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EAN-Guideline Cognitive Impairment nach Schlaganfall
Wenig Evidenz, wenig Empfehlungen
Die European Stroke Organisation und die European Academy of Neurology (EAN) haben eine gemeinsame Leitlinie zu kognitiver Beeinträchtigung und Demenz nach Schlaganfall erstellt. Ungeachtet des hohen Aufwands bei der Sichtung und der Bewertung der verfügbaren Daten bleibt das Ergebnis letztlich dürftig, da zu den meisten relevanten Fragestellungen qualitativ hochwertige Evidenz fehlt. Dies resultiert in bestenfalls schwachen Empfehlungen.
K ognitive Beeinträchtigung nach Schlaganfall (post-stroke cognitive impairment [PSCI]) ist nicht nur eine häufige Folge von Schlaganfällen, sondern wird von den Betroffenen auch als besonders belastend wahrgenommen (1). PSCI ist ein weites Feld von hoher klinischer Relevanz. Dementsprechend hat die neue Leitlinie der European Stroke Organisation und der EAN zu diesem Themenkomplex mit insgesamt mehr als 30 Seiten beachtliche Dimensionen angenommen (1). Die Guideline wurde nach der strengen Methodologie des Grading of Recommendations, Assessment, Development and Evaluation (GRADE) anhand eines Katalogs klinisch relevanter Fragen erstellt. Zu jeder Frage wurden systematische Reviews durchgeführt, die Qualität der Evidenz bewertet und schliesslich Empfehlungen gegeben. Insgesamt wurden 18 PICO-Fragen (P: Population/Patient/Problem, I: Intervention, C: Comparison und O: Outcome) gestellt, die das gesamte Feld der kognitiven Einschränkungen nach Schlaganfall abdecken sollen. Leider stand zur Beantwortung dieser Fragen in vielen Fällen keine qualitativ hochwertige Evidenz zur Verfügung. Randomisierte Studien waren nur in begrenzter Zahl verfügbar.
Demenzprävention nach Schlaganfall: Leider keine Daten Die PICO-Frage 1 zielt auf die Prävention und PSCI ab und lautet: «Können bei Patienten nach Schlaganfall monitorisierte Lebensstilmassnahmen (Training, Veränderungen der Diät, Alkoholreduktion, Gewichtsreduktion, Nikotinstopp) allein oder in Kombination im Vergleich zur Standardversorgung einen zukünftigen kognitiven Abbau oder eine Demenz verhindern?» Zu dieser Frage erwies sich die verfügbare Evidenz als so schlecht, dass keine Empfehlung gegeben werden kann. Die Autoren halten dazu fest, dass diese Massnahmen den Betroffenen gesundheitliche Vorteile bringen und daher sinnvoll sein könnten. Im Hinblick auf das Thema der Leitlinie sei es jedoch nicht gelungen, dies zu
zeigen. Qualitativ adäquate Studien werden gefordert. Ähnliches gilt auch für die PICO-Frage 2 : «Kann bei Patienten nach Schlaganfall ein intensiviertes Management der vaskulären Risikofaktoren im Vergleich zur Standardversorgung einen zukünftigen kognitiven Abbau oder eine Demenz verhindern?» Auch bei dieser Frage stellt sich das Problem der mangelnden Evidenz. Aus diesem Grund können eine intensivierte Blutdrucksenkung und eine intensive Statintherapie allein aus der Perspektive der Demenzprävention nicht empfohlen werden. Etwas besser ist die Evidenz bei der dualen Plättchenhemmertherapie, die zu einer schwachen Empfehlung gegen den Einsatz zur Demenzprävention nach lakunärem Schlaganfall führt. Auch hier betonen die Experten, dass die genannten Massnahmen sinnvoll und indiziert sein könnten. Es fehlt lediglich der Beleg für eine Wirkung auf die Kognition. Die PICO-Frage 3 zielt auf eine Kombination aus Lebensstilmassnahmen und Pharmakotherapie zur Demenzprävention nach Schlaganfall ab und wird im selben Sinn beantwortet: Mangels Evidenz kann keine Empfehlung gegeben werden. Zur Frage nach der Sinnhaftigkeit von kognitivem Training nach Schlaganfall (PICOFrage 4) wurde nicht eine einzige kontrollierte Studie gefunden. Es kann daher keine Empfehlung gegeben werden. Das Guidelinekomitee weist aber darauf hin, dass kognitives Training ein wertvoller Bestandteil eines multimodalen Rehabilitationskonzepts sein könne. Ein Absetzen von Statinen und Antihypertensiva nach Schlaganfall (PICO-Frage 5) wird ebenfalls nicht empfohlen, da die kardiovaskulären Vorteile dieser Substanzen gesichert sind und zu Wirkungen auf die Kognition keine Daten vorliegen.
Empfehlungen zur Diagnostik der Demenz nach Schlaganfall Die PICO-Frage 6 lautet: «Verbessert routinemässiges kognitives Screening im Vergleich zu keinem routine-
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mässigen kognitiven Screening die Versorgung nach Schlaganfall?» Auch hier gibt es mangels relevanter Studien keine Empfehlung, wobei die Leitlinienautoren darauf hinweisen, dass sich diese Nichtempfehlung auf das Screening der gesamten Schlaganfallpopulation beziehe. Die kognitive Abklärung im Einzelfall sei davon nicht betroffen. Entschliesst man sich zu dieser Abklärung, wird zur Diagnose einer kognitiven Beeinträchtigung das Montreal Cognitive Assessment (MoCA) empfohlen. Die zugrunde liegende Evidenz wird allerdings als schwach eingestuft. Das MoCA kann die klinische Bewertung nicht ersetzen und wird in der Schlaganfallpopulation zu zahlreichen falsch positiven Ergebnissen führen. Daher wird auf Ebene des Expertenkonsensus eine Anpassung der Schwellenwerte nahegelegt. Insgesamt wird eine schwache Empfehlung für den Einsatz des MoCA erteilt. Eine schwache Empfehlung gibt es auch für die Folstein’s Mini-Mental State Examination (PICO-Frage 8), die in 16 Studien evaluiert wurde, denen jedoch durchwegs eine schwache Qualität und ein hohes Biasrisiko attestiert wurden. Die Sensitivität ist gering, sodass bei Patienten nach Schlaganfall viele falsch negative Resultate ermittelt werden, sofern man die Schwellenwerte nicht anpasst. Ebenso kann in der Demenzdiagnostik nach Schlaganfall die Addenbrooke’›s Cognitive Examination eingesetzt werden (PICO-Frage 9). Allerdings ist die Qualität der Evidenz gering und die Empfehlung entsprechend schwach. Keine Empfehlung besteht mangels akzeptabler Evidenz für den Oxford Cognitive Screen (PICO-Frage 10). Zu diesem Instrument wird weitere Forschung angeregt. Eine telefonische Abklärung auf Demenz ist möglich (PICO-Frage 11), eine solche wird jedoch eine hohe Rate an falsch positiven Ergebnissen produzieren. Allerdings ist auch hier die Qualität der Evidenz sehr niedrig und nicht ausreichend, um eine Anpassung der Schwellenwerte zu begründen.
Therapie: Keine Evidenz, keine Empfehlungen Das generelle Bild mangelnder Evidenz und daraus resultierender fehlender oder maximal schwacher Empfehlungen setzt sich im Bereich der Therapie fort. So kann zum Einsatz von Cholinesteraseinhibitoren in der Demenzprävention bei kognitiv beeinträchtigten Patienten nach Schlaganfall keine Empfehlung gegeben werden. Das Guidelinekomitee betont, dass bei Patienten mit kognitiver Beeinträchtigung nach Schlaganfall bestenfalls minimale und klinisch nicht relevante Effekte von Cholinesteraseinhibitoren zu erwarten seien und Nebenwirkungen bedacht werden müssten. Diese Einschätzung ergibt sich aus der Beobachtung, dass Cholinesteraseinhibitoren bei prädominant vaskulären Demenzen weitgehend wirkungslos sind. Allerdings könne es schwierig sein, eine komorbide Alzheimer-Demenz auszuschliessen. Ebenfalls keine Empfehlung gibt es für Memantin (PICO-Frage 13), wobei im Wesentlichen hierfür dasselbe gilt wie für Cholinesteraseinhibitoren. Eine Wirkung bei vaskulärer Demenz ist nicht zu erwarten. Die PICO-Frage 14 bezieht sich auf die Wirksamkeit der Nootropika Actovegin oder Cerebrolysin auf den kognitiven Abbau, die Besserung von Verhaltensauffällig-
keiten und psychologischen Symptomen sowie die Belastung der Pflegenden. Auch hier gibt es angesichts der qualitativ unzureichenden Evidenz keine Empfehlung. In einem Expertenkommentar fügen die Autoren der Leitlinie hinzu, dass sie angesichts der möglichen schweren Nebenwirkungen explizit vom Einsatz der Nootropika abraten. Zu einer differenzierteren Einschätzung führte die PICO-Frage 15, die auf die Wirksamkeit kognitiver Rehabilitation abzielt. Hier weisen die Autoren darauf hin, dass es zu diesen Methoden mittlerweile eine ganze Reihe von Studien gebe, die allerdings nicht exakt den Kriterien dieser PICO-Frage entsprächen und daher nicht hätten berücksichtigt werden können. Dennoch gebe es immer mehr Evidenz dafür, dass kognitive Rehabilitation, insbesondere kompensatorische Strategien im Kontext individuell relevanter funktionaler Aufgaben, für Menschen mit Demenz nach Schlaganfall vorteilhaft sein könnten. Angesichts fehlender, qualitativ hochwertiger Studien ist eine Empfehlung zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht möglich.
Empfohlen: Abschätzung der Prognose
anhand der Bildgebung
Die übrigen PICO-Fragen drehen sich um die kognitive
Prognose nach einem Schlaganfall. So zum Beispiel um
die Möglichkeit, kurz nach dem Ereignis mit prognosti-
schen Tools abzuschätzen, ob der Patient in Zukunft
eine kognitive Beeinträchtigung oder eine Demenz ent-
wickeln wird (PICO-Frage 16). Zu dieser Frage gibt es
zwei Studien von sehr niedriger Qualität und damit
keine Empfehlung. PICO-Frage 17 zielt auf den Wert der
Bildgebung mittels Computertomografie in der Prädik-
tion von Demenz nach Schlaganfall ab, hierzu gibt es
ebenfalls keine Empfehlung. Die Autoren sehen hier
allerdings ein wichtiges Forschungsfeld und angesichts
der heute breiten Verfügbarkeit der Computertomo-
grafie ein grosses Potenzial für die Zukunft. PICO-Frage
18 behandelt der Wert der Magnetresonanztomografie
(MRT) und führte die Autoren zu einer schwachen
Empfehlung für die Bildgebung. Studien von ausrei-
chender Qualität zeigen Zusammenhänge zwischen
White Matter Hyperintensities (WMH) und der späteren
Diagnose eines PSCI. Daher wird auf der Basis von Evi-
denz von moderater Qualität empfohlen, WMH zur Ab-
schätzung der kognitiven Prognose nach einem
Schlaganfall heranzuziehen. Für die Einbeziehung an-
derer Auffälligkeiten in der MRT besteht hingegen
keine ausreichende Evidenz.
l
Reno Barth
Referenzen: 1. Quinn TJ et al.: European Stroke Organisation and European
Academy of Neurology joint guidelines on post-stroke cognitive impairment. Eur J Neurol. 2021;28(12):3883-3920. 2. Pollock A et al.: Top ten research priorities relating to life after stroke. Lancet Neurol. 2012;11:209.
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