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FORTBILDUNG
Traumasensible pädagogische Konzepte in der kinder- und jugendpsychiatrischen/ -psychotherapeutischen Milieutherapie
Christopher Kahmen
Immer mehr kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken beschäftigen sich mit traumapädagogischen Konzepten. Inhaltlich haben sich diese Konzepte aus der klassischen Milieutherapie und der psychoanalytischen Pädagogik entwickelt, auch methodisch gibt es keine grundlegenden anderen Zugänge. Eine Veränderung ist die Begründung für das pädagogische Vorgehen und die Beziehungsorientierung über die Psychotraumatologie, was als sehr innovativ gilt (1), die konsequente Anwendung der Haltung auf die Fachkräfte, zur Förderung der Selbstwirksamkeit und der emotionalen Stabilität. Gerade dieser Zugang über die Beziehungsorientierung sowie die emotionale Stabilität und die Selbstwirksamkeit der Fachkräfte scheinen viele Kliniken, auch im Rahmen der hohen Anforderungen an grosse transdisziplinäre Teams, anzusprechen. In Zeiten, in denen der Dokumentationsaufwand in der Milieutherapie kontinuierlich wächst und sich viele psychosoziale Fachkräfte in Kliniken und der Sozialpädagogik sehr belastet fühlen, scheint dieser Resilienzaspekt für die Mitarbeiter immer wichtiger zu werden, um Personalfluktuationen zu verhindern und ein attraktiver Arbeitergeber für milieutherapeutische Fachkräfte zu sein. Im folgenden Beitrag werden traumasensible pädagogische Konzepte kurz umschrieben und gute Gründe für eine solche Auseinandersetzung sowie Unterschiede in der Anwendung von traumapädagogischen Konzepten in Kliniken aufgeführt.
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Irène Koch Martin Schröder Marc Schmid
von Christopher Kahmen1, Irène Koch2, Martin Schröder1 und Marc Schmid
Traumapädagogik oder Trauma-InformedCare
U nter Traumapädagogik versteht man die konsequente Anwendung der Erkenntnisse der Psychotraumatologie auf lebensweltorientierte psychosoziale Hilfen in verschiedenen Handlungsfeldern (2). Im Zuge der historischen Entwicklung kam es zu einem Paradigmenwechsel von «What is wrong with you?» über «What happened to you?» zu «What’s strong with you – how did you manage all this?» und somit zu einer Fokussierung der Salutogenese anstelle der Pathogenese. Damit einher geht eine veränderte Fachpersonenrolle von «Ich muss dich heilen» zu «Ich muss dich verstehen». Die hierfür notwendige Beziehungsorientierung ist essenziell und zeigt die Relevanz der Bindungstheorie – auch in ihren vielfältigen (Selbst-)Reflektionsmöglichkeiten hinsichtlich (traumatischer) Übertragungen und Gegenübertragungen. Basierend auf der Psychotraumatologie können biologische (Langzeit-)
1 Klinik für Kinder und Jugendliche, Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel, 2 Universitätsspital Zürich
Auswirkungen von belastenden Kindheitserfahrungen oder traumatischen Ereignissen in der Biografie anerkannt werden, und zwar ohne Schuldzuweisungen sowie Beschämungen, sodass diese Aspekte enttabuisiert und somit transparent werden und besprochen werden können. Um dieses komplexe Zusammenspiel von Beziehungserfahrungen mit genetischen Variationen, die aus der früheren Umgebung und der biologischen differenziellen Empfindlichkeit gegenüber dem Kontext resultieren können, bedarf es biopsychosozialer Verstehensmodelle. Auf dieser Grundlage ist es möglich, ein Verständnis für ein Kontinuum zu entwickeln, das sowohl kritische Lebensereignisse und traumatisches Erleben in der Kindheit erkennen als auch Resilienz fördern kann. Des Weiteren ist aus einer transgenerationalen Perspektive ein systemischer Blick auf mindestens 2 Generationen bezüglich ihrer Stärken und Herausforderungen einzubeziehen. Hieraus ergibt sich, die jeweilige Bezugsperson in ihrer eigenen Emotionsregulierung und Resilienzförderung so gut wie möglich zu unterstützen und die Eltern- bzw. Familienarbeit konzeptionell weiterzuentwickeln und auszubauen. Auf der Grundlage der Trias (Klientel, Struktur und Mitarbeitende) des sicheren Ortes gelten diese Aspekte im gleichen Mass für die Mitarbeitenden, sodass diese sich
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Tabelle 1:
Beziehungsorientierte Haltung (5)
Traumatisierendes Umfeld
Förderliches traumapädagogisches Milieu
● Unberechenbarkeit
● Transparenz/Berechenbarkeit
● Einsamkeit/Isolation
● Beziehungsangebote
● nicht gesehen, nicht beachtet, nicht gehört werden
● beachtet werden/wichtig sein
● Geringschätzung
● Wertschätzung
(auch der individuellen Besonderheit)
● Missachtung von Bedürfnissen
● Bedürfnisorientierung
● Ausgeliefert sein – andere bestimmen absolut über mich ● Mitbestimmen können – Partizipation an
Entscheidungen
● Abwertung und Bestrafung
● Ermutigung und Lob
● keine adäquate Förderung – häufige Überforderungs- ● Individuelle, dem Entwicklungsstand
oder Unterforderungssituationen entsprechende Förderung
● furchtbares Leid
● Freude im Alltag
ebenfalls unterstützt, wertgeschätzt und sicher fühlen und sich in ihrer Resilienz (3) üben, um emotional stabilisiert in die Beziehung mit den (jungen) Menschen treten zu können.
Sicherer Ort, korrigierende Beziehungserfahrungen und Versorgungskette Die Entwicklung von typischen Traumafolgesymptomen stellt primär eine Anpassungsleistung an lang anhaltende oder sich wiederholende traumatische Ereignisse und an unvorstellbare, belastende Lebensbedingungen dar, die in der weiteren Lebensgeschichte zu chronifizierten Symptomen im Rahmen von Traumafolgestörungen geführt haben. Das Erleben eines «äusseren sicheren Ortes» und der dauerhafte Schutz vor erneuten belastenden Lebenserfahrungen sind unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass die Betroffenen ihre Symptome aufgeben und ein alternatives adaptives Verhalten erlernen können. Solange das Stresslevel jedoch hoch bleibt, können Betroffene kein neues alternatives Verhalten erlernen, weshalb die Vermittlung eines sicheren Ortes und das persönliche Erlangen eines mittleren Stresstoleranzniveaus die Basis für jede mittelfristige Verhaltensänderung sind. Aus ihrer Perspektive sind viele dieser Schutzmechanismen und das daraus resultierende Verhalten notwendig. Sie werden diese deshalb so lange beizubehalten versuchen, bis jegliche Zweifel bezüglich erneuter Traumata mit einer ausreichenden Sicherheit ausgeschlossen werden können. In der Traumapädagogik geht man von der Trias des sicheren Ortes aus (4–8), die 3 Aspekte beinhaltet und auf diese abzielt: die Sicherheit in Strukturen und Prozessen, die Sicherheit für die Kinder und Jugendlichen und deren Eltern und Bezugspersonen sowie die Sicherheit für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Werden diese 3 Aspekte ins Zentrum gestellt, kann ein sicherer Ort geschaffen werden, an dem sich die Beziehungen zwischen dem pädagogischen Team und den Kindern und Jugendlichen sicher entwickeln können. Um die Perspektiven des sicheren Ortes zu verdeutlichen, wird zwischen innerer und äusserer Sicherheit unterschieden (9). Äussere Sicherheit vermittelt Schutz und Sicherheit vor erneuten traumatischen Lebenserfahrungen sowie zur Orientierung und Vorhersehbarkeit
(Rituale, Krisenpläne, Regeln) und gut dokumentierte Prozesse, aber eben auch Aspekte der räumlichen Gestaltung und eine spezifische fürsorgliche und haltbietende Atmosphäre. Innere Sicherheit erwächst hingegen aus der psychischen Stabilisierung, der subjektiven Sicherheit im Umgang mit der eigenen Stress- und Emotionsregulation, aus funktionalen kognitiven Überzeugungen und Beziehungserwartungen, einem adaptiven Selbstbild und dem biografischen Selbstverstehen der erlebten traumatischen Ereignisse und der psychosozialen Belastungen. Ein unsicheres Team investiert aufgrund der fehlenden eigenen psychischen inneren Sicherheit viel Energie in den Aufbau von äusserer Sicherheit, zum Beispiel in umfangreiche Strukturen und Regelwerke in der Institution. Ein sicherer Ort kann aber nicht allein über Massnahmen implementiert werden, die ausschliesslich die äussere Sicherheit fördern. Es droht der Verlust von Geborgenheit und Beziehungsorientierung. Sichere Fachkräfte verfügen über ein fundiertes Wissen über Psychotraumatologie und die Auswirkungen von traumatischen Erlebnissen auf die Emotions- und Stressregulation und die Verhaltensweisen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Zudem sind sie in der Lage, in der Sprache die Beziehungsebene zu thematisieren und Regeln mit ihrer eigenen Person und der Beziehung zu begründen und müssen sich nicht hinter der Sanktionsmacht einer Institution verstecken. Je sicherer ein Ort ist, desto leichter wird es fallen, Unsicherheiten, Unzufriedenheit und Grenzverletzungen anzusprechen, was die Sicherheit wieder verstärkt und somit statt in einen Teufelskreis in einen förderlichen Kreislauf führen kann (Tabelle 1).
Besonderheiten in Kliniksettings Es bestehen wesentliche Unterschiede zwischen einer kinder- und jugendpsychiatrischen Station und einer traumapädagogischen Arbeit im Heimkontext, auch wenn oft dieselben Kinder und Jugendlichen zu verschiedenen Zeitpunkten an beiden Orten behandelt werden (Tabelle 2). Gerade deshalb kann sich eine transdisziplinäre Zusammenarbeit hinsichtlich gemeinsamer Haltungen und Verständnis für die Problematik auszahlen.
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Eine (teil-)stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung dient unter anderem sozialrechtlich der Krankenbehandlung. Für die Klinik ist klar, dass es sich um eine Ausnahmesituation in einem kurzzeitigen Übergangs- und Sondersetting handelt und nach erlangter hinreichender psychischer Stabilisierung ein möglichst rascher Übergang in ein ambulantes Setting angestrebt werden soll. Ausserdem sind kinder- und jugendpsychiatrische Stationen vermutlich der Ort, an dem die Transdisziplinarität zwischen Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychiatern, klinischen Psychologen, (Sozial-)Pädagogen, Pflegefachpersonen, Lehrpersonen oder anderem therapeutischem Personal am intensivsten gelebt werden kann, weil alle Professionen sehr eng am selben Ort zusammenarbeiten, sich als Team verstehen und sie die grosse transdisziplinäre fachliche Expertise behandlungs- und zielorientiert nutzen können. Diese enge Zusammenarbeit ist ein wesentliches Qualitätsmerkmal einer kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung (10). Gleichzeitig sind Klinikstrukturen mit Visiten darauf aufgerichtet, die Behandlung durch die fallführenden Ärzte und Psychologen zu optimieren und Assistenzärzte effektiv und effizient auszubilden. Die Besonderheiten der Traumapädagogik im Kliniksetting beinhaltet zahlreiche Faktoren (11). Kinder und Jugendliche sowie deren Familien weisen zum Zeitpunkt der Aufnahme akute Belastungen auf, sind meist Situationen mit starkem Druck ausgesetzt, zum Beispiel aufgrund eines drohenden Schulausschlusses, zunehmender sozialer Isolation, innerfamiliärer Belastungen oder häuslicher Gewalt. Kliniken können einen sicheren Ort auf Zeit bieten, der Aufenthalt ist auf wenige Monate klar begrenzt. Dem zugrunde liegen kinder- und jugendpsychiatrische Behandlungsaufträge, die sich nach klar definierten Vorgaben von Krankenkassen oder anderen Kostenträgern (z. B. Invalidenversicherung) richten. Der primäre Auftrag einer stationären kinderund jugendpsychiatrischen Behandlung liegt zunächst in der Beruhigung der aktuellen Situation und der psychischen Stabilisierung des Kindes oder des Jugendlichen. Zudem steht eine transdisziplinäre kinder- und jugendpsychiatrische Abklärung unter stationären Bedingungen im Vordergrund. Der sichere Ort mit seinen verschiedenen Aspekten und dem Einbezug von Schlüsselprozessen und Behandlungsphasen wird in Übergangssettings neu definiert: l das Ankommen, verbunden mit Schutz, Sicherheit
und Stressreduktion, kinder- und jugendpsychiatrischer Diagnostik und Psychoedukation l das Weiterkommen als Selbstverstehen der eigenen Bedürfnisse sowie deren Sinnhaftigkeit, die kinderund jugendpsychiatrische Behandlung sowie die intensive systemische Eltern- und Familienarbeit l das Weitergehen mit der Ausrichtung an den persönlichen Entwicklungsbedürfnissen (12). Die Kinder und Jugendlichen müssen darin unterstützt werden, ihren Platz in dieser Gruppe zu verstehen, damit sie von den unterschiedlichen Dynamiken nicht verunsichert werden und sich im Umgang mit Verhaltensweisen und Begegnungen mit den anderen sicher fühlen können (13). Eine Herausforderung sind in diesem Zusammenhang die meist sehr grossen Teams in Kliniksettings. Neben der grossen Anzahl an Fachkräften sind für
die Kinder und Jugendlichen die Funktionen der einzelnen Personen häufig nur schwer ersichtlich. Die Rolle der persönlichen Bindungsmuster und Gegenübertragungsgefühle der Fachkräfte im milieutherapeutischen Setting ist in der Gestaltung der korrigierenden Beziehungserfahrungen und der emotionalen Versorgung der Kinder und Jugendlichen von grosser Bedeutung (13). Emotionale Zustände sind handlungsleitende Erkenntnisse auf Ebene der jungen Menschen, ihrer Familien und der Mitarbeitenden. Das kinder- und jugendpsychiatrische Setting steht aufgrund des grossen Aufnahme- und Behandlungsdrucks vor besonderen Herausforderungen, die eine stress- und traumasensible sowie bedürfnis- und beziehungsorientierte Herangehensweise im Umgang mit akuten Krisensituationen und komplexen psychopathologischen Symptombildern von Kindern und Jugendlichen in den entsprechenden Behandlungsinterventionen erfordern, dies unter engem Einbezug der Familie und des erweiterten Systems. Die transdisziplinäre Einbindung der traumasensiblen Expertise des Milieutherapieteams in die psychiatrisch-psychotherapeutische und traumafokussierte Diagnostik und Behandlung sowie die gemeinsame Erarbeitung eines förderlichen Anschlusssettings stellen ein grosser Gewinn im Sinn einer «best practice» dar. Die Verwendung von traumasensiblen pädagogischen Interventionen zur Unterstützung hinsichtlich Stabilisierung und Beziehungsaufbau kann für Mitarbeiter und entsprechend für Kinder und Jugendliche sowie deren Familien von grosser Bedeutung sein. Modelle können sich beispielsweise im Rahmen von Supervisionen, Teamsitzungen, Visiten, Fallbesprechungen oder Bezugspersonenzeiten parallel zur Einzeltherapie zeigen. Eine standardisierte Dokumentation im klinischen Rahmen ist notwendig und gesetzlich vorgegeben, sie kann zudem Transparenz und Sicherheit für Kinder und Jugendliche, ihre Familien, Mitarbeiter und Institution schaffen. Der Umgang mit Zwang und freiheitsbeschränkenden Massnahmen im kinder- und jugendpsychiatrischen Setting steht zunächst sehr im Gegensatz zu traumapädagogischen Konzepten, die auf die Partizipationsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen setzen und deutlich machen, dass Kinder und Jugendliche ihrem Entwicklungsstand entsprechend bei jeder Entscheidung, die sie betrifft, zu beteiligen sind. Die Partizipation der Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Eltern ist jedoch auch während der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung unabdingbar, um eine gute Behandlungscompliance herstellen zu können. Die Partizipation ist erforderlich bei der psychiatrischen, psychotherapeutischen und pharmakologischen Behandlungsplanung, bei der Pflegeplanung der Milieutherapie, der weiteren Hilfeplanung im Anschluss an die (teil-)stationäre Behandlung, der Mitwirkung im Rahmen der Urteilsfähigkeit und der Erziehungsverantwortung bei der Entscheidung für oder gegen eine stationäre Behandlung sowie bei der Mitwirkung zur Entscheidung über die einzelnen Behandlungsschritte. Entscheidend ist, dass die Indikation und die Anwendung von Zwangsmassnahmen, die lediglich bei Vorliegen einer akuten Selbst- oder Fremdgefährdung erforderlich sind, bereits im Vorfeld einer psychiatrischen Behandlung antizipiert und der konkrete Ablauf Schritt für Schritt mit dem Patienten und den Eltern vor
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Tabelle 2:
Traumasensible Schlüsselprozesse in der Milieutherapie: Unterschiede zwischen Klinik und Heimkontext
Schlüsselprozesse
Klinik
Traumapädagogische Einrichtung
Besprechungen
● interdisziplinäre Visite
● Teamsitzungen
● wöchentliche Behandlungsplanungssitzungen
● Fallsupervisionen
● Intervisionen
● Standortgespräche mit den Eltern, der Herkunftsschule,
unterstützenden Fachpersonen
Ziel des Aufenthalts
● Krankenbehandlung
● Lebenswelt
● Behandlungsauftrag
Aufnahme
● Aufnahmeverpflichtung
● Orientierung am Einzelnen
● Orientierung an der Gruppe
Ankommen
● hoch strukturierter Behandlungsbeginn mit meist schon
● Ankommen, Kennenlernen,
festgelegten Verlaufs- und Austrittsdaten
Entschleunigung, Einrichten des
sicheren Ortes ohne zeitlichen Druck
Alltag
● hoch strukturiert, hohe Regulation
● am Lebensalltag orientiert
an Klinikvorgaben orientiert (z. B. Hygiene)
● bedürfnisorientiert (z. B. Integration
von tiergestützter Pädagogik)
Diagnostik
● standardisierte diagnostische Prozesse aller Fachbereiche führen zu
● eigene Einteilung zum besseren
einer leitenden Diagnose nach multiaxialem Klassifikationsschema
Selbstverständnis und zur
● ausführliche traumafokussierte Diagnostik sowie Anamneseerhebung
Sicherheit durch Plattformen
regelhaft erforderlich
oder Tools wie EQUALS
Kommunikation im Team ● Grösse, Hierarchie, Transdisziplinarität der Professionen wie
● übersichtliche, klare Zuordnung
Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychiater, klinische Psychologen, möglich, flache Hierarchie
Pflegefachpersonen, Sozialpädagogen, Lehrpersonen, Heilpädagogen,
Ergotherapeuten, Bewegungstherapeuten, Sozialarbeitende
Krisenprozedere
● Zwangsmassnahmen wie Fixierung, Medikation, Sitzwache, Isolation, ● gemeinsame Erarbeitung von
gemeinsame Erarbeitung nur bis zu einem gewissen Punkt möglich
Strukturen und Prozessen zur
Krisenbewältigung
● Gestaltung eines sicheren Ortes für
den jungen Menschen in der Krise
● gemeinsame Erarbeitung in
vollem Umfang möglich
Etablierung der Gruppe ● Ständig wechselnde Gruppenkonstellationen, Gruppendynamik nicht ● Stabilität in der Gruppe
vorhersehbar, zum Teil stark heterogene Gruppenzusammensetzung ● Vorhersehbarkeit
(Alter, Beeinträchtigungen, Symptomatik), psychisch instabile Patienten
Elternarbeit
● Intensiv, fordernd, auf die eigene Biografie bezogen, konfrontativ
● Einbezug nur wenn möglich
wirkend, Belastungserprobung
und gewünscht, fördernd,
● Familienanamnese über 3 Generationen
nicht konfrontativ
Abschied
● Empfehlung und nach Möglichkeit Aufgleisung mit
● Transparenter Übergang möglich,
entscheidungsbefugten Personen für weitere Massnahmen
● Klarheit, «Erprobung», langwierige
Vorbereitung
deren Anwendung ausführlich besprochen werden. Der Entscheidungsprozess und die Güterabwägung, die zum Einsatz von Zwangsmassnahmen führt, sollen nachvollzogen werden können. Dazu gehören Mittel wie zum Beispiel die Dokumentation der Zwangsmassnahme, die Nachbesprechung im Team, mit dem jungen Menschen und seinen Eltern, die Analyse der auslösenden Situation, die nachfolgende Erarbeitung und Optimierung von Stress- und Emotionsregulationsstrategien des Kindes oder Jugendlichen sowie Behandlungsprozesse, die eine erneute Zwangsmassnahme möglichst nicht mehr erforderlich machen (14). Zwangsmassnahmen sowie Handlungen zum Schutz
bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung können die Grenzen des persönlichen Erlebens von Wertschätzung überschreiten und zu einem intensiven und wiederholten Erleben von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Willkür führen (15). Das gilt sowohl für die Kinder und Jugendlichen als auch ihre Eltern und Familien sowie für die Mitarbeitenden in Kliniken. Neben der Klarheit in den Abläufen in entsprechenden Situationen bedingt dies trotz des grossen Zeitdrucks und sich schnell entwickelnder Massnahmen Nachbesprechungen, die sich an einer wertschätzenden Haltung dem jungen Menschen, seinen Eltern, den primären Bezugspersonen und den Mitarbeitenden gegenüber orientieren.
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Traumapädagogische Implementierungsprozesse in Kliniken Die Struktur und der Aufbau des traumapädagogischen Implementierungsprozesses in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik in Basel (UPKKJ) beruhen auf inhaltlichen Ideen der Arbeitsgruppe Traumapädagogik Basel. Sie basiert auf Inhalten von Zertifizierungskursen, Organisationsentwicklungsprozessen, wie beispielsweise in München (13), oder Implementierungsprozessen in Übergangssettings, wie zum Beispiel im Schlupfhuus in Zürich. Die langjährigen Erfahrungen in der Implementierung und Weiterentwicklung der traumasensiblen Milieutherapie in die kinder- und jugendpsychiatrische und insbesondere in die traumafokussierte Behandlung der Tagesklinik für Kinder und Jugendliche in Winterthur und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich waren in ihrer klinischen Bedeutung wegweisend und wurden in den aktuellen Implementierungsprozess in der UPKKJ massgeblich einbezogen. Die zeitliche Struktur oblag den personellen Möglichkeiten der Klinik und wurde so auf 1 Einführungstag,
Merkpunkte:
● Traumasensible Grundhaltungen und ein entsprechendes Verständnis von Interaktionsproblemen können im klinischen und milieutherapeutischen Setting eine grosse Unterstützung für Klientel, Mitarbeiter und Teams sein.
● Sichere Orte für Mitarbeitende und Patienten speisen sich aus Aspekten der inneren (Beziehung, Fachwissen, Erfahrung in ähnlichen Situationen) und äusseren Sicherheit (Krisen- und Sicherheitspläne, Prozesse).
● Die kluge traumasensible Ausgestaltung von Schlüsselprozessen kann zu einer zunehmenden Sensibilisierung auf den verschiedenen Ebenen führen, die den grundsätzlichen Auftrag der Klinik zur Verbesserung des gesundheitlichen Zustands des jungen Menschen unterstützen.
● Traumapädagogische Schlüsselprozesse können die Abläufe im Kliniksetting sehr unterstützen: Mit der Aufnahme und dem Ankommen kann neben dem zeitlichen Druck und der hohen Strukturierung auch im klinischen Prozess ein Höchstmass an Vorhersehbarkeit, Transparenz und Partizipation stattfinden.
● Neben der Stabilisierung und der Beruhigung können die Teilhabe und die Partizipation des jungen Menschen und seiner Eltern in der Behandlung und den Übergängen zu einer höheren Compliance führen. Entsprechend kann sich ein Abbau der Stigmatisierung durch Psychiatrie, aber auch eine grössere Chance für die Nachhaltigkeit und das Einverständnis für die weiteren Massnahmen entwickeln.
● Die Rolle des interdisziplinären Teams mit einer unterschiedlichen professionellen Sozialisation wird gestärkt, und die vielfältigen persönlichen Ressourcen von einzelnen Mitarbeitenden können im Kliniksetting in allen Prozessschritten gefördert werden, indem sie Verantwortung für Schlüsselprozesse übernehmen.
● Die Traumapädagogik unterstützt über entsprechende Kommunikationsstrukturen und biografische Narrative die interdisziplinäre Kooperation und achtet bei der Aufgleisung von Anschlusmassnahmen auf die Kontinuität in der Hilfeplanung.
● Im klinischen Setting kann mit Mut und Vertrauen in die Expertenschaft von den behandelten jungen Menschen und den Familien die Behandlungsplanung wesentlich partizipativer gestaltet werden, was die Teams mittelfristig entlastet und zu einer höheren Verbindlichkeit in der Therapieplanung führt.
6-mal 1,5 Tage sowie 1 Abschlusstag über einen Gesamtzeitraum von 16 Monaten angesetzt. Finanziert, unterstützt und getragen wurde das Projekt von der Klinikleitung, bestehend aus dem Chefarzt und der pädiatrischen Klinikleitung der UPKKJ. Inhaltliche Schwerpunkte bezogen sich neben den Grundlagen der Traumapädagogik auf den Ankommensprozess, das Modell der Übertragung und der Gegenübertragung, das Thema Gruppe(ndynamik), die transgenerationale Weitergabe von Traumata, Macht und Zwang sowie Übergänge und Abschied. Neben den inhaltlichen Schwerpunkten wurde der Fokus auf den Implementierungsprozess in der UPKKJ gelegt. In der Implementierungsphase standen bei den Teams zunächst klar abzubildende Prozesse oder Konzepte im Mittelpunkt. Der Ankommensprozess für alle Beteiligten wurde dabei im konzeptionellen Rahmen überarbeitet und angepasst, unter der Fokussierung auf die traumapädagogischen Grundhaltungen. Beispiele dafür waren ein Filmprojekt für die Kinderabteilung, bei dem 2 Comicfiguren die Räumlichkeiten der Abteilung besuchen und die jeweiligen Zimmer und Räume beschreiben, die Stimme erhalten die Kinder von Kindern nach deren Einverständnis. Im weiteren Verlauf der Module wurde stärker auf Haltungsfragen im Team fokussiert. Einerseits versuchten einzelne Abteilungen, Methoden und Tools wie die Cover-Story oder die Interaktionsanalyse in die praktische Arbeit einfliessen zu lassen, beispielsweise in Teamsitzungen oder Bezugspersonenzeiten; andererseits wurden zurückgemeldet, dass die Teilnehmer die Inhalte der verschiedenen Module als Grundhaltung in ihre tägliche Arbeit, in die verschiedenen Sitzungsgefässe, in Elterngespräche, in Bezugspersonenzeiten, Verlaufseinträge und sonstige Dokumentationen einfliessen liessen. Dabei zu beachten war ein möglichst transparenter Umgang mit allen verschiedenen Leitungsebenen der Stationen der Klinik sowie der Klinikleitung, den verschiedenen Fachbereichen und den unterschiedlichen Herausforderungen und speziellen Situationen auf den verschiedenen Abteilungen während der Weiterbildungsreihe. Diese situativen Herausforderungen widerspiegelten sich jeweils in den einzelnen Modulen und belegten noch einmal die Bedeutung der grossen Dynamik in klinischen Prozessen, denen sich traumasensible Implemtierungsprozesse anpassen sollten. So wurde die Informationsweitergabe von Inhalten der Weiterbildungsreihe in Teamsitzungen als grundlegend wichtig beschrieben; ebenso als notwendige Grundlage des Prozesses wurde von den Teilnehmern der dauerhafte Einbezug der traumasensiblen Grundhaltungen in den milieutherapeutischen und schulischen Alltag, in Sitzungen, in der Sprache sowie in Verlaufseinträge beschrieben.
Fazit Traumapädagogische Konzepte und Haltungen mit Fokus auf die emotionale Stabilität und die Selbstwirksamkeit der Fachkräfte können diese nachhaltig entlasten und dabei helfen, die Stressbelastung im Pflege- und Erziehungsdienst zu reduzieren (16). Gerade die Sicherheit und die Stabilität der Fachkräfte in der Interaktion mit hoch belasteten Patienten und Patientinnen sind die Voraussetzungen dafür, diesen äusserst belasteten
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Kindern und Jugendlichen im Alltag förderliche und
korrigierende Beziehungserfahrungen zu vermitteln
undsie in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe zu stärken.
Die grössere Beachtung der Belastung und der unge-
heuren Leistung, die milieutherapeutische Teams im
Stationsalltag
erbringen, wertet diese Berufsfelder in der Bedeutung
für eine erfolgreiche stationäre Behandlung auf und
sensibilisiert für bessere und attraktivere Arbeitsbedin-
gungen in Zeiten des Fachkräftemangels. Diese Ent-
wicklungen tragen hoffentlich dazu bei, dass diese
milieuorientierte Beziehungsarbeit mit den einzelnen
Patienten und Patientinnen von den Kostenträgern wei-
terhin adäquat honoriert wird.
l
Korrespondenzadresse: Mag.-Phil. Christopher Kahmen Abteilungsleitung Kinderpsychiatrische Abteilung Basel Arbeitsgruppe Traumapädagogik Klinik für Kinder und Jugendliche Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel
Wilhelm-Klein-Strasse 27 4002 Basel
E-Mail: christopher.kahmen@upk.ch
Referenzen: 1. Schmid M et al.: Was ist das Innovative und Neue an einer
Traumapädagogik. In: Schmid M, Rensch M, Tetzer M, SchlüterMüller S (Hrsg). Handbuch der psychiatriebezogenen SozialPädagogik. Vandenhoeck & Rupprecht, 2012. Göttingen S. 337-351. 2. Schmid M: Psychotherapie von Traumafolgestörungen im Kontext der stationären Jugendhilfe. In: Landolt MA, Hensel T (Eds.), Traumatherapie bei Kindern und Jugendlichen (2 ed., pp. 404-440). Göttingen: Hogrefe 2012. 3. Forkey et al.: Trauma-informed care. Pediatrics. 2021;148(2):e2021052580. doi: 10.1542/peds.2021-052580. PMID: 34312292. 4. Kühn M: Bausteine einer Pädagogik des Sicheren Ortes – Aspekte eines pädagogischen Umgangs mit (traumatisierten) Kindern in der Jugendhilfe aus der Praxis des SOS-Kinderdorfes Worpswede. Vortrag bei der Tagung «(Akut) traumatisierte Kinder und Jugendliche in Pädagogik und Jugendhilfe», 17./18.02.2006 in Merseburg. http://www.jugendsozialarbeit.de/media/raw/martin_ kuehn.pdf. Letzter Abruf: 25.5.22
5. Kühn M: Wieso brauchen wir eine Traumapädagogik? Trauma & Gewalt. 2008.2(4),318-327.
6. Kühn M:Traumapädagogik und Partizipation. Zur entwicklungslogischen, fördernden und heilenden Wirksamkeit von Beteiligung in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Bausum J, Besser L, Kühn M & Weiß W (Hrsg.), Traumapädagogik. Grundlagen, Arbeitsfelder und Methoden für die pädagogische Praxis (S. 127136). Weinheim: Juventa. 2009.
7. Lang B et al.: Das traumapädagogische Konzept der Wohngruppe «Greccio» in der Umsetzung. Trauma & Gewalt 2009;3(2):106-115.
8. Schmid M et al.: Was ist das Innovative und Neue an einer Traumapädagogik? In M. Schmid, M. Tetzer, K. Rensch, & S. SchlüterMüller (Eds.), Handbuch Psychiatriebezogene Sozialpädagogik (pp. 337-351). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 2012.
9. Schmid M: Eine Traumapädagogik braucht es, weil ... – Die Projektidee und Überlegungen zur konkreten Umsetzung des Projekts. In: Evangelischer Erziehungsbund (Ed.), EREV-Schriftenreihe: Traumapädagogik und ihre Bedeutung für pädagogische Einrichtungen. Ein Projekt des Universitätsklinikums Ulm mit dem CJD e. V. (Vol. 6, pp. 13-37). Hannover: Schöneworth Verlag. 2014.
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