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Neuroforschung: die Zukunft
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Marcel Arnold
«Ich beschäftige mich nicht mit dem, was getan worden ist. Mich interessiert, was getan werden muss.» Das war einer der Leitsätze der Nobelpreisträgerin Marie Curie-Sklodowska. In welche Richtung soll sich die neurologische Forschung bewegen? Die folgende Übersicht von Forschenden der Universitätsklinik für Neurologie des Inselspitals Bern versucht, diese Frage aus der Sicht eines interdisziplinären, experimentellen, translationalen und klinischen universitären Forschungszentrums, in dem der Patient im Zentrum steht, zu beantworten. Dabei werden einige Forschungsschwerpunkte des Neurozentrums anhand anschaulicher Beispiele besonders hervorgehoben.
Smita Saxena Maxime Baud Andrew Chan Antoine Adamantidis
von Marcel Arnold1, Smita Saxena, Maxime Baud1, Andrew Chan1, Antoine Adamantidis1
Grundlagenforschung und translationale Forschung
« P romoting interdisciplinary and translational research between experimental, theoretical and clinical neurosciences in combination with novel technologies will advance the translation of scientific discoveries into biomedical applications and therapeutic interventions (1).» In der Tat waren in den letzten Jahren interdisziplinäre und translationale Forschungsprojekte sehr erfolgreich und führten zu einem besseren Verständnis des Gehirns sowie von zahlreichen neurologischen Erkrankungen. Auch neue therapeutische Ansätze und diagnostische Methoden, teilweise mit hoch spezialisierten Neuro-Devices und biomedizinischen Applikationen, ebnen der neurologischen Forschung den Weg in die Zukunft. Im ersten Teil dieses Artikels versuchen wir die Chancen, Herausforderungen und Limitationen dieser Entwicklungen zu beleuchten. Der Fokus wird dabei auf der experimentellen und translationalen Forschung in den Bereichen Schlaf und Schlaf-wach-Störungen, Neurodegeneration, Epilepsie und Neuroimmunologie liegen:
Schlaf-wach-Störungen Schlafmangel, Schlafstörungen und Störungen des zirkadianen Rhythmus nehmen in unserer modernen Gesellschaft deutlich zu. Zahlreiche experimentelle und klinische Daten bestätigen, dass Schlaf-wach-Störungen unsere Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Lebensqua-
1 Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital Bern
lität in hohem Masse beeinträchtigen. Deshalb ist ein besseres Verständnis der Mechanismen der zugrunde liegenden zirkadianen Steuerung von Schlaf-wach-Zyklen und Oszillationen von grosser Bedeutung. Auch neue Erkenntnisse über die grundsätzlichen Funktionen des Schlafs sind entscheidend für die zukünftige Forschung. Dazu gehören vermutlich die Reifung des Gehirns, Stoffwechselprozesse wie die Clearance von Metaboliten oder pathogenen Substanzen und die Konsolidierung oder Abschwächung von Gedächtnisinhalten. Die Plastizität des Gehirns wurde mit der Kodierung, der Stabilisierung und der Eliminierung neuer Informationen während des Schlafs in Verbindung gebracht. Experimentelle Studien weisen darauf hin, dass die synaptische Plastizität mit einer globalen Reduktion der synaptischen Aktivität zusammenhängt, obschon die lokale Bildung neuer Synapsen beobachtet wurde. Das bessere Verständnis der Schlaf-wach-Zyklen und der vom Schlaf abhängigen Plastizität bietet nun neue translationale Ansätze für die Behandlung von Schlaf-wach-Krankheiten, von neurologischen Erkrankungen mit (leichten) Schlafstörungen vor Krankheitsmanifestation sowie bei traumatischen Hirnläsionen. Als Beispiel sei die Narkolepsie genannt, die durch einen Verlust von Hypocretin/Orexin-Neuronen im lateralen Hypothalamus bedingt ist. Aus neurobiologischer Sicht sind der Schlaf, insbesondere der REM-Schlaf, und die Thermoregulation eng miteinander verbunden. Dieses Zusammenspiel erfolgt teilweise im Hypothalamus. Die zugrunde liegenden Mechanismen müssen aber noch erforscht werden. Das im Tiermodell gewonnene bessere Verständnis der neuronalen Netzwerke, die den Einfluss von Wachheit und REM-Schlaf auf Metabolismus, Temperaturempfinden und die emotionale Kontrolle
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der Kataplexie steuern, öffnet neue Wege für die Therapie der Narkolepsie. Ein weiteres Beispiel ist die Erforschung der Plastizität bei der Erholung nach Schlaganfall und Hirntrauma. Letzteres kann durch den Schlaf beeinflusst werden. Aktuelle Therapiekonzepte setzen beispielsweise auf eine nicht selektive Modulation grosser Hirnareale und Training im Rahmen einer interdisziplinären Neurorehabilitation. Wir konnten beobachten, dass niederfrequente, hochamplitudige Oszillationen im Periinfarktgewebe beim Schlaganfall Ähnlichkeiten mit den langsamen Wellen des Schlafs aufweisen, welche die Hirnplastizität fördern. Kürzlich konnten wir zeigen, dass die Induktion von Slow-Wave-Sleep mittels Optogenetik zu einer besseren Erholung von motorischen Funktionen nach einem Hirninfarkt führt (2). In Zukunft versuchen wir, diese Erkenntnisse mit neuen Modellen und vergleichenden Studien auf andere Hirnregionen und Funktionen auszudehnen. Dieser translationale, nicht invasive, neuromodulatorische Ansatz hat zum Ziel, den Schlaf, die Erholung von motorischen Funktionen sowie kognitiven Defiziten bei Schlaganfallpatienten zu verbessern.
Neurodegenerative Erkrankungen Störungen des zirkadianen Schlaf-wach-Rhythmus oder der Schlaffunktion gehören zu den häufigsten Frühsymptomen bei neurodegenerativen Erkrankungen. Diese können viele Jahre vor den kognitiven Einschränkungen auftreten. Ein Kausalzusammenhang zwischen Schlafstörungen und neurodegenerativen Erkrankungen ist somit wahrscheinlich. Die Mechanismen sind jedoch wenig bekannt. Es ist aber gut möglich, dass Schlafstörungen die Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen direkt oder indirekt fördern. Die Erforschung von kausalen Zusammenhängen zwischen Schlaf und neurodegenerativen Erkrankungen hat ein grosses Potenzial, die frühe Diagnostik, Prävention und Therapie dieser Erkrankungen zu verbessern. Unsere Forschung versucht, die Mechanismen der komplexen Interaktionen zwischen Schlaf-wach-Störungen und neurodegenerativen Erkrankungen auf genetischer, molekularer und neurophysiologischer Ebene zu erhellen. Wir untersuchen die synaptischen Funktionen, die Struktur und die Integrität des Schlaf-wach-Zyklus, die Aggregation von Proteinen und pathologische Veränderungen der betroffenen Neuronen mittels pharmakogenetischer, chemogenetischer und bildgebender Verfahren. Der Einfluss des zirkadianen Rhythmus und von Schlaf-wach-Zuständen auf die Regulation synaptischer Transkriptome und Proteomics und deren Bedeutung für die Entwicklung von neurodegenerativen Erkrankungen werden analysiert. Wir verwenden neuronale und hirnregionale subtypenspezifische Omics-Ansätze, um den Zusammenhang zwischen Schlafmangel und synaptischer Phosphorylierung zu bestimmen. Dabei wird die Sekretion von pathologischen Proteinen durch neuronale Aktivität angestossen und die Verbreitung von toxischen Proteinen zu anderen Hirnregionen gefördert. Diese translationalen Ansätze werden neue Erkenntnisse über molekulare, genetische und neuronale Mechanismen des Schlafs im gesunden Gehirn und bei neurologischen Krankheiten erschliessen.
Epilepsie Die Epilepsie ist eine zyklische Erkrankung des Gehirns, deren Ursprung in einer unkoordinierten neuronalen Aktivität liegt. Die Erforschung der Mechanismen, die den epileptischen Anfällen und der abnormen neuronalen Aktivität bei der Epilepsie zugrunde liegen, ist der Schlüssel zur Entwicklung besserer Therapien. Methodologisch stehen hierbei die moderne Elektrophysiologie, optogenetische Interventionen und multimodales Neuroimaging im Vordergrund. Besonders wichtig ist die Frage, welche Faktoren Anfälle zu einem bestimmten Zeitpunkt triggern können. Verschiedene Hypothesen wurden aufgrund experimenteller und klinischer Studien entwickelt, doch die Ursache der Anfallsauslösung bleibt letztlich unklar. Studien, die viele anfallsfördernde Faktoren (z. B. neuronale Entladungen, koordinierte Oszillationen, zirkadianer Zyklus, Schlaf-wach-Zyklus, multidianer Zyklus der neuronalen Aktivität) über einen langen Zeitraum untersuchen, haben ein grosses Potenzial, die Vorhersage von Anfällen bei der Epilepsie zu verbessern. In diesem Kontext ist das Zusammenspiel von moderner Grundlagenforschung, Computerwissenschaften, klinischer Forschung und ganzheitlicher Patientenbetreuung von entscheidender Bedeutung.
Neuroimmunologie In kaum einem anderen Gebiet haben Fortschritte in der Grundlagenwissenschaft zu so relevanten therapeutischen Fortschritten geführt wie in der Neuroimmunologie. Allein für die Multiple Sklerose stehen weit mehr als ein Dutzend verlaufsmodifizierende Medikamente zur Verfügung, die innerhalb der letzten Dekaden entwickelt wurden. Grundlage hierfür ist die Identifizierung von relevanten Pathomechanismen, die zudem zu einer weiteren Detaillierung von Krankheitsentitäten geführt hat, wie beispielsweise den Neuromyelitis-opticaSpektrum-Erkrankungen mit der Entwicklung hochspezifischer Medikamente. Ein relevanter Forschungsschwerpunkt ist die Erfassung der zugrunde liegenden Heterogenität von Pathomechanismen, Phänotypen und Krankheitsstadien als wesentlicher Determinante des therapeutischen Ansprechens (3). So wird immer deutlicher, dass verschiedene Elemente des Immunsystems in der Pathophysiologie neurologischer Autoimmunerkrankungen klare stadienspezifische und lokoregionale Funktionen ausüben, sodass eine therapeutische «one size fits all»-Strategie zum Scheitern verurteilt ist. Autoimmune Mechanismen sind auch bei der Pathogenese von anderen neurologischen/neurodegenerativen Erkrankungen von Bedeutung, zum Beispiel bei der Alzheimer-Erkrankung und beim Schlaganfall (4). Allerdings sind hier noch keine entsprechend klaren ableitbaren und praktisch anwendbaren Therapiekonzepte fassbar. Neben der pathophysiologischen Heterogenität spielen eine zu geringe Wirksamkeit, unerwünschte Nebenwirkungen oder zu grosse interindividuelle Unterschiede eine Rolle. In-vivo- und In-vitro-Modelle von autoimmunen und neurodegenerativen Mechanismen, Biomarker, paraklinische sowie klinische Daten von selektionierten Patientengruppen werden helfen, molekulare Surrogatmarker für das Nutzen-Risiko-Profil bei Immuntherapien zu be-
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QR-Link SAMW-White Paper www.rosenfluh.ch/qr/whitepaper
stimmen. Auch die Vorhersage der Krankheitsprogression könnte durch neue Surrogatmarker verbessert werden, wobei digitale (Artificial-Intelligence-basierte) Marker und neue «readouts» relevant werden (5). Schliesslich erhoffen wir uns durch die translationale Forschung die Identifizierung neuer neuroimmunologischer Zielmechanismen als Grundlage für Therapien neurodegenerativer Erkrankungen.
Klinische Forschung Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat in ihrem kürzlich erschienenen «White Paper: Clinical Research» eine neue Forschungskultur gefordert, die auf allen Ebenen integrativer werden soll (6). Dabei wurden 7 Ziele definiert (siehe QR-Link):
1. Schaffung einer nationalen Plattform zur Koordination öffentlich finanzierter Akteure in der klinischen Forschung
2. Aufbau starker Partnerschaften mit der Öffentlichkeit, der Bevölkerung, Patientinnen und Patienten
3. Förderung eines Gesundheitssystems, das die klinische Forschung systematisch integriert: Good care comes with – and from – good science
4. Investitionen in die Entwicklung von innovativen, dynamischen, klinischen Forschungsansätzen, Designs und Technologien
5. Förderung von translationalen, multidisziplinären integrierten klinischen Forschungsteams
6. Gewährleistung eines Umfeld, das für klinisch Forschende und Gesundheitsforschende attraktiv ist und sie auf allen Karrierestufen unterstützt
7. Reduktion der Komplexität von regulatorischen und datenbezogenen Prozessen, um die Effizienz zu steigern und die Umsetzung klinischer Forschung zu beschleunigen
Die Umsetzung dieser Ziele wird für die Stärkung der klinischen Neuroforschung in der Schweiz von zentraler Bedeutung sein. Im Folgenden fokussieren wir sowohl auf die Chancen von neuen Forschungsansätzen und Technologien als auch auf das wissenschaftliche Umfeld und diskutieren ebenso die Stossrichtung bei einigen wichtigen neurologischen Erkrankungen, bei denen wir wissenschaftlich an vorderster Front aktiv sind.
Forschungsansätze, Technologien Der Erfolg vieler klinischer Studien hängt im Wesentlichen von einer guten Patientenselektion, multizentrischer und interdisziplinärer Zusammenarbeit sowie patientenzentrierten Outcome-Parametern ab. Gute randomisierte Studien sind weiterhin unverzichtbar für die Zulassung und die Implementierung von neuen Medikamenten sowie zunehmend auch von Devices im klinischen neurologischen Alltag. Datenplattformen, Computermodelle und Simulationen sowie genetische Analysen, beispielsweise für individualisierte Chemotherapien beim Glioblastom, bieten neue Möglichkeiten für personalisierte therapeutische Ansätze. Big Data und Computermodelle können riesige Datenmengen aus Registern, Biobanken und Krankenakten
vernetzen und systematisch auswerten. Diese Ansätze können randomisierte, klinische Studien zwar nicht ersetzen, haben aber ein grosses Potenzial in der Voraussage, welche Patienten von bestimmten Therapien am besten profitieren. Zudem lassen sich aus riesigen Datenbanken mit explorativen Studien Hypothesen generieren, die anschliessend in soliden klinischen, randomisierten Studien bestätigt werden müssen. Mit «machine learning» und künstlicher Intelligenz wird es in Zukunft wohl in vielen Bereichen (z. B. Neuroimaging, Fundoskopie) möglich sein, diagnostische Muster besser und schneller zu erkennen als das menschliche Gehirn. Innovative mobile Technologien, wie zum Beispiel Sensoren oder Elektroden, können bei vielen neurologischen Erkrankungen zu früheren und zuverlässigeren Diagnosen führen. Verschiedene Geräte bieten Möglichkeiten des Langzeitmonitorings wie bei der Epilepsie oder bei neurodegenerativen Erkrankungen. Diese können beispielsweise das Auftreten von Anfallsereignissen voraussagen, Auswirkungen von Erkrankungen auf den Alltag der Patienten analysieren oder Verschlechterungen von progredienten neurologischen Erkrankungen frühzeitig erfassen.
Wissenschaftliches Umfeld Die Schaffung einer nationalen Koordinationsplattform für die klinische Forschung ist auch für die klinischen Neurowissenschaften zentral. Den Universitätsspitälern sollte dabei eine zentrale Rolle zukommen, um die Synergien zwischen der klinischen Patientenversorgung und den klinischen Studien optimal zu nutzen. Durch die Bildung interdisziplinärer universitärer Neurozentren und Zentren für translationale Forschung (z. B. SitemInsel Bern, Wyss-Center Genf ) wurden in der Schweiz hierzu vielerorts schon gute Voraussetzungen geschaffen. Neben Diagnostik und Therapie sollten die Forschungsschwerpunkte zunehmend auch die Prävention im Sinne von ganzheitlichen Brain-Health-Konzepten einbeziehen. Bei der Einführung neuer Informatiksysteme sollten die Bedürfnisse der klinischen Forschung integriert werden. Zudem könnte eine offenere Forschungskultur, die Patienten und Patientenorganisationen einbezieht und die Nutzen und Risiken der zum Teil überbordenden regulatorischen Massnahmen sorgfältiger abwägt, die klinische Forschung in Zukunft erleichtern. Zu einem erfolgreichen wissenschaftlichen Umfeld gehören auch lokale, nationale und internationale interdisziplinäre Forschungsnetzwerke und -plattformen. Die Förderung klassischer randomisierter Studien, zum Beispiel die gezielte Unterstützung von forscherinitiierten, industrieunabhängigen klinischen Studien durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) mit dem Spezialprogramm für Investigator Initiated Clinical Trials (IICT), bleibt weiterhin zentral. Weitere wichtige Initiativen sind der Ausbau der Clinical Trial Units (CTU) und der Swiss Biobanking Plattform (SBP). In unserer medizinischen Fakultät wird nun ein eigenes Departement für klinische Forschung geschaffen. Auch die Förderung interdisziplinärer, kollaborativer Forschungsteams (z. B. Synergia vom SNF) stimuliert das
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wissenschaftliche Umfeld. Neue Karriereförderungsinstrumente wie Protected Research Time für den klinisch forschenden Nachwuchs durch die SAMW, den SNF, unsere medizinische Fakultät und auch innerhalb unserer Klinik sollten weiter ausgebaut werden. Nicht zuletzt ist auch eine laiengerechte und proaktive Wissenschaftskommunikation entscheidend, damit sich die Bedeutung der klinischen Forschung für unsere Patienten und unsere Gesellschaft vermitteln lässt.
Beispiele neurologischer Erkrankungen Schlaganfall Der ischämische Schlaganfall kann heutzutage mit Thrombolytika und interventionellen Rekanalisationstechniken sehr häufig erfolgreich behandelt werden. Die Zukunft der Akuttherapie liegt wahrscheinlich in einer optimierten Patientenselektion mit multimodalem Imaging, Biomarken sowie neuen Devices für schwer zugängliche distale Verschlüsse, frühzeitig verabreichten neuroprotektiven Medikamenten, neuen Thrombolytika und Antikoagulanzien. Machine-Learning-Ansätze werden helfen, mit künstlicher Intelligenz die Entscheidungsprozesse beim einzelnen Patienten zu verbessern und zu beschleunigen.
Die Anwendung dieser neuen Methoden wird die ärztliche Kompetenz zwar wohl kaum ersetzen, aber ergänzen und vertiefen können. Elektrophysiologische und medikamentöse Ansätze zur Förderung der Plastizität nach dem Schlaganfall können zu neuen Fortschritten in der subakuten und chronischen Phase des Schlaganfalls führen. In der Schweiz konnten in den letzten Jahren dank der Unterstützung des SNF (Spezialprogramm für IICT) mehrere grosse randomisierte, nationale und internationale Studien lanciert werden (z. B. ELAN-Trial, SWIFTDirect-Trial, SWITCH-Trial …). Die Rekrutierung einer grossen randomisierten Multizenterstudie zur Frühbehandlung der schlafbezogenen Atemstörung nach Schlaganfall wurde kürzlich abgeschlossen. Diese Erfolge waren nur dank des Aufbaus von gut vernetzten Stroke-Center und Stroke-Units möglich, die auch wissenschaftlich eng zusammenarbeiten. Bei selteneren zerebrovaskulären Erkrankungen wurden grosse internationale Netzwerke aufgebaut, die auch in diesen Bereichen einige Fortschritte versprechen (z. B. International Cerebral Venous Thombosis Consortium [www.cerebralvenousthrombosis.org], Cervical Artery Dissection and Ischemic Stroke Patients [CADISP] Con-
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sortium). In diesen Konsortien spielen Schweizer StrokeCenter eine zentrale Rolle. Auch der Aufbau des nationalen Schlaganfallregisters (swiss stroke registry) bietet viele Chancen für die Zukunft. Datenplattformen mit Integration von klinischen Daten aus dem Swiss Stroke Registry, dem Biobanking und von neuroradiologischen Daten sind im Aufbau. Dabei sind auch internationale Vernetzungen, zum Beispiel im Rahmen des Human Brain Projects, geplant.
Epilepsie Ein zentrales Problem bei der Epilepsie ist die Pharmakoresistenz. Ein Drittel der Patienten erleidet trotz medikamentöser Behandlung weitere Anfälle. Auch mit dem modernen und vielfältigen Arsenal an Medikamenten wählen wir Medikamente immer noch nach dem Prinzip «trial and error» aus. Methoden zur Personalisierung der Medikamentenauswahl könnten dazu beitragen, die Anfälle früher und besser zu kontrollieren. Ein implantierbares Langzeit-Monitoring-EEG-System könnte beispielsweise eingesetzt werden, um die epileptische Hirnaktivität über Monate zu verfolgen, mit dem Ziel, das Anfallsrisiko und die Anfallskontrolle durch Medikamente kontinuierlich zu bewerten (7). Solche Geräte könnten auch eine Anfallsvorhersage ermöglichen, da bei den meisten Menschen mit Epilepsie das Anfallsrisiko zyklisch ansteigt und die interiktale epileptische Hirnaktivität als Biomarker zur Bestimmung der patientenspezifischen Periodizität überwacht werden kann. In
Merkpunkte:
● Die Implementierung neuer Therapien lässt sich durch translationale und multidisziplinäre Forschungszentren beschleunigen und verbessern.
● Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat in ihrem kürzlich erschienenen «White Paper: Clinical Research» eine neue Forschungskultur gefordert, die auf allen Ebenen integrativer werden soll.
● Randomisierte, klinische Studien bleiben unverzichtbar, da eine zuverlässige Unterscheidung zwischen Kausalzusammenhang und zufälligen Assoziationen nur im Rahmen von randomisierten Studien möglich ist.
● Bei häufigen neurologischen Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose und dem Schlaganfall sind in den letzten Jahren bahnbrechende Therapien entwickelt worden. Zu den Herausforderungen der Zukunft gehören neben der Erforschung neuer therapeutischer Ansätze auch die gezielte und für den einzelnen Patienten individualisierte Therapie (personalisierte Medizin).
● Patienten mit seltenen neurologischen Erkrankungen, deren Pathomechanismen durch die Erkenntnisse der Grundlagenforschung nun besser verstanden werden, profitieren vermehrt von gezielten Therapien.
● Durch die Entwicklung neuer Technologien können die Diagnostik und das Monitoring in Zukunft bei einigen Erkrankungen wohl vermehrt vom stationären in den ambulanten Bereich verlagert werden.
Bern haben wir vor Kurzem die Forschungsplattform NeuroTec gegründet, um neue Sensoren und Überwachungssysteme zu entwickeln, die in der integrierten NeuroTec-Loft (siehe Artikel S. 36) getestet werden können (5). Für jene Patienten, bei denen die medikamentöse Behandlung nicht zu einer zufriedenstellenden Anfallskontrolle führt, bleibt die Epilepsiechirurgie eine hervorragende Option. Es gilt, dabei den Nutzen der Operation (Anfallskontrolle bei bestimmten fokalen Epilepsien bis zu 80%) und die Risiken sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Eine erfolgreiche Operation hängt im Wesentlichen von der präzisen Lokalisierung der Anfallsursprungszone ab. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die fortgeschrittene Elektrophysiologie mit implantierbaren Elektroden und hoher Dichte, moderne Computertechniken sowie multimodale bildgebende Verfahren, wie zum Beispiel Hochfeld-Magnetresonanztomografen (7-Tesla), die in Bern, Lausanne und Zürich schon verfügbar sind.
Seltene neurologische Erkrankungen
Patienten mit seltenen neurologischen Erkrankungen,
deren Pathomechanismen durch die Erkenntnisse der
Grundlagenforschung nun besser verstanden werden,
können vermehrt von gezielten Therapien (z. B. Risdi-
plam bei der spinalen Muskelatrophie) profitieren.
Durch den Aufbau von universitären Zentren für seltene
Erkrankungen, die auch international gut vernetzt sind,
können in Zukunft hoffentlich auch Patienten mit ande-
ren seltenen neurologischen Erkrankungen von neuen
Therapieansätzen profitieren. In unserem Zentrum er-
forschen wir beispielsweise im Rahmen einer internatio-
nalen Kooperation die Wirksamkeit von Acetyl-DL-Leucin
bei zerebellären Ataxien (8).
l
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Marcel Arnold, FESO, FEAN
Chefarzt, Leiter Stroke Center Universitätsklinik für Neurologie Inselspital, Universitätsspital Bern
3010 Bern E-Mail: marcel.arnold@insel.ch
Referenzen: 1. Howells DW et al.: Bringing rigour to translational medicine. Nat Rev
Neurol. 2014;10:37-43. 2. Facchin L et al.: Slow waves promote sleep-dependent plasticity and
functional recovery after stroke. J Neuroci. 2020;40:8637-8651. 3. Engelhardt B et al.: Eur J Neuroimmunol. 2022: in revision. 4. Guse K et al.: Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm. 2022: in press. 5. Schindler K et al.: NeuroTec Sitem-Insel Bern: Closing the Last Mile in
Neurology. Clin Transl Neurosci. 2021;5:13. 6. Tapernoux M et al.: Blick auf die klinische Forschung. Schweiz
Ärzteztg. 2022;103:179-181. 7. Baud M et al.: Personalisierte Chronotherapie bei Epilepsie. Swiss
Med Forum. 2020;20:532-537. 8. Bremowa-Ertl T et al.: Efficacy and safety of N-acetyl-L-leucine in
Niemann-Pick disease type C. J Neurol. 2022;269:1651-1662.
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