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FORTBILDUNG
Interventionen bei Traumafolgestörungen
Foto: zVg
Andreas Linde
Bei der evidenzbasierten Behandlung von Traumafolgestörungen, insbesondere der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), sind traumafokussierte Psychotherapieverfahren die Therapie der ersten Wahl. Sie gehören zu den wirksamsten Psychotherapieverfahren überhaupt. Im Zuge der Einführung neuer Diagnosekategorien für komplexe Traumafolgestörungen wurden phasenbasierte Psychotherapieverfahren entwickelt und auf ihre Wirksamkeit untersucht, die neben traumafokussierten Behandlungselementen auch nicht traumafokussierte Komponenten beinhalten. Letztere dienen vor allem dazu, durch Ressourcenförderung, Abbau dysfunktionaler Interaktionsweisen und Verbesserung der Emotionsregulation eine traumafokussierte Aufarbeitung zu ermöglichen. Eine sorgfältige Behandlungsplanung ist wichtig. Hierzu gehört eine umfassende Diagnostik und Aufklärung. Mit der Behandlung sollte erst begonnen werden, wenn die nötigen Voraussetzungen, wie beispielsweise eine sichere Umgebung, kein Täterkontakt und eine stimmige therapeutische Beziehung, gegeben sind. Bei Menschen mit Migrationshintergrund ist ein kultursensibles Vorgehen zu empfehlen. Pharmakotherapeutische Interventionen können bei einzelnen Symptomen unterstützend wirken. Die in klinischen Studien nachgewiesene Wirksamkeit einiger Antidepressiva zeigt jedoch geringe Effekte. Eine alleinige Pharmakotherapie sollte nur dann erwogen werden, wenn eine traumafokussierte Psychotherapie nicht durchführbar ist beziehungsweise von der Patientin abgelehnt wird. Sie ist nicht Therapie der ersten Wahl. Zur Behandlung der PTBS liegen ausführliche Behandlungsleitlinien mit hohem Evidenzgrad vor.
von Andreas Linde
Einleitung
D ie posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist die prototypische, aber nicht die einzige psychische Traumafolgestörung. Während knapp 2 Drittel der Bevölkerung einmal im Leben ein traumatisches Erlebnis (z. B. schwerer Unfall, Naturkatastrophe, Gewalterlebnis, Vergewaltigung, Kriegserlebnis, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung in der Kindheit, lebensbedrohliche Erkrankung) erleiden, hat die PTBS eine Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung in Mitteleuropa von etwa 1 bis 3% Monats- und 1-Jahres-Prävalenzen (1, 2). Bei repetitiven und vor allem interpersonellen Traumata kommt die Störung wesentlich häufiger vor (2–7). Im Übrigen tritt sie nur selten als einzige Störung auf. Komorbidität ist die Regel (1, 3). Etwa in 2 Drittel der Fälle kommt es innerhalb von 2 Jahren zu einer namhaften Besserung bzw. Remission, bei 1 Drittel verläuft sie chronisch (3). In den letzten 3 Jahrzehnten fand eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung im Hinblick auf Entstehung, Diagnostik und Behandlung derartiger Störungsbilder statt. Zunehmend wurden auch die Bedeutung und die Komplexität der Folgen psychischer Traumatisierung sowie deren Folgen für die mentale und die körperliche Gesundheit und deren Auswirkungen auf die soziale Teilhabe und die Alltags-
funktionalität untersucht. Die bisherige Operationalisierung der PTBS in ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) und DSM-4 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) ist überholt. Dies führte zur Erweiterung und Neufassung der Diagnosekategorien in DSM-5 und ICD-11. Während man im DSM-5 die bisherige Kategorie der PTBS um weitere Unterkategorien erweiterte und das Traumakriterium neu formulierte, wurde in der ICD11 im Kapitel «belastungsabhängige Störungen» neu die Diagnosekategorie der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (kPTBS) eingeführt (8). Mittlerweile wurden verschiedene wirksame Therapien entwickelt, die es erlauben, in komplexen Fällen oder unter schwierigen Bedingungen therapeutische Fortschritte zu erzielen. Im Kasten 1 sind die therapeutischen Interventionen bei der PTBS und der kPTBS im Überblick dargestellt.
Voraussetzungen und Vorgehen bei der Behandlung Will man eine Traumfolgestörung effektiv behandeln, sollte, wenn irgend möglich, eine traumafokussierte Psychotherapie durchgeführt werden (3), bei der die Zusammenhänge zwischen erlebten Traumata und aktueller Symptomatik aufgearbeitet werden. Es wird ein modifiziertes Phasenmodell der Traumatherapie empfohlen:
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Kasten 1:
Therapeutische Interventionen bei PTBS
Traumakriterium der PTBS nach ICD-11 (6B40): Die Betroffenen sind einem extrem bedrohlichen oder katastrophalen Ereignis oder einer Serie von Ereignissen ausgesetzt.
Traumakriterium der komplexen PTBS nach ICD-11 (6B41): Typischerweise länger anhaltende traumatische Erlebnisse, die aus mehreren oder sich wiederholenden traumatischen Ereignissen bestehen. In der Regel sind das Ereignisse, aus denen ein Entkommen schwierig oder gar unmöglich ist, wie z. B. Folter, Sklaverei, Genozid, fortgesetzte häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder physischer Missbrauch in der Kindheit.
Kernsymptome der PTBS nach ICD-11 (6B40): 1. Wiedererleben des traumatischen Ereignisses/der Ereignisse in der Form von
lebhaften intrusiven Erinnerungen, von Flashbacks oder Albträumen, begleitet von starken und überwältigenden Gefühlen wie Angst oder Horror sowie starken physischen Empfindungen oder Gefühlen der Überwältigung oder einem Erleben der gleichen intensiven Gefühle, die während des traumatischen Ereignisses erlebt wurden. 2. Vermeidung von Gedanken und Erinnerungen an das Ereignis oder die Ereignisse oder von Aktivitäten, Situationen oder Personen, die an das traumatische Ereignis erinnern. 3. Anhaltende Wahrnehmung einer erhöhten gegenwärtigen Bedrohung, z. B. durch Hypervigilanz, oder eine verstärkte Schreckreaktion auf Reize wie unerwarteten Lärm. 4. Die Symptomatik muss mindestens über mehrere Wochen anhalten und bedeutsame Beeinträchtigungen in wichtigen Lebensbereichen verursachen.
Akzessorische Symptome der komplexen PTBS nach ICD-11 (6B41): 1.–3. Kernsymptome der PTBS können vorhanden sein oder sind aus dem Verlauf
bekannt. 4. Traumagetriggerte Funktionsstörungen der Emotionsregulation, 5. des Selbstbilds (selbst herabsetzend) und 6. der sozialen Interaktionsfähigkeit (v. a. erhöhtes Misstrauen, Schwierigkeiten,
sich auf Beziehungen einzulassen).
l Diagnostik und Aufklärung (Psychoedukation) sowie Schaffung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung
l Verbesserung der affektiven Regulationsfähigkeit und Ressourcenarbeit
l traumafokussierte Exposition l Integration der neuen Erfahrungen und Veränderun-
gen.
Bevor man eine solche Therapie einer Patientin zugänglich macht, sind Voraussetzungen zu erfüllen. Dazu gehören eine sichere Umgebung und eine stabile therapeutische Beziehung, bei der die Therapeutin klar signalisieren sollte, dass sie gewillt ist, der Patientin zuzuhören, auch wenn sie über schreckliche Erlebnisse berichtet. Die Therapeutin soll zudem die Rückmeldung geben, dass sie das Erzählte ernst nimmt, nicht wertet und die Bereitschaft der Patientin, sich zu öffnen, würdigt und ihr ein Gefühl von Vertrauen und Sicherheit bietet. Eine distanziert neutrale Haltung der Therapeutin im Kontakt mit der Patientin ist daher wenig geeignet.
Fischer und Riedesser (9) formulierten den Begriff der parteiischen Abstinenz als geeignete therapeutische Haltung. Parteiisch heisst, aufseiten des Patienten zu sein, ihm Sicherheit und Unterstützung bieten. Abstinent bedeutet, die Sache des Patienten nicht zur eigenen zu machen oder mit eigenen offenen Fragen zu vermischen. Patienten mit Traumafolgestörungen haben meist Schwierigkeiten, sich anderen zu öffnen, und haben oft den Eindruck, dass sie ihre Geschichte anderen nicht erzählen können, weil diese ihnen nicht glauben würden oder weil sie diese Geschichte niemandem zumuten können. Ausserdem nehmen sie an, dass das Erlebte so weit von der «normalen» Realität anderer entfernt ist, dass ein Zuhörer das gar nicht verstehen würde. Umso wichtiger ist es, die Patienten in der Therapie zum Erzählen zu ermutigen. Am Anfang muss es nicht detailliert sein, da das zu einem intensiven, unkontrollierten Wiedererleben, im Speziellen zu einem Flashback, führen kann. Ein Überblick ist ausreichend. Eine detaillierte Erzählung vom Patienten zu fordern, kann in dieser Phase unnötig belasten und wäre eher der Phase der traumafokussierten Psychotherapie vorbehalten, bei der das unter begleiteten und kontrollierten Bedingungen stattfindet. Aber die Annahme, dass es schädlich sei, wenn ein Patient von einem Trauma berichtet, ist falsch und unterstützt nur störungsimmanentes Vermeidungsverhalten. Flashbacks und Übererregbarkeit sind im Alltag sowieso oft vorhanden und werden nicht erst primär durch das Erzählen über ein Trauma in der Therapie ausgelöst. Ganz im Gegenteil: Die Erfahrung, dass es doch jemanden gibt, der zuhört und Unterstützung anbietet, schafft ein Gefühl von Vertrauen und Ermutigung bei Patienten, um ihre belastete Lebensgeschichte endlich anzugehen. Oft ist die Annahme «bloss nicht darüber reden» eines Therapeuten oder einer medizinischen Fachperson nur Ausdruck der eigenen Unsicherheit und der mangelndenSachkenntnis. Neben einer adäquaten Gestaltung der therapeutischen Beziehung sind noch andere Aspekte bei der Planung und der Durchführung einer traumafokussierten Psychotherapie zu berücksichtigen. So bedarf es einer möglichst stabilen sozialen und sonstigen gesundheitlichen Situation. Jedoch sind die Voraussetzungen für eine solche Therapie nicht immer gegeben. Insbesondere bei: l unsicherem sozialem Status l bestehendem Täterkontakt l komplexen Störungsbildern l erheblicher Komorbidität l florider Suchterkrankung l akuter Suizidalität l geringer persönlicher Ressource. In diesen Fällen sind zunächst andere Interventionen sozialer, systemischer, psychotherapeutischer oder pharmakotherapeutischer Art notwendig. Auch sehr ausgeprägte dissoziative Symptome bedürfen zunächst vorbereitender therapeutischer Massnahmen. Weitere Voraussetzungen für eine traumafokussierte Therapie sind einerseits eine gründliche kategoriale und prozedurale Diagnostik und andererseits eine fundierte Aufklärung in Form von Psychoedukation, die unter anderem die Elemente «Normalisierung» und «Legitimation» (3) enthalten sollte.
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Diagnostik Die Tatsache, dass es gerade nach häufigen und vor allem nach interpersonellen Traumata mehr und schwerere psychische Traumafolgestörungen gibt, hat zur Neufassung bestehender Diagnosen und zur Einführung neuer Diagnosekategorien in der ICD-11 geführt (8). Hervorzuheben ist hier insbesondere die kPTBS (ICD-11 6B41) neben der bisherigen, in der ICD-11 konziser gefassten, nicht kPTBS (ICD-11 6B40). Im DSM-5 ist man einen anderen Weg gegangen. Man hat die bisherige Diagnosekategorie präzisiert und um zusätzliche diagnostische Kriterien erweitert. Das ist insofern wichtig, da die bisherigen Fragebögen und klinischen Interviews auf den Diagnosekriterien des DSM-5 basieren. Mittlerweile gibt es aber auch Fragebögen (10) und Interviews für die neuen Diagnosen in der ICD-11 (11, 12). Besonders bedeutsam in der Diagnostik von Traumafolgestörungen ist, dass keine Behandlung ohne Diagnostik durchgeführt werden sollte. Bei komplexen Traumafolgestörungen ist eine ausführliche Diagnostik notwendig, um die Frage zu beantworten, was vorrangig zu behandeln ist. Die Diagnostik ist auch kein einmaliger Vorgang vor der Therapie. Vielmehr stellen sich im Verlauf einer Therapie immer wieder neue diagnostische Fragen, die es abzuklären gilt. Zentrale Elemente in der Diagnostik einer PTBS sind die Erfassung der traumatischen Ereignisse (Anzahl, Art des Traumas, Zeitpunkte usw.) sowie die damit im Zusammenhang stehenden Folgen in symptomatischer und in funktionaler Hinsicht. Für die Diagnosestellung nach ICD-10 sind die dort definierten Kriterien und für die funktionale Gesundheit das System der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) relevant (psychische Aspekte: Mini ICFAPP (13). Dabei sollte die spezifische Diagnosestellung der PTBS in eine Gesamtdiagnostik eingebettet sein, welche die Aus- und Nachwirkungen auf die aktuelle Lebenssituation, komorbide Symptome sowie eine allfällige Chronifizierung erfasst. Ebenfalls sollten protektive Faktoren und Ressourcen sowie der prätraumatische Status erfragt werden. Neben der klinischen Diagnose sollten sowohl die daraus resultierenden Beeinträchtigungen der Aktivität und der Teilhabe als auch die allgemeinen (Familien-, Wohnund Arbeitssituation, regionale medizinische/psychotherapeutische Versorgung, gesundheitlicher Status) und spezifischen Kontextfaktoren erhoben werden. Hierzu gehören zum Beispiel Täterkontakte, dependente Gewaltbeziehungen sowie der Rechts- und Aufenthaltsstatus bei Flüchtlingen (7, 14). Die Diagnostik beginnt meist mit der Erhebung der Spontansymptomatik und anamnestischer Erhebung der Traumavorgeschichte (Kasten 2). Bei den diagnostischen Instrumenten wird zwischen Screening- und Diagnoseinstrumenten unterschieden. Letztere liegen meist als strukturierte klinische Interviews vor, die systematisch die Symptomatik des Krankheitsbilds abfragen. Besteht Bedarf für eine genauere Abklärung zur Diagnosesicherung, empfiehlt sich die Durchführung eines solchen strukturierten diagnostischen Interviews (15–17). Die Vorteile eines strukturierten klinischen Interviews liegen in einer höheren Beurteiler-Übereinstimmung und in einer zuverlässigeren Diagnosestellung (18). Für den zuverlässigen Einsatz
von Interviews sollte ausreichend klinische Erfahrung mit Traumafolgestörungen vorliegen, und die Interviews sollten geschulte Untersucher durchführen. Zur Vervollständigung der Basisdiagnostik sollte eine mögliche vorliegende Komorbidität explizit berücksichtigt und (mit geeigneten Instrumenten, z. B. SCID-5-CV, Fragebögen zu Depression und anderen Störungen) erfasst werden. Zur Verlaufskontrolle und zur Ermittlung der Symptomintensität wird die Durchführung von Fragebogentests empfohlen (3). Bei der Traumaanamnese (Indextrauma und Erhebung allfälliger früherer traumatischer Erfahrungen) ist es in der Diagnostikphase der Behandlung anfangs nicht notwendig, alle Details der traumatischen Erfahrung zu explorieren, sondern ausreichend, eine kurze Beschreibung des Erlebten zu erheben. Ein Beharren auf detaillierten Beschreibungen während der ersten Interaktionsphase kann sich potenziell negativ auf die Therapie- und die Beziehungsgestaltung auswirken (19). In der Therapie sollten sowohl zur Behandlungsplanung als auch im weiteren Therapieverlauf quantitativ auswertbare Fragebögen (als Selbstberichte) eingesetzt werden, um den therapeutischen Fortschritt zu dokumentieren und um das therapeutische Vorgehen ggf. anzupassen. Im Gegensatz zu klinischen Interviews sind Selbstbeurteilungsfragebögen schneller durchführbar, da sie vom Patienten selbst ausgefüllt werden. Sie können wichtige Informationen über das gesamte Symptomspektrum sowie über Symptomhäufigkeit, Intensität und Beeinträchtigungsgrad geben. Zudem ergänzen und untermauern Selbstbeurteilungsfragebögen den klinischen Eindruck und dienen der Verlaufskontrolle in Behandlungen. Die häufige Erhebung zeitnaher Informationen über den Schweregrad der Symptome geht nachweislich mit besseren medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlungsergebnissen einher (20). Einige Patienten sprechen erst im Verlauf einer Behandlung, nachdem sie genug Vertrauen in der therapeutischen Beziehung aufgebaut haben, über ihre trau-
Kasten 2:
Hilfreiche Massnahmen für eine valide Diagnosestellung (3, 7)
● Herstellung einer sicheren, störungsfreien Gesprächsatmosphäre, Berücksichtigung von spezifischen Kontrollbedürfnissen der Patientin, u. a. adäquates Eingehen auf notwendige Rahmenbedingungen (z. B. ausreichender körperlicher Abstand zur Untersuchungsperson, ggf. Türen offen lassen, Mitnehmen einer Vertrauensperson, Entfernen von Auslösereizen im Gesprächsraum).
● Aktives Erfragen der PTBS-Symptome, da viele Patienten nicht spontan davon berichten.
● Psychoedukation: Die Vermittlung eines Modells zur Erklärung der Symptome als menschliche Reaktion auf Extrembelastung sowie die Erläuterung der Störung als posttraumatische Diagnose führen meist zur Entlastung der Betroffenen.
● Bei akuter Traumatisierung ist die vorbeugende Aufklärung über eventuell zu erwartende Symptome wichtig.
● Erfassung und Bekräftigung der individuellen kompensatorischen Strategien als «normale» Reaktion.
● Erfassung von Risiko- und Schutzfaktoren.
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matischen Erlebnisse, oft aufgrund von Schamerleben bzw. der störungsimmanenten Vermeidungssymptomatik. Dieser Umstand macht wiederholte diagnostische Nachbestimmungen notwendig. Entsprechend ist der oben zitierte Phasenablauf nicht zwingend in der genannten Reihenfolge zu sehen, jedoch sollte ohne sorgfältige Diagnostik und Aufklärung keine traumafokussierte Psychotherapie durchgeführt werden. Vor Beginn einer Behandlung sollte in jedem Fall eine sorgfältige Diagnostik erfolgen, weil eine nicht indizierte Behandlung zu unerwünschten Wirkungen führen kann und die Ressourcen des Gesundheitssystems nicht effizient eingesetzt werden können (7, 21). Traumafolgestörungen wurden bisher vermutlich zu selten diagnostiziert, vor allem wenn die traumatischen Erfahrungen länger zurückliegen und die offensichtliche Symptomatik nicht dem klassischen Bild der PTBS entspricht (22). Zusätzlich können störungsimmanente Aspekte den Gang der Diagnostik beeinträchtigen, beispielsweise durch eine reduzierte zwischenmenschliche Vertrauensfähigkeit, was besonders auf kPTBS nach interpersonellen Traumatisierungen zutrifft, wenn erhebliche Scham- und Schuldgefühle sowie eine ausgeprägte Vermeidung vorliegen. Symptome und Beschwerden werden nicht im Zusammenhang mit zurückliegenden Traumatisierungen genannt. Eine übersteigerte Vorstellung, mit allem selbst fertig werden zu müssen, führt zu Schwierigkeiten, die eigene Hilfsbedürftigkeit wahrzunehmen, und zum Anspruch, das Trauma aus eigener Kraft bewältigen zu müssen. Auch werden manchmal Beschwerden nur teilweise geschildert, da einzelne Aspekte den Betroffenen nicht bewusst sind (z. B. bei dissoziativen Symptomen). Somit kommt dem diagnostischen Gespräch für die weitere Behandlung der traumabedingten Störungen eine weichenstellende Bedeutung zu. Hierbei spielt vor allem die Frage eine Rolle, ob es gelingt, eine ausreichend vertrauensvolle Beziehung herzustellen, die es dem Patienten ermöglicht, sich mit seinen traumatischen Erfahrungen und möglichen Folgesymptomen auseinanderzusetzen und mitzuteilen.
Begutachtung von Traumafolgestörungen Bei Begutachtungen ist eine mögliche akute Verschlechterung oder Triggerung des Probanden (z. B. verstärktes intrusives Erleben) durch detaillierte Exploration und Diagnostik zu beachten, weshalb Begutachtungen in der Regel nur von in der Behandlung und der Diagnostik der PTBS erfahrenen Gutachtern durchgeführt werden sollten (23). Auch wenn hier keine therapeutische Beziehung besteht, sollte sich ein Gutachter doch um einen sicheren Rahmen bemühen, in dem sich ein Proband anvertrauen kann. Förster und Dressing (24) empfehlen einen «verstehenden Zugang» in der Begutachtung als Versuch, den Probanden in seiner biografisch gewordenen Individualität zu erkennen. Bei Begutachtungen sollten Selbstbeurteilungsfragebögen nur mit Bedacht benutzt werden, zum Beispiel um Diskrepanzen zwischen dem psychopathologischen Befund und der subjektiven Selbsteinschätzung seitens des Exploranden (25, 26) darzustellen. Zur Sicherung der Diagnose wird neben einer umfassenden Anamneseerhebung, die auch Fremdanamnesen mit einschliessen sollte, die Anwendung von strukturierten klinischen In-
terviews durch geschulte Untersucher empfohlen. Nach akuten Traumata sollte bei Hochrisikogruppen (Überlebende von Grossschadensereignissen, traumatisierte Flüchtlinge usw.) der routinemässige Einsatz eines validierten, kurzen Screeninginstruments für PTBS frühestens 4 Wochen nach dem Trauma als Teil der Gesundheitsvorsorge in Erwägung gezogen werden (27).
Psychoedukation Psychoedukation ist ein Mittel zur Aufklärung Betroffener, das sich psychotherapeutischer und pädagogischer Wirkelemente bedient. Ziel der Psychoedukation ist es, dem Patienten ein Wissen zu vermitteln, das es ihm erleichtert, seine Störung und die damit verbundenen Symptome zu verstehen. Er soll in die Lage versetzt werden, die Behandlungsmöglichkeiten realistisch zu beurteilen und dabei mitentscheiden zu können. Handlungsrelevante Wissensvermittlung dient dazu, Hilflosigkeit gegenüber den Symptomen, übermässige Ängste und falsche Annahmen abzubauen. PTBS-Patienten wissen oft nicht, warum sie so reagieren und woher ihre Symptome kommen. Sie erleben sich verändert oder anders als andere und reagieren darauf eher mit Rückzug und vermeiden, sich mitzuteilen. Normalisation: Dementsprechend geht es bei der Aufklärung um Nachvollziehbarkeit der erlebten Beeinträchtigungen als eine normale Reaktion, die jeder andere, der das gleiche erlebt hat, genauso oder ähnlich zeigen würde. Leitsatz ist dabei: Die PTBS ist eine normale Reaktion auf eine extrem unnormale Situation. Auch psychophysische Reaktionen der chronischen Übererregbarkeit werden erklärt. So die Weisheit des Körpers: Körperliche Reaktionen bei PTBS sind automatische Schutzreaktionen des Körpers, der für zukünftige Gefahren besser geschützt sein will, um besser flüchten oder kämpfen zu können (Flucht-Kampf-Reaktion), und dazu eine gewisse Übererregbarkeit braucht. Information über allgegenwärtige Triggerreize werden gegeben: Situationen, Orte, Personen, Aktivitäten, Gerüche, Geräusche usw. dienen als Hinweise vor dem scheinbaren Neuauftauchen der Gefahren. Es wird vermittelt, dass Triggerreize zu einer Symptomverstärkung führen. Die Erläuterung der Zusammenhänge bewirkt, dass diese Symptomatik ihren oft überraschenden Charakter verliert. Ausserdem werden Informationen über spezielle Themen gegeben, die für die Patienten schwer erklärbar sind, wie Flashbacks, Numbing, Dissoziation, Panik, orientierend anhand ihrer Symptombeschreibungen. Die Patienten werden auch darüber informiert, dass sich während der Psychotherapie die Symptome verstärken. Legitimation: Den Patienten wird erklärt, dass ihre Versuche, mit den Symptomen und den veränderten Reaktionsweisen fertig zu werden (traumakompensatorische Schemata), verständlich, nachvollziehbar und berechtigt sind, auch wenn sie neue Probleme verursachen (z. B. sozialer Rückzug) oder den Zustand nicht nachhaltig bessern können. Dabei ist es aber auch wichtig, über dysfunktionale Bewältigungsstrategien (z. B. Einnahme von Benzodiazepinen gegen Ängste oder Schlafstörungen) zu informieren. Ein weiterer Aspekt der Psychoedukation ist es, Menschen mit Migrationshintergrund und Geflüchteten Hand zu bieten, ihren Zustand und ihre Situation zu ver-
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stehen und ihre Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit zurückzugewinnen. Empfehlenswerte Manuale zur Psychoedukation bei posttraumatischen Störungen im Allgemeinen gibt es von Liedl, Schäfer & Knaevelsrud (2013 (28). Für Menschen mit Migrationshintergrund sei das Psychoedukationsmanual von Jan Ilhan Kizilhan (2018) (29) empfohlen und für Fachkräfte und ehrenamtliche Helfer der Leitfaden für den Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen von Zito und Martin (2016 (30).
Psychotherapie der Traumafolgestörungen Zur Behandlung der PTBS gibt es mittlerweile verschiedene psychotherapeutische Interventionen, die in kontrollierten Therapiestudien untersucht worden sind. Auch gibt es viele Metaanalysen (3) zu den sehr zahlreichen Wirksamkeitsstudien. Zentrales Merkmal zur Einteilung der verschiedenen psychotherapeutischen Behandlungstechniken ist dabei die Unterscheidung zwischen traumafokussierten und nicht traumafokussierten Interventionen. Hohe bis sehr hohe Therapieeffekte auf die Kernsymptome der PTBS finden sich nur für traumafokussierte Psychotherapie, wobei das am meisten bei der nicht kPTBS untersucht wurde. Auch in einer aktuellen kritischen Überprüfung der Metaanalysen (31), basierend auf qualitativ hochwertigen Studien (8 Qualitätskriterien bei randomisierten, kontrollierten Studien), fanden sich aktuell keine signifikanten Abschwächungen der Effekte bei diesen Therapien im Gegensatz zu Psychotherapien für depressive Störungen, deren Wirksamkeit eher überbewertet wurde. Nicht traumafokussierte Psychotherapien haben ergänzenden Charakter. In neuen, sogenannten phasischen Therapieverfahren für komplexe Traumafolgestörungen (kPTBS) kombiniert man traumafokussierte und nicht traumafokussierte Methoden (7).
Traumafokussierte Psychotherapie Dabei handelt es sich um Behandlungsansätze, bei denen der Schwerpunkt auf der Verarbeitung der Erinnerung an das traumatische Ereignis und/oder dessen Bedeutung liegt (27, 32). Das heisst, dass sich die Betroffenen nochmals mit dem traumatischen Erlebnis und ihren Reaktionen darauf in einem therapeutisch begleiteten und sicheren Rahmen auseinandersetzen. Am häufigsten wurden die folgenden Varianten in Studien der Psychotherapieforschung untersucht: Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie (TFKVT): Hier haben sich verschiedene Varianten der TFKVT als wirksam bei der Behandlung der PTBS erwiesen. Zu den gut untersuchten wirksamen Verfahren gehören die prolongierte Exposition (PE) (33), die kognitive Verarbeitungstherapie (CPT) (34), die kognitive Therapie nach Ehlers und Clark (35), die narrative Expositionstherapie (NET) (36, 37, www.vivoschweiz.ch) und Ansätze, die Exposition und kognitive Interventionen kombinieren (38). Zentrale Interventionen innerhalb der Gruppe der TFkVT sind die l imaginative Exposition in Bezug auf die Trauma-
erinnerung l narrative Exposition vor dem Hintergrund der eige-
nen Biografie (z. B. NET [36, 37]) l Exposition in vivo
l kognitive Interventionen zur Veränderung traumabezogener Überzeugungen.
Gemeinsam ist allen Therapieprogrammen, dass sie auf der Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie entwickelt wurden und dass bei allen Programmen traumafokussierte Interventionen im Vordergrund stehen. Des Weiteren unterscheiden sich die Programme unter anderem darin, ob vorrangig expositionsorientierte Techniken, kognitive Interventionen oder eine Kombination von beiden zum Einsatz kommen, sowie in der konkreten Umsetzung der Interventionsbausteine (7, 39). Weitere vielversprechende traumafokussierte Behandlungsverfahren, für die noch nicht so viele Studiendaten vorliegen, wurden in den letzten Jahren entwickelt. Hierzu gehören beispielsweise die Brief Eclectic Psychotherapy (40, www.psychotraumatologie-weiterbildung. uzh.ch), die Imagery Rescripting & Reprocessing Therapy (IRRT) (41, www.irrt.ch), die neben verhaltenstherapeutischen auch psychodynamische, systemische, humanistische sowie andere therapeutische Vorgehensweisen einbezieht, sowie andere schematherapeutische Formen der Imagery Rescripting Therapy (42, 43) oder die metakognitive Therapie (44). Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) (45, 46, www.emdr-institut.ch) wurde als eigenständige psychotherapeutische Methode entwickelt und lässt sich nicht eindeutig einem bestimmten psychotherapeutischen Verfahren zuordnen. Es ist eine traumafokussierte Intervention, die – basierend auf manualisierten Vorgaben – nach einem strukturierten Schema der Fokussierung in einen assoziativen Verarbeitungsprozess mündet. Begleitend werden mit der Hand des Therapeuten geführte rhythmische Augenbewegungen vom Patienten ausgeführt. Am besten untersucht ist das EMDR-Standardprotokoll, das neben Erinnerungen an die Vergangenheit auch auf belastende traumaassoziierte Auslöser der Gegenwart fokussiert sowie bei Zukunftsängsten, die mit der Erinnerung verbunden sind, angewandt wird.
Nicht traumafokussierte Interventionen Hierbei handelt es sich um eine Gruppe verschiedenster Behandlungsansätze. Allen ist gemeinsam, dass der Fokus nicht auf der Verarbeitung von Erinnerungen an traumatische Ereignisse bzw. deren Bedeutung liegt (3). Nicht traumafokussierte Interventionen haben einen vorbereitenden, ergänzenden oder sekundären Charakter, zum Beispiel wenn eine traumafokussierte Psychotherapie nicht oder noch nicht durchgeführt werden kann. Nicht traumafokussierte Therapien beinhalten unter anderem Strategien und Interventionen l zur Verbesserung der Emotionsregulation l zum Erlernen von Fertigkeiten im Umgang mit post-
traumatischen Belastungssymptomen oder l zur Unterstützung bei der Bewältigung aktueller Pro-
bleme.
Eine schon länger bekannte nicht traumafokussierte Intervention ist beispielsweise das Stressimpfungstraining (47). Dieses beinhaltet Techniken zur Entspannung, Gedankenstopp, kognitive Umstrukturierung, Umgang mit Stressoren sowie Rollenspiele. Für Patientinnen und Patienten mit PTBS-Symptomen
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und komorbiden substanzbezogenen Problemen wurde das Programm «Sicherheit finden» (48) ent-wickelt, das verschiedene kognitiv-behaviorale Interventionsbausteine miteinander kombiniert. Nicht traumafokussierte Interventionen werden auch als Gruppentherapien angeboten und enthalten unter anderem stabilisierende und ressourcenfördernde Verfahren (49, 50). Techniken zur Emotionsregulation, wie sie aus der dialektisch behavioralen Therapie (DBT) (51) bekannt sind, gehören benfalls dazu. Ausserdem kommen nach der Durchführung traumafokussierter Interventionen Verfahren zur Verbesserung der Genussfähigkeit und der sozialen Teilhabe, wie zum Beispiel Acceptance & Commitment Therapy (ACT) (52), in Betracht.
Phasenbasierte Psychotherapieverfahren Im Zuge der Erforschung der komplexen Traumafolgestörungen und mit der Einführung der komplexen PTBS (kPTBS) als diagnostische Entität wurden auch neue multimodale bzw. phasenbasierte Therapieprogramme entwickelt und untersucht, die neben traumafokussierten Elementen auch nicht traumafokussierte Komponenten enthalten. Das korrespondiert mit den zusätzlichen Symptomkomplexen und Behandlungsfeldern komplexer Traumafolgestörungen, wie sie beispielsweise in der neuen Diagnose der kPTBS abgebildet werden. Häufig folgen die diesbezüglich neu entwickelten Behandlungsansätze einem phasenbasierten Vorgehen, wobei das Ziel in einer ersten Therapiephase darin besteht, Patientinnen bzw. Patienten zu stabilisieren und/ oder ihnen Skills zur Bewältigung von Symptomen und Alltagssituationen (z. B. Verbesserung der Emotionsregulation, Veränderung dysfunktionaler interpersoneller Schemata) zu vermitteln. Die darauffolgende zweite Therapiephase hat dann traumafokussierte Interventionen zum Inhalt. Ein bereits gut untersuchtes und validiertes Beispiel hierfür ist die dialektisch behavoriale Therapie der PTBS (DBT-PTBS) (53, 54; www.awp-freiburg.de), die Methoden der DBT mit traumafokussierten Interventionen kombiniert. Auch das Skillstraining zur affektiven und interpersonellen Regulation/narrative Therapie (STAIR/NT) (55, 56; www.zep-hh.de) gehört zur Gruppe der phasenbasierten Ansätze. Nach Durchführung der Traumabearbeitung schliessen sich dann noch lebenspraktische bzw. alltagsressourcenfördernde Interventionen an. Bei DBT-PTBS greift man auf Elemente der ACT zurück (52). Mit Blick auf komplexe Traumafolgestörungen, die besonders häufig als Folge traumatischer Erfahrungen im interpersonellen Kontext auftreten, hat sich gezeigt, dass Betroffene davon profitieren, wenn zunächst die akzessorischen Symptome der Emotionsregulierung bearbeitet werden, bevor eine traumafokussierte Therapie erfolgt. Umgekehrt sind die Betroffenen im Nachgang häufig mit Defiziten beim Selbstwert, in der Beziehungsregulation und der Alltagsbewältigung sowie mit beeinträchtigter Genussfähigkeit konfrontiert.
Pharmakotherapeutische Interventionen Zur Behandlung der PTBS wurden ebenfalls pharmakotherapeutische Interventionen entwickelt und in kontrollierten Studien evaluiert. Internationale Leitlinien (u. a. 3, 27, 57) sowie aktuelle Metaanalysen zur Wirksam-
keit pharmakotherapeutischer Interventionen bei PTBS (58, 59) zeigen, dass die traumafokussierte Psychotherapie der Pharmakotherapie bei PTBS klar überlegen ist. Aus diesem Grund spricht sich die deutschsprachige S3-Leitlinie (3) ebenso wie andere internationale Leitlinien gegen den Einsatz der Psychopharmakotherapie als alleinige oder primäre Therapie bei PTBS aus. Falls nach einem informierten und partizipativen Entscheidungsprozess trotz der geringen Effekte eine Medikation bevorzugt wird, sollten lediglich Sertralin, Paroxetin oder Venlafaxin angeboten werden, wobei es sich bei Venlafaxin um einen Off-Label-Use handelt, während die beiden erstgenannten Substanzen eine Zulassung für die Behandlung der PTBS haben. Darüber hinaus finden in der klinischen Praxis häufig in eklektischer Weise verschiedene Substanzen Verwendung, bei denen es meist um Beruhigung und Schlafförderung geht. In aller Regel handelt es sich um einen Off-Label-Gebrauch. Üblich sind diverse atypische oder niederpotente Neuroleptika, bei denen die antihistamine Wirkkomponente zur Sedation und Schlafförderung genutzt wird. Auch die pharmakologisch stabilisierende Wirkung von Antiepileptika wurde in diesem Rahmen untersucht. Abgesehen von offenen Studien oder Fallberichten liegen keine Angaben zur Wirksamkeit vor. Einige Studien (60, 61) legen nahe, dass der in der Schweiz nicht erhältliche Alpha-1-Rezeptor-Blocker Prazosin gegen Albträume im Zusammenhang mit PTBS hilft, wobei offen ist, worauf die Wirkung beruht. Insgesamt ist der therapeutische Effekt umstritten und kann nicht als gesichert angesehen werden (3). Was den Einsatz von Benzodiazepinen bei PTBS betrifft, ist die Datenlage vor dem Hintergrund metaanalytischer Befunde (62) diesbezüglich mehr als eindeutig: Benzodiazepine sind ganz klar kontraindiziert. Insgesamt lassen sich nur geringe Effekte für die Pharmakotherapie bei PTBS nachweisen, und der einzige hoch signifikante Prädiktor (p < 0,001) für den Verlust der Diagnose PTBS bei pharmakotherapeutischer Behandlung ist die gleichzeitige Behandlung mit einer evidenzbasierten traumafokussierten Psychotherapie (63). Die meisten Leitlinien empfehlen eine Pharmakotherapie deshalb lediglich als Alternative zur Psychotherapie, wenn die Psychotherapie abgelehnt wird oder nicht zur Verfügung steht (3). Traumafolgestörungen benötigen spezielle Kenntnisse Es ist mittlerweile allgemeiner Konsens, dass es zur Behandlung von Traumafolgestörungen spezielle fachliche Kenntnisse braucht, die über das in der psychotherapeutischen Grundausbildung vermittelte Fachwissen hinausgehen. Neben dem Wissen zu einigen verschiedenen evidenzbasierten Methoden empfiehlt es sich, auch weitere Kenntnisse zu verschiedenen Themen im Zusammenhang mit Entstehung, Verlauf und besonderen Umständen bei Vorliegen einer PTBS oder anderer Traumafolgestörungen zu haben. Zur Vertiefung und Ausbildung in der Behandlung von Traumafolgestörungen (Zertifikat «Spezielle Psychotraumatherapie») finden sich detaillierte Empfehlungen auf der Website der wissenschaftlichen Fachgesellschaft der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatolo- 12 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 3/2022 FORTBILDUNG gie (www.degpt.de) und in der S3-Leitlinie zur Behandlung der PTBS (3). Zusammenfassung Besteht der Verdacht auf Vorliegen einer PTBS, einer kPTBS oder einer anderen Traumafolgestörung, sollte stets eine sorgfältige Diagnostik erfolgen (3, 5, 7). Bei der Behandlung der PTBS ist immer eine störungs- spezifische traumafokussierte Psychotherapie die Psy- chotherapie der ersten Wahl (3, 5, 7). Hierzu gibt es hoch wirksame, evidenzbasierte Methoden aus dem verhal- tenstherapeutischen Methodenspektrum (z. B. NET, IRRT, PE, CPT, BEP) und EMDR. Sollte zunächst eine traumafokussierte Therapie nicht möglich sein, was bei der kPTBS besonders oder bei aus- geprägten dissoziativen Störungen der Fall ist, gibt es verschiedene nicht traumafokussierte (stabilisiernde emotionenregulierende und ressourcenfördernde) Me- thoden, die einer traumafokussierten Psychotherapie vorausgehen können (3, 7). Pharmakotherapeutische Behandlungen haben immer begleitenden Charakter (z. B. Schlafverbesserung, Stim- mungsstabilisierung) oder sind Therapie der zweiten Wahl, wenn eine traumafokussierte Psychotherapie nicht möglich ist. Die Gabe von Benzodiazepinen ist kontraindiziert und sollte wenn möglich vermieden werden (3, 7). Die Behandlung von Traumafolgestörungen bedarf eini- ger therapeutischer Erfahrungen und spezieller Kennt- nisse der Behandlungsmethode und der Kontext- bedingungen. Ein diesbezügliches Fortbildungscurricu- lum findet sich auf der Website der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (www.degpt.de). Bei der Begutachtung von Traumafolgestörungen soll- ten bei den Begutachtenden Kenntnisse zum Umgang mit Exploranden, zu Störungsbildern und zur Behand- lungsmethodik vorliegen (3, 7, 23). l Korrespondenzadresse: Dr. med. Andreas Linde Leitender Arzt Psychiatrische Dienste Aargau (PDAG) Königsfelderstrasse 1 5210 Windisch E-Mail: andreas.linde@pdag.ch Referenzen: 1. Maercker A et al.: Posttraumatische Belastungsstörungen in Deutschland. Der Nervenarzt. 2008;79(5),577-586. doi:10.1007/ s00115-008-2467-5. 2. Maercker A et al.: ICD-11 Prevalence Rates of Posttraumatic Stress Disorder and Complex Posttraumatic Stress Disorder in a German Nationwide Sample. Journal of Nervous and Mental Disease. 2018;206 (4),270-276. doi: 10.1097/NMD.0000000000000790. 3. Schäfer I et al.: S3-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung. 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