Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie & Neurologie 04/2022
Für einen stigmafreien Umgang mit Substanzkonsumstörungen
Auf der Grundlage jahrzehntelanger Forschung stellen Konsumstörungen im Zusammenhang mit einer beziehungsweise mehreren psychotropen Substanzen wie alle Suchterkrankungen multifaktoriell bedingte, komplexe und häufig chronisch verlaufende Erkrankungen dar (1).
Frühinterventionen bei adoleszentem Substanzkonsum
Die Adoleszenz ist mit einer tief greifenden Neuorganisation des Gehirns und vielseitigen Entwicklungsaufgaben verbunden. Adoleszente zeichnen sich unter anderem durch ausgeprägte Neugier und Risikobereitschaft aus. Der Beginn des Konsums psychotroper Substanzen fällt meist in diese Phase, in der Konsumhäufigkeit und -menge oft auch ihren Gipfel erreichen. Der adoleszente Substanzkonsum ist mit vielen Risiken verbunden, und der junge Körper reagiert auf psychotrope Substanzen empfindlicher als der adulte. Bislang fehlen verbindliche Grenzen zur Trennung von altersgerechtem und problematischem Substanzkonsum. Generell gilt, je früher das Einstiegsalter, desto grösser das Risiko, dass der Substanzkonsum problematisch wird. Demnach kommt der Frühintervention bei auffälligem Substanzkonsum in der Adoleszenz eine grosse Bedeutung zu. Allgemein unterscheidet man im Frühinterventionsprozess 2 Phasen: die frühzeitige Identifizierung gefährdeter beziehungsweise bereits erkrankter Personen sowie die Planung und die Durchführung der adäquaten Interventionen. In diesem Beitrag werden die Grenzen zwischen Normalität und Gefährdung ausgelotet sowie Strategien und Hilfsmittel für die Durchführung von Früherkennung und Frühinterventionen in der Praxis vorgestellt.
Suizidprävention bei Suchterkrankungen
In der Schweiz sterben jeden Tag zwei bis drei Menschen infolge Suizid. Mehr als die Hälfte dieser Menschen haben kurz vor ihrem Tod Alkohol oder eine andere Substanz zu sich genommen, etwa ein Viertel hat im Lauf des Lebens aufgrund einer Suchterkrankung eine Behandlung erhalten. Es ist deshalb wichtig, dieser speziellen Risikogruppe mit besonderer Achtsamkeit zu begegnen, um die vorhandenen Risikofaktoren angemessen einschätzen zu können und suizidpräventive Interventionen bei Suchterkrankungen zu kennen und anzuwenden.
Behandlung der Alkoholabhängigkeit mit halluzinogenen Substanzen
Die Alkoholabhängigkeit ist eine häufige psychische Erkrankung mit erheblichen Auswirkungen auf die Betroffenen und deren Umfeld. Die aktuellen Behandlungsansätze sind wirksam, allerdings spricht ein erheblicher Teil der Patienten nur sehr unzureichend auf etablierte Therapien an. In den 1950er- und 1960er-Jahren wurden Halluzinogene, insbesondere LSD (Lysergsäurediethylamid), in der Behandlung von Patienten mit Alkoholabhängigkeit in zahlreichen Studien untersucht. Jedoch blieb bis zum Ende dieses Forschungszweigs in den 1960er-Jahren die Effektivität dieses Ansatzes aufgrund von methodischen Aspekten umstritten. Zurzeit werden mit dem verwandten Wirkstoff Psilocybin mehrere Studien durchgeführt, die viele der methodischen Mängel in den ersten Studien nicht aufweisen. Innerhalb der nächsten Jahre sollten diese Projekte wissenschaftlich fundiertere Informationen über das Potenzial von Halluzinogenen in der Behandlung der Alkoholabhängigkeit erbringen.
Suchtmedizin – Nasale Applikation von Opioiden in der Substitution
Pharmazeutisches Heroin (Diacetylmorphin) ist in der Schweiz für die intravenöse und perorale Anwendung zugelassen. Seit der Einführung der heroingestützten Behandlung (HeGeBe) hat sich die opioidabhängige Population hinsichtlich medizinischer, psychiatrischer und demografischer Merkmale stark verändert. Insbesondere verschlechterte Venenverhältnisse und die gehäuft auftretenden chronischen Erkrankungen in der alternden Population stellen für intravenöse Injektionen ein zunehmendes Risiko dar oder verunmöglichen diese gänzlich. Damit wurde eine Adaptierung des «rauschakzeptierenden» Therapieangebots erforderlich, das dem Wunsch nach einem euphorisch erlebbaren Substanzeffekt eine zentrale Rolle zukommen lässt. Besonders relevant ist das für jene Patienten, für die eine Behandlung mit injizierbarem Diacetylmorphin ein nicht vertretbares Risiko bedeuten würde, die zugleich aber in einer Behandlung mit Diacetylmorphin-Tabletten nicht zufriedenstellend erreicht werden können. Ebenso wünschen sich einige Patienten aus verschiedenen Überlegungen die Umstellung auf eine risikoärmere, komplikationsarme Behandlungsalternative. Derzeit wird in mehreren Behandlungszentren der Schweiz die nasale Applikation von Diacetylmorphin in einer mehrjährigen Beobachtungsstudie untersucht. Im Rahmen dieser Studie haben Patienten die Möglichkeit, Diacetylmorphin mit einem Zerstäuber in die Nase zu vernebeln, wo eine transmukosale Aufnahme der Substanz erfolgt. Die ersten Ergebnisse der Studie sind ermutigend und zeigen das Potenzial einer weiteren Diversifizierung in der HeGeBe klar auf.
Gibt es neue Verhaltenssüchte?
Menschen vertun ihre Zeit mit komischen Dingen – immer schon. Neu ist das nicht. Dauernd erfinden wir Dinge, die uns faszinieren, berauschen und gelegentlich süchtig machen. Aber was genau zeichnet süchtiges Verhalten aus? Aus Sicht der klinischen Perspektive gehen wir bereits angepasste Wege in der Suchttherapie und behandeln Formen des Kauf- und Sexualverhaltens neben Geldspiel und Gaming in spezialisierten Suchtzentren. Und was ist mit problematischen Formen von Fitness und Ausdauersportarten oder Binge Eating? Grundsätzlich sollten wir den Begriff Verhaltenssucht für exzessive Verhaltensweisen mit negativen Folgen sparsam verwenden, weil in der Fachwelt noch kein einheitliches theoretisches Konzept von «süchtigem Verhalten» existiert.
Faszinierende Entwicklung in der Migräneforschung
Migräne ist nicht nur eine der häufigsten primären Kopfschmerzerkrankungen, sondern auch eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen überhaupt (1). Bei jungen Menschen ist sie weltweit eine der führenden Ursachen gesundheitlich bedingter Einschränkungen, die mit erheblichen Einbussen bei der Lebensqualität der Betroffenen sowie bei der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in der Gesellschaft einhergehen können
Akuttherapie der Migräne
Im Bereich der Akutbehandlung der Migräne tut sich derzeit einiges. Neben den neuen Substanzen (Gepante und Ditane) wollen die nicht invasiven, neuromodulativen Verfahren den etablierten Triptanen und Analgetika den Platz streitig machen. Wenn wir den Patienten weitere Optionen zur Attackentherapie bieten können, kann das zu einer Verbesserung der Lebensqualität und zu einer Reduktion des Leidensdrucks beitragen.
CGRP-Antikörper in der Migräneprophylaxe – Ein Überblick über die Zulassungsstudien bis heute
Dieser Beitrag bietet eine Übersicht über die Zulassungsstudien der 4 monoklonalen Anti-CGRPAntikörpern für episodische und chronische Migräne, die untereinander aufgrund ihrer hohen Wirksamkeit und des günstigen Nebenwirkungsprofils weitgehend vergleichbar sind. Weiter diskutieren wir seither gewonnene Erkenntnisse aus Real-World-Daten zur längerfristigen Wirksamkeit, aber auch Sicherheits- und Nebenwirkungsprofile der verfügbaren Präparate. Abschliessend besprechen wir die in der Schweiz durch die Krankenkassen auferlegte obligatorische Therapiepause nach 12 Monaten, die dadurch restriktive Anwendung dieser hoch wirksamen Migräneprophylaktika mit den daraus resultierenden Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf.
Calcitonin-Gene-Related-Peptide-Signalweg bei Clusterkopfschmerzen – Fallbeispiel mit kurzer Zusammenfassung der aktuellen Studienlage
Clusterkopfschmerzen gehören als primäre Kopfschmerzen zu den sogenannten trigemino-autonomen Kopfschmerzerkrankungen (TAK). Neben streng einseitigen Kopfschmerzattacken von starker bis sehr starker Intensität und jeweils 15 bis 180 Minuten Dauer kommt es zu ipsilateraler autonomer Begleitsymptomatik und/oder zu körperlicher Unruhe bzw. Bewegungsdrang. Typischerweise ist der Leidensdruck der Patienten während der Clusterepisoden sehr hoch und kann selten bis zum Suizid führen. Das Neuropeptid Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) spielt in der noch unvollständig geklärten Pathophysiologie sowohl von Clusterkopfschmerzen als auch der Migräne eine wichtige Rolle. Während sich die neuen monoklonalen Antikörper gegen CGRP bzw. dessen Rezeptor in der Migräneprophylaxe als hoch wirksame Therapie etabliert haben, ist die Datenlage zur Wirksamkeit der CGRP-Antagonisten bei Clusterkopfschmerzen, trotz pathophysiologischer Gemeinsamkeiten, weniger klar, und keiner der verfügbaren monoklonalen Antikörper ist bei Clusterkopfschmerzen in Europa derzeit zugelassen. Anhand eines Fallbeispiels und der aktuellen Studienlage diskutieren wir einen etwaigen Stellenwert der CGRP-Antikörper in der Off-label-Prävention episodischer Clusterkopfschmerzen.
Das Visual-Snow-Syndrom
Das Visual-Snow-Syndrom ist eine erst seit wenigen Jahren bekannte Erkrankung. Namensgebend ist der Visual Snow, ein Rauschen, das meist das gesamte Gesichtsfeld betrifft und mit dem Flimmern eines alten Röhrenfernsehers verglichen werden kann. Mit dem Visual-Snow-Syndrom gehen weitere charakteristische visuelle Symptome einher. Migräne ist eine häufige Komorbidität, die möglicherweise zusätzlich eine Prädisposition zur Entwicklung eines Visual-Snow-Syndroms darstellt. Die Erkrankung führt oft zu einer grossen Einschränkung im Alltag, da die Beschwerden anhaltend sind und bis jetzt noch keine nachweislich wirksame Therapie zur Verfügung steht.
PD Dr. med. Athina Papadopoulou Oberärztin, Klinik für Neurologie, Forschungsgruppenleiterin, Departement Klinische Forschung, Universitätsspital Basel
PD Dr. med. Athina Papadopoulou sucht mit grosser Leidenschaft neue Marker und Therapiemöglichkeiten für Patienten mit neurologischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose (MS) und Migräne. Die gebürtige Griechin kam nach dem Medizinstudium durch einen grossen Zufall nach Basel und blieb.
Highlights vom EAN-Kongress 2022 – Neurologische Forschung und praktische Therapieempfehlungen
Der jährliche Kongress der European Academy of Neurology (EAN) fand in diesem Jahr in Wien und erstmals seit 2 Jahren wieder als Präsenzveranstaltung statt. Neben zahlreichen Abstract-Präsentationen aus der aktuellen Forschung war eines der Highlights der Veranstaltung der Ausblick auf die neue Version der von EAN und ECTRIMS gemeinsam gestalteten Leitlinie zum Management der Multiplen Sklerose.
Parkinson: Alpha-Synuclein-bindende Antikörper helfen nicht
Weitere Artikel:
– Metaanalyse: Bei akuter Depression ist eine Kombinationstherapie besser
– Nutzen der Physiotherapie bei Spannungskopfschmerzen
– Sobek-Forschungspreis für Arbeit aus Basel
– Soziale Isolation erhöht das Demenzrisiko
– Neue Therapieoption bei unkontrollierter fokaler Epilepsie
In diesem Heft
Psychiatrie
Editorial
Fortbildung
- Frühinterventionen bei adoleszentem Substanzkonsum
- Suizidprävention bei Suchterkrankungen
- Behandlung der Alkoholabhängigkeit mit halluzinogenen Substanzen
- Suchtmedizin - Nasale Applikation von Opioiden in der Substitution
- Gibt es neue Verhaltenssüchte?
Neurologie
Editorial
Fortbildung
- Akuttherapie der Migräne
- CGRP-Antikörper in der Migräneprophylaxe - Ein Überblick über die Zulassungsstudien bis heute
- Calcitonin-Gene-Related-Peptide-Signalweg bei Clusterkopfschmerzen - Fallbeispiel mit kurzer Zusammenfassung der aktuellen Studienlage
- Das Visual-Snow-Syndrom