithmen, um von der Eingabe der Symptome und Patientendaten wie Alter, Geschlecht usw. auf verschiedene Differenzialdiagnosen zu schliessen. Idealerweise wird die entsprechende Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer jeweiligen Diagnose angegeben sowie die Empfehlung, sich ambulant beim
* Ehemalige Doktorandin in der Forschungsgruppe des Innovation Lab am Universitätsspital Basel, involviert in die Entwicklung des longitudinalen Curriculums zur Digitalisierung in der Medizin an der medizinischen Fakultät Universität Basel

Arzt oder in dringenderen Fällen auf dem Notfall vorzustellen. Aber was steckt hinter diesen Algorithmen? Verstehen wir Mediziner überhaupt, wie sie funktionieren?
Künstliche Intelligenz: Allheilmittel oder mit Vorsicht zu geniessen? Diese Algorithmen sind die Grundlage der unzähligen Apps auf Smartphones und Smartwatches, die uns über längere Zeiträume monitorisieren können, um uns anschliessend über potenziell vorliegende gesundheitliche Probleme zu informieren. Beispielsweise wenn die Smartwatch einen unregelmässigen Puls meldet und der Patient erst daraufhin medizinische Hilfe aufsucht (3). Die Prozesse hinter diesen Verfahren basieren meistens auf künstlicher Intelligenz (KI, engl. artificial iIntelligence [AI]). Die KI-basierten Systeme können über unterschiedlich kompliziert konzipierte, sogenannte neuronale Netzwerke automatisiert aus klinischen Datensätzen lernen und sind anschliessend in der Lage, ihnen unbekannte Daten richtig zu klassifizieren. Doch sind diese Algorithmen wirklich intelligent? Können wir ihre Schlussfolgerungen und Interpretationen nachvollziehen und ihnen vertrauen? Und wer trägt die Verantwortung dafür, wenn sie zu falschen Ergebnissen kommen? Grundsätzlich gilt: Da diese Algorithmen auf Daten basieren, können sie nur so gut sein wie die Daten, mit denen sie trainiert wurden. So kann es beispielsweise vorkommen, dass die entwickelten Algorithmen bei Populationen, von denen ihre Trainingsdaten stammen, gut funktionieren, aber bei unserem spezifischen Patienten versagen. Ein Beispiel dafür könnte eine automatisierte Erkennung von Hautkrebs über SmartphoneApplikationen sein. Bekannterweise wurden diese Anwendungen hauptsächlich mit Bildern von kaukasischer Haut trainiert (4). Falls wir diese Applikation auf Patienten mit dunkler Hautfarbe anwenden möchten, muss uns dieser mögliche Fallstrick bewusst sein.
Digitalisierung hält Einzug ins Medizinstudium Die Nutzung KI-basierter Algorithmen hat in gewissen Bereichen bereits Einzug in die Klinik gehalten. Doch mit den technischen Anforderungen und den ethischen

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FORTBILDUNG

Problemstellungen, die damit auftreten, sind junge Mediziner noch wenig vertraut, da sie bis jetzt nicht «standardisiert» in der Ausbildung thematisiert werden. An der Universität Basel gehen wir deswegen ab dem Herbstsemester 2022 einen neuen Weg. Wir wollen jungen Medizinstudenten die Nutzung und das Verständnis KI-basierter Algorithmen sowie andere Aspekte der Digitalisierung in der Medizin näherbringen. Zukünftige Ärzte müssen in der Lage sein, einerseits mit den gewachsenen Mengen von Gesundheitsdaten umzugehen, wie sie beispielsweise durch das private, kontinuierliche Monitoring der Bewegungs- und Pulsdaten durch Smartwatches entstehen. Andererseits sollten sie digitale Hilfsmittel, wie KI-gestützte Entscheidungsalgorithmen, kritisch überprüfen können, beispielsweise auf einen möglichen Bias (5). Das neue Curriculum wird über mehrere Semester verteilt (longitudinal) Kenntnisse zu digitalen Grundkompetenzen vermitteln. Diese Kompetenzen sollen einen informierten und selbstbewussten Umgang mit digitalen Gesundheitsinformationen ermöglichen. Als eine der ersten medizinischen Fakultäten im deutschsprachigen Raum nimmt die Universität Basel diese digitalen Grundkompetenzen in das Kerncurriculum auf und prüft alle Medizinstudenten der betroffenen Jahrgänge auf spezifische Lernziele. Es beginnt im ersten Jahr des Studiums mit Einführungsvorlesungen zur KI und der sich wandelnden ärztlichen Rolle im digitalen Zeitalter. Die Studenten können sich daraufhin selbstständig im E-Learning ein Basiswissen zur Funktionsweise der KI-gestützten Systeme, ihrer möglichen Fehleranfälligkeiten, zu Aspekten des sicheren und verantwortungsvollen Umgangs mit Daten und zu ethischen Fragestellungen bei der Verwendung von KI in der Medizin erarbeiten. Das E-Learning wurde in Kooperation mit dem KI-Campus zusammengestellt. Der KI-Campus ist eine Onlinelernplattform für Inhalte zur KI, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Deutschland gefördert wurde und verschiedene Experten im Bereich Digitalisierung in der Medizin einbezogen hat (6). Die Lernplattform wurde bereits von verschiedenen deutschen medizinischen Fakultäten, beispielsweise über Wahlpflichtmodule, in ihre Lehre integriert. Dieses Basiswissen soll es den Studenten in den späteren Semestern ermöglichen, Anwendungsbeispiele von digitalen Lösungen in spezifischen Fachrichtungen wie Endokrinologie, Dermatologie, Urologie, Gastroenterologie usw. richtig einzuordnen und zu beurteilen. Zum einen erklären Experten im Bereich der Informatik die Funktionsweise KI-gestützter Algorithmen und die technischen Anforderungen an deren Entwicklung in Präsenzvorlesungen oder im E-Learning. Zum anderen werden die spezifischen klinischen Anwendungsbeispiele durch die klinisch tätigen Ärzte vermittelt, welche diese effektiv benutzen oder mitentwickeln. Manch einer mag entgegenhalten, dass es vielleicht gar keinen Bedarf für solch eine strukturierte Vermittlung von Themen wie KI oder Datenkompetenz gebe, da junge Erwachsene heutzutage sowieso schon mit der Technik vertraut wären. Doch die «digital natives» der nächsten Ärztegeneration sind zwar mit Smartphones gross geworden, doch heisst das noch lange nicht, dass sie sich mit wichtigen

Merkpunkte:
● Algorithmen, die auf künstlicher Intelligenz (KI) basieren, haben über Apps auf Smartphones, Smartwatches oder über Chatbots bereits Einzug in die Patientenversorgung erhalten.
● KI-Systeme haben das Potenzial, die aktive Partizipation der Patienten zu fördern und Prozesse zu optimieren, aber es bestehen auch Fallstricke bei ihrer Anwendung, wie beispielsweise die Gefahr von Bias in den Trainingsdaten.
● Zukünftige Mediziner sollten über den verantwortungsvollen Umgang mit Gesundheitsdaten, die Funktionsweise KI-basierter Algorithmen und über ihre kritische Überprüfung unterrichtet werden, um die Systeme in sinnvoller Weise anwenden zu können.
● An der Universität Basel wurde ab dem Herbstsemester 2022 ein Curriculum zur Digitalisierung in der Medizin eingeführt, das ein Basiswissen zur KI, Datenkompetenz und zu weiteren Aspekten der Digitalisierung sowie klinische Anwendungsbeispiele vermitteln soll.

Konzepten wie Datenqualität, Interoperabilität, Anforderungen an Trainingsdaten für medizinisch verwendete Algorithmen und vor allem dem Datenschutz auskennen (7).

Fazit

Die Entwicklung digitaler Hilfssysteme für medizinische

Anwendungen kann komplex sein, viele Fallstricke müs-

sen beachtet werden. Mediziner haben das Recht, über

die Entwicklung von automatisierten Diagnosen kritisch

informiert und ausgebildet zu werden.

Darüber hinaus sollten wir es nicht verpassen, mögliche

Potenziale zum Nutzen der Patienten zu erkennen, wie

zum Beispiel einen einfachen Zugang zur Gesundheits-

versorgung, ein selbstständigeres Verwalten ihrer Ge-

sundheitsdaten und möglichst effiziente Prozesse.

Um mit dem Zitat von Dr. Keith Horvath, Senior Director

of Clinical Transformation der Association of American

Medical College, 2019, zu enden (8): «AI is not going to

replace physicians, but physicians who use AI are going

to replace physicians who don’t.» 

l

Korrespondenzadresse: Pamela Reissenberger Department Digitalisierung und ICT Universitätsspital Basel
Petersgraben 4 4031 Basel
E-Mail: p.reissenberger@gmx.ch

Referenzen: 1. 2020 survey on the use of ICT in households and by individuals by the Eurostat (statistical office of the Euopean
Union). https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-eurostat-news/-/edn-20210406-1. Letzter Zugriff: 14.10.22. 2. https://www.medinside.ch/post/neue-krankenversicherung-zuerstzur-app-statt-zum-arzt. Letzter Zugriff:
14.10.22. 3. Perez MV et al.: Large-scale assessment of a smartwatch to identify atrial fibrillation. N Engl J Med. 381:1909-1917.
https://doi.org/10.1056/NEJMoa1901183. 4. Guo LN et al.: Bias in, bias out: Underreporting and underrepresentation of diverse skin types in machine lear-
ning research for skin cancer detection-A scoping review. J Am Acad Dermatol. 2022;87(1):157-159. doi:10.1016/j. jaad.2021.06.884 5. Mosch L et al.: Lernangebote zu künstlicher Intelligenz in der Medizin. Zenodo, 9. September 2021. https://doi. org/10.5281/ZENODO.5497668. 6. KI Campus: Lernplattform für Künstliche Intelligenz. https://ki-campus.org. Letzter Zugriff: 14.10.22 7. Deutsch KL et al.: Das Märchen der Digital Natives: Kollaboratives Arbeiten als Methode zur Aneignung digitaler Kompetenzen. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung 11. November 2019;36:37-47. https://doi.org/10.21240/mpaed/36/2019.11.11.X. Letzter Zugriff: 14.10.22 8. https://nihrecord.nih.gov/2020/09/18/former-niher-horvath-explains-why-machines-wont-replace-doctors. NIH Record 18.09.2020, Former NIH’er Horvath explains why machines won’t replace doctors. Letzter Zugriff: 14.10.22.

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