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EDITORIAL
Wenn es nicht mehr läuft: Gangstörungen als Leitsymptom neurologischer Erkrankungen
W ährend die ersten Schritte eines Kindes noch Begeisterungsstürme hervorrufen, wird das Gehen innert kürzester Zeit zu einer Selbstverständlichkeit und gleichzeitig zu einer der elementarsten Funktionen beim Menschen. Das Gehen ist jedoch ein hochkomplexer Vorgang, der auf einer präzisen Steuerung unserer Nerven, unserer Muskulatur und unserer Sinnesorgane sowie des Skelettsystems und der Gelenke basiert. So selbstverständlich diese Art der Fortbewegung für uns ist, so einschränkend ist eine Störung dieses Systems, was vor allem einen Verlust unserer Autonomie bedeutet. Neben orthopädischen oder psychiatrischen Ursachen sind Gangstörungen ein häufiges Leitsymptom in der Neurologie. Störungen des peripheren Nervensystems (z. B. Polyneuropathie, Spinalkanalstenose), der Sinnesorgane (z. B. Gleichgewicht, Visus und Hören) und andere akute und chronische Erkrankungen des zentralen Nervensystems (z. B. Schlaganfall, Parkinson, Multiple Sklerose) gehen mit einer Gangstörung einher. Das frühzeitige Erkennen einer Abweichung der Ganggeschwindigkeit oder des Gangmusters von der Norm kann zu einer schnellen Diagnosefindung führen und damit auch den Zugang zu einer passenden Therapieform ermöglichen.
Im Praxisalltag beginnt die Analyse des Gehens mit der Anamnese und der klinischen Untersuchung. Diese ganz einfache Methodik kann durch apparative Diagnostik deutlich erweitert werden. Katrin Bracht-Schweizer und Kolleginnen zeigen mit der klinisch instrumentierten Ganganalyse eine quantitative Methode zur dreidimensionalen Untersuchung des zyklischen Bewegungsablaufs auf. Sie geben Einblick in die zugrunde liegende Biotechnologie und den bisherigen Einsatz der 3-D-Ganganalyse in Klinik und Forschung.
zur frühzeitigen Erkennung von Gangbildverschlechterungen. Charidimos Tsagkas geht in seinem Artikel auf die zentrale Rolle der Mobilität bei Multipler Sklerose ein. Besonders Patienten mit progressivem Verlaufstyp zeigen frühzeitig pathologische Gangmuster und häufig im Verlauf schwere ausgeprägte Störungen mit dauerhafter Abhängigkeit von Hilfsmitteln.
Ähnliches gilt für die Amyotrophe Lateralsklerose, die Eva Kesenheimer und Kolleginnen in ihrem Artikel beschreiben. Sie ist eine gefürchtete und stigmatisierende neurodegenerative Erkrankung, die sowohl die Motoneurone im zentralen als auch im peripheren Nervensystem schädigen und so recht heterogene Bilder einer Gangstörung hervorrufen kann. Früherkennung des pathologischen Gangmusters kann wegweisend sein und zur Abgrenzung von Differenzialdiagnosen helfen.
Für beide Erkrankungen zeigen sich enorme Entwicklungen hinsichtlich der Visualisierung und der Quantifizierung der pathologischen Veränderungen in vivo. Ebenso eröffnen sich mehr und mehr therapeutische Möglichkeiten. Ein frühzeitiger Beginn dieser Therapie zeigt in Studien eine Reduktion der Krankheitsaktivität respektive eine weniger rasch fortschreitende Behinderung. Neben den medikamentösen Optionen steht mit der Neurorehabilitation ein weiterer wichtiger Behandlungsbaustein zur Verfügung, der die Gangstörung unmittelbar positiv beeinflussen kann.
Für die Zukunft bleibt zu wünschen, dass die technischen Fortschritte in diesem Gebiet mehr und mehr in die klinische Diagnostik und Therapie integriert werden und Patienten, «wenn es nicht mehr läuft», frühzeitig geholfen werden kann.
Gerade bei komplexen Gangstörungen hilft die 3-D-Analyse zur individuellen Therapieplanung und
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.
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Foto: zVg
Katrin Parmar
PD Dr. Katrin Parmar Leitende Ärztin
Reha Rheinfelden Salinenstrasse 98 4310 Rheinfelden E-Mail: K.Parmar@reha-rhf.ch
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
1/2022