Transkript
PORTRAIT
Wir stellen vor:
Prof. Dr. med. Claudio Bassetti
Direktor, Universitätsklinik für Neurologie, Inselspital Bern, Dekan, Medizinische Fakultät Bern, Präsident, European Academy of Neurology (EAN)
Prof. Claudio Bassetti ist neben seiner klinischen Tätigkeit in der Universitätsklinik für Neurologie am Inselspital Bern auch Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Bern und Präsident der European Academy of Neurology (EAN). Dabei engagiert er sich sehr für Forschung. Das ist aber noch nicht alles.
Sie haben den Schwerpunkt «Zukunft der Neurologie» der vorliegenden Ausgabe koordiniert. Wohin geht die Reise in der Neurologie? Prof. Dr. med. Claudio Bassetti: Die Reise geht in eine sehr spannende Richtung. Eine frühe und genaue Diagnose ist durch die Kombination der traditionellen «clinical skills» der neurologischen Anamnese und Untersuchung mit den sich rasant entwickelnden Neuroimaging-, Neurophysiologie- und Laborabklärungen (inklusiv Omics) zunehmend möglich. Die Fortschritte der Biotechnologie ermöglichen zudem neue Ansätze in der Teleneurologie (z. B. mittels «wearables» und «nearables») für Diagnose und Monitoring von Patienten in natürlicher Umgebung. Die Machine-Learning-Technologie macht es schliesslich möglich, die Masse und die Vielfalt an Daten, die in der Diagnostik generiert werden, zu verarbeiten und Erkenntnisse daraus zu ziehen. Die Neurologie macht aber auch in der Therapie phänomenale Fortschritte. Genaue, das heisst auf molekulare Mechanismen gezielte Therapien stehen bei seltenen genetischen (z. B. Spinalmuskelatrophie), neuroimmunologischen (z. B. Multiple Sklerose), aber auch bei häufigen Erkrankungen (z. B. Migräne) zunehmend zur Verfügung. Die Fortschritte der Biotechnologie ermöglichen zudem immer mehr neue therapeutische Ansätze in der Neurostimulation (z. B. bei Parkinson und Tremor) und der sogenannten Brain-Machine-Interface (z. B. zur Steuerung von Rehabilitationsrobotik). Inzwischen kann man auch viel für die Hirngesundheit (brain health) und die Prävention von neurologischen Erkrankungen tun. Es gibt zum Beispiel neuere Daten, die zeigen, dass 30 bis 50 Prozent der Demenzen und Hirnschläge heute vorgebeugt werden können. Die Patienten, die schliesslich trotz Präventions-, Diagnose- und Therapiemöglichkeiten einen neurologischen Schaden erleiden, können schliesslich von den grossen Fortschritten in der Neurorehabilitation profitieren. Um diese vielen Entwicklungsmöglichkeiten auszuschöpfen, braucht es zunehmend multidisziplinäre Teams, bestehend aus Ärzten, Pflegenden, Bio-Ingenieuren, Grundlagenforschern und weiteren Spezialisten. Translationale, interdisziplinäre und interprofessionelle Ansätze in Forschung und Klinik sind für die Zukunft des Fachs unerlässlich geworden.
Welche Schwerpunkte setzen Sie in Ihrer Präsidentschaft der EAN? Bassetti: In der EAN verfolgen wir derzeit vier Schwerpunkte. Der erste Schwerpunkt ist die Lehre mit Symposien, EAN-Tagen an den nationalen Kongressen, Frühlings- und Herbstschulen und internationalen klinischen Austauschprogrammen (clinical fellowships) für Assistenzärzte
und neuerdings auch für Studenten. In den letzten 12 Monaten hat die EAN zudem eine komplett neue State-of-the-Art E-Learning-Plattform entwickelt, die am EAN-Kongress 2022 in Wien offiziell eingeweiht wird. Darauf bin ich sehr stolz. Vor wenigen Monaten habe ich auch eine Task Force gegründet, die sich mit der Bedeutung der allgemeinen Neurologie für die Zukunft des Fachs beziehungsweise für die Versorgung von neurologischen Patienten in den nächsten Jahren auseinandersetzt.
Der zweite Schwerpunkt? Bassetti: Das ist die Forschung. Neben dem jährlichen EAN-Kongress und den internationalen Forschungsaustauschprogrammen (research fellowships) haben wir gerade unter meiner Präsidentschaft viel gemacht, damit die EAN sich als forschende Gesellschaft entwickelt und wahrgenommen wird. Dabei haben wir eine Research School und internationale Forschungsprojekte etabliert, die jedoch die Aktivitäten von nationalen und spezialisierten Gesellschaften (z. B. ECTRIMS, ESO, ...) nicht konkurrenzieren. Wir haben beispielsweise eine grosse europäische Studie zu den Kosten von neurologischen Behandlungen gestartet. Eine weitere grosse Studie läuft zu neurologischen Komplikationen von COVID-19. An dieser sogenannten ENERGY-Studie sind weltweit etwa 40 Zentren beteiligt, bis jetzt sind etwa 3000 Patientendaten erfasst. Eine andere grosse Studie betrifft die gesundheitlichen, aber auch sozioökonomischen Folgen (burden) von Insomnie und Schläfrigkeit. Hierbei arbeitet die EAN mit anderen europäischen Gesellschaften (u. a. mit Psychiatern, Pneumologen, Kinderneurologen und Demenzspezialisten) zusammen. Aktuell evaluiert die EAN auch Forschungsprojekte zu den Themen Digitalisierung und Hirngesundheit (brain health).
Die Mitglieder bilden den dritten Schwerpunkt. Bassetti: Die EAN macht sehr viel für ihre Mitglieder. Neben der Gründung einer Task Force für Diversität und Gleichstellung haben wir ein Leadership-Programm aufgegleist, mit dem neue Leader gefunden, ausgebildet und unterstützt werden. Mit dem Mentorship-Programm werden Interessierte für Kooperationen zusammengebracht. Des Weiteren haben wir eine Mitgliedschaft für Studenten aufgelegt. Die Idee dazu entstand aus der Tatsache, dass sich am ersten virtuellen Kongress 2020 etwa 5000 Studenten eingeschrieben hatten. Solche interessierten Studenten bilden möglicherweise die nächste Generation der Neurologen, ihnen wollen wir etwas bieten. Von Material über Symposien bis zu Austauschmöglichkeiten.
Und was bezweckt der vierte Schwerpunkt? Bassetti: Der vierte Schwerpunkt nennt sich Advocacy. Mit über 45 000 Mitgliedern aus 47 Ländern hat die EAN Gewicht und kann mit einer starken Stimme sprechen. Wir haben in den letzten Monaten unsere Präsenz bei der EU in Brüssel verstärkt, um die Aufmerksamkeit auf Häufigkeit und Konsequenzen von neurologischen Erkrankungen zu erhö-
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hen. Dazu gehört auch die Definition einer EAN-Strategie und der baldige Start der Kampagne «Brain Health» zur Prävention von neurologischen Erkrankungen. Auch die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen wie der World Federation of Neurology, dem European Brain Council sowie Patientenorganisationen wie der European Federation of Neurological Associations wurde intensiviert. Hinter all dem steckt die Idee, dass man mehr erreichen kann, wenn alle Stakeholders gemeinsam und somit stärker für mehr Bewusstsein zur Häufigkeit und zu den Folgen von neurologischen Krankheiten, für mehr Forschung und für eine bessere Versorgung von neurologischen Patienten plädieren.
Sie engagieren sich für die medizinische Versorgung der kriegsversehrten Ukraine. Wie sieht Ihre Unterstützung aus? Bassetti: Meine Motivation dazu ist zum einen persönlicher Art. Meine Frau stammt aus Kiew, und ich habe eine Gastprofessur sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Vor vier Wochen bin ich mit meiner Frau nach Polen geflogen, um einen Transport für Flüchtlinge, darunter auch zwei Verwandte, zu organisieren. Zum anderen haben wir in der Universität Bern und ich als Dekan der Medizinischen Fakultät und als EAN-Präsident mehrere Aktivitäten gestartet, um der Bevölkerung und den Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine Hilfe zu leisten. Neben dem Transport von Medikamenten in die Ukraine, der vereinfachten Anstellung von Forschenden sowie Ärztinnen und Ärzten bei uns in Bern haben wir ein Crowdfunding zugunsten der Ukrainehilfe des Rotes Kreuzes gestartet. Ich bin sehr beeindruckt, wie grosszügig sich alle – vom einfachen Studenten bis zum Professor – daran beteiligen. Die EAN hat unter anderem auch eine freie Mitgliedschaft für alle Neurologinnen und Neurologen der Ukraine, eine kostenfreie Teilnahme am EAN-Kongress und an EAN-Schools vorgesehen.
Beruflicher Werdegang kurz und knapp
Prof. Claudio Bassetti studierte Medizin in Basel und hat sich in Bern am Inselspital und in den USA auf Neurologie spezialisiert. Im Jahr 2000 wurde er stellvertretender Chefarzt und Leiter der neurologischen Poliklinik am Universitätsspital in Zürich, 2009 Direktor des Neurocentro della Svizzera Italiana. Seit 2012 ist er Klinikdirektor und Chefarzt der Neurologischen Klinik im Inselspital und Ordinarius für Neurologie.
Sie haben sich nach dem Medizinstudium für das Fach Neurologie entschieden. Was gab dazu den Ausschlag? Bassetti: Das waren mehrere Gründe. Im Medizinstudium hat mich vor allem das Gehirn, seine Anatomie und Physiologie in den Bann gezogen. Zusätzlich hat mich die Denk- und Handlungsweise eines Neurologen fasziniert. Die Art, wie man Patienten fragen und untersuchen muss, ist einer Detektivarbeit sehr ähnlich. In der Neurologie sind diese sogenannten «clinical skills» sehr wichtig und ausgeprägter als in anderen Disziplinen. Das hat mich begeistert. Beeinflusst hat mich aber auch meine persönliche Geschichte. Als ich im Medizinstudium war, ist meine Grossmutter an einem Hirnschlag gestorben. Ausserdem begegnete ich in meiner Unterassistenzzeit in den USA etlichen neurologischen Patienten und Kollegen, die mich nachhaltig beeindruckt haben.
Was waren Ihre grössten persönlichen Highlights?
Bassetti: Es sind nicht die Positionen und Titel, die ich als Highlights
empfinde, sondern der Weg, der notwendig war, um als Neurologe in
Klinik, Forschung und Lehre gut zu werden. Das Erlernen der multidi-
mensionalen Fähigkeit, Patienten zu betreuen und ihnen nicht nur
eine richtige Diagnose und Therapie, sondern auch eine angemes-
sene Begleitung zu bieten. Die herausfordernde Fähigkeit, spannende
Forschungsthemen nicht nur zu identifizieren, sondern auch im Team
in konkreten Forschungsprojekten zu realisieren. Die Fähigkeit, nicht
nur viele Informationen zu erfassen, sondern daraus das Wesentliche
in Lehre und Kommunikation zu destillieren. Ich betrachte meinen
Beruf als andauernde Herausforderung und als Privileg, weil ich mit
Menschen und mit Wissenschaft zu tun habe. Die Neugier, das Inte-
resse an Neuem und die Lust am Besserwerden sind bei mir unverän-
dert gross.
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Das Interview führte Valérie Herzog.
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