Transkript
PORTRAIT
Wir stellen vor:
PD Dr. Margarete Bolten
Psychotherapeutin und Forschungsmitarbeiterin, Universitäre Psychiatrische Kliniken, Klinik für Kinder und Jugendliche (UPKKJ), Basel, und Universitätskinderspital beider Basel (UKBB)
PD Dr. Margarete Bolten hat eine Mission. Sie setzt sich mit grosser Leidenschaft dafür ein, kleinen Kindern mit Problemen eine bessere Entwicklung zu ermöglichen. Und hilft dabei auch den Eltern.
Ihr Fokus als Psychotherapeutin ist die frühkindliche Entwicklung. Was ist Ihr Anliegen? Ich arbeite sowohl in der kinderpsychiatrischen Klinik als auch im Kinderspital Basel. Im Kinderspital haben wir eine psychosomatische Sprechstunde für Säuglinge und Kleinkinder mit Schrei-, Schlaf- und Fütterungsstörungen. Für Eltern von Frühgeborenen beziehungsweise kranken Neugeborenen biete ich in der Neonatologie Unterstützung beim Übergang zur Elternschaft an. Frühgeborene brauchen Unterstützung, damit ihre Entwicklung gut gelingt, dazu berate ich die Eltern eingehend. Die Arbeit ist äusserst befriedigend, denn wenn man in kürzerer Zeit Erfolge sehen möchte, muss man mit Säuglingen arbeiten. In diesem Alter sind die Probleme meist sehr klar umrissen, im Gegensatz zu älteren Kindern, deren Probleme mit zunehmendem Alter immer komplexer werden. An den Schwierigkeiten von Säuglingen kann man zusammen mit den Eltern arbeiten, meist erreicht man sehr schnell markante Verbesserungen. Es ist immer schön zu sehen, wenn es dann den Familien und vor allem den Eltern besser geht. Die frühe Kindheit ist für mich wirklich eine Herzensangelegenheit, und ich bin glücklich darüber, dass dieses Thema jetzt mehr in den Fokus rückt. Die Schweiz hat in diesem Bereich grossen Nachholbedarf.
Inwiefern? Vor allem was die stationären Behandlungsmöglichkeiten betrifft, gibt es in der Schweiz grosse Lücken. Es existieren zwar Mutter-Kind-Stationen für Mütter mit Kindern bis zu 12 Monaten. Doch es gibt keine einzige Eltern-Kind-Station für ganze Familien, in denen das Kind im Mittelpunkt steht und älter als 12 Monate sein darf. Es gibt einfach Fälle, die ambulant nicht gut behandelt werden können. Meine Mission für die nächsten Jahre ist es, dafür zu kämpfen, dass es für Familien mit kleinen Kindern mehr Therapiemöglichkeiten gibt. Denn ich bin überzeugt, dass wir für die Zukunft von Kindern viel mehr erreichen können, wenn wir ihnen früh Unterstützung bieten, nicht erst im Jugendalter.
Welche Problemstellungen sind das? Meist ist die Beziehung beziehungsweise die Interaktion zwischen Eltern und Kind beeinträchtigt. Ich sehe in meiner Praxis Säuglinge und Kleinkinder mit Schrei-, Schlaf- und Fütterstörungen, aber auch mit schweren externalisierenden Störungen, Angststörungen oder Ausscheidungsstörungen, deren Eltern oft schon viel versucht haben und einen langen Leidensweg hinter sich haben. Die Eltern meiner Patienten sind häufig sehr erschöpft, verzweifelt oder leiden sogar selbst an psychischen Problemen. All diese Eltern möchten das Beste für ihr Kind.
Sie begannen sich nach dem Psychologiestudium für Kinderpsychologie zu interessieren. Was gab dazu den Ausschlag? Ich habe meine Doktorarbeit über pränatalen Stress und den Einfluss auf die Emotions- und Verhaltensregulation in einem Projekt von Mechthild Papoušek geschrieben. Sie war die damalige Päpstin für frühe Eltern-Kind-Interaktionen und Regulationsstörungen. Sie begründete in München die erste Säuglingssprechstunde Deutschlands. Über dieses Projekt bin ich zum Thema frühe Kindheit gekommen. Ich habe lang in diesem Bereich geforscht und bin mit der Zeit immer mehr in die klinische Arbeit hineingerutscht.
Sie sind in Deutschland aufgewachsen und haben dort studiert. Was brachte Sie in die Schweiz? Ich habe mit einem Forschungsprojekt eine Stelle beim Schweizer Nationalfonds beantragt und auch bekommen. So bin ich nach Basel gekommen und geblieben, weil es mir hier sehr gut gefällt. Inzwischen habe ich mich mit meiner ganzen Familie frisch eingebürgert. Geboren wurde ich in der damaligen DDR. Als die Mauer fiel, war ich 14 Jahre alt. Die Zeit nach dem Mauerfall war für mich sehr aufregend. In der Schule haben wir Schüler zum ersten Mal mit unseren Lehrern über die politischen Veränderungen diskutiert, und es lag eine unglaublich positive Aufbruchsstimmung in der Luft. Alles war neu, und ich hatte wirklich das Gefühl, dass sich vieles zum Guten ändert.
Sie haben Familie und zugleich einen herausfordernden Job. Wie bringen Sie das unter einen Hut? Man muss Kompromisse machen, ohne Kinder wäre ich jetzt vielleicht Professorin. Ich habe mich aber für meine Familie entschieden, deshalb bin ich vielleicht in meiner akademischen Laufbahn nicht ganz so schnell vorangekommen wie andere. Ich bin aber sehr dankbar für meine Familie – sie gibt mir Kraft, unterstützt mich, und manchmal inspirieren mich meine Kinder auch zu neuen Forschungsideen.
Womit können Sie am besten entspannen, was tun Sie für Ihren Ausgleich? Wir haben einen Hund. Auf den täglichen Hundespaziergängen durch den Wald kann ich bestens entspannen. Ich treibe zudem Sport. Früher war es Leichtathletik, heute halte ich mich mit Joggen, Yoga und Pilates körperlich und mental fit.
Was waren Ihre grössten persönlichen und beruflichen Highlights?
Ein grosses Highlight war für mich, dass ich im letzten Jahr doch noch
die Habilitation geschafft habe. Ein zweites Highlight ist natürlich die
Einbürgerung. Darauf bin ich sehr stolz. Das Jahr 2021 war für mich ein
sehr gutes Jahr!
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Das Interview führte Valérie Herzog.
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
1/2022