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Gangstörungen bei Amyotropher Lateralsklerose
Etwa 40% der Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) weisen als Erstmanifestation der Erkrankung eine Gangstörung auf. Häufig besteht – bei dominanter Beeinträchtigung des 2. Motoneurons – zunächst ein schmerzloser Fallfuss mit kompensatorischem Steppergang. Andererseits kann bei dominanter Beeinträchtigung des 1. Motoneurons auch eine Spastik im Vordergrund stehen und zu einer spastischen Gangstörung führen. Beim seltenen «flail leg», einer distal beginnenden schlaffen Parese einer oder beider unterer Extremitäten, liegen lediglich Zeichen der Schädigung des zweiten Motoneurons vor. Die Diagnose ALS erfolgt bei Fehlen verlässlicher diagnostischer Biomarker primär klinisch und setzt eine sorgfältige Ausschlussdiagnostik voraus, die an die jeweilige klinische Präsentation zu adaptieren ist. Die klinisch heterogenen Erstpräsentationen können den Diagnoseprozess erschweren und verzögern. Neben der medikamentösen Beeinflussung der Krankheitsprogression durch Riluzol und Edaravone stehen bei Gangstörungen die symptomatischen Therapieansätze mit Antispastika und Hilfsmittelversorgung im Vordergrund. Neuere Entwicklungen der Magnetresonanztomografie können Atrophien der grauen beziehungsweise der weissen Substanz auf Ebene des Rückenmarks bei Patienten mit ALS und schlaffen oder spastischen Gangstörungen identifizieren und in der Zukunft gegebenenfalls zum Diagnoseprozess beitragen.
Foto: zVg
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von Eva Maria Kesenheimer1, Maria Janina Wendebourg1 und Regina Schläger1
Eva Maria Kesenheimer Maria Janina Wendebourg
E twa 40% der Patienten mit amyotropher Lateralsklerose (ALS) weisen als Erstmanifestation der Erkrankung eine Gangstörung auf. Häufig besteht – bei dominanter Beeinträchtigung des 2. Motoneurons – zunächst ein schmerzloser Fallfuss mit kompensatorischem Steppergang. Jedoch kann bei dominanter Beeinträchtigung des 1. Motoneurons auch eine Spastik im Vordergrund stehen und zu einer spastischen Gangstörung führen. Beim seltenen «flail leg», einer distal beginnenden schlaffen Parese einer oder beider unteren Extremitäten, liegen lediglich Zeichen der Schädigung des 2. Motoneurons vor. Die Diagnose ALS erfolgt bei Fehlen verlässlicher diagnostischer Biomarker primär klinisch und setzt eine sorgfältige Ausschlussdiagnostik voraus, die an die jeweilige klinische Präsentation zu adaptieren ist. Die klinisch heterogenen Erstpräsentationen können den Diagnoseprozess erschweren und verzögern. Neben der medikamentösen Beeinflussung der Krankheitsprogression durch Riluzol und Edaravone stehen bei Gangstörungen die symptomatischen Therapien mit Antispastika und Hilfsmittelversorgung im Vordergrund. Neuere Entwicklungen in der Magnetresonanztomografie (MRT) können Atrophien der grauen beziehungsweise der weissen Substanz auf Ebene des Rückenmarks bei Patienten mit ALS und schlaffen oder spastischen Gangstörungen identifizieren und in der Zukunft gegebenenfalls zum Diagnoseprozess beitragen.
Regina Schläger
1 Neurologische Klinik und Poliklinik, Departement für klinische Forschung, Universitätsspital Basel und Universität Basel
Die ALS ist eine progrediente neurodegenerative Erkrankung, die sich durch die kombinierte Degeneration des 1. und 2. Motoneurons auszeichnet. Die Inzidenz der ALS liegt weltweit bei 2–3/100 000, und die Prävalenz beträgt 4–5/100 000 (1). Männer sind mit einem Lebenszeitrisiko von 1:350 gegenüber 1:400 etwas häufiger betroffen als Frauen (2), das durchschnittliche Erkrankungsalter in Europa liegt bei 65 Jahren (3). 85– 90% der ALS-Fälle sind sporadisch, bei 10 bis 15% liegt eine familiäre ALS zugrunde, häufig mit früherem Krankheitsbeginn und einer Vielzahl meist autosomal dominant vererbter Mutationen. Auch bei den sporadischen Formen wird eine genetische Prädisposition postuliert, ferner wird der Einfluss verschiedener Umweltfaktoren diskutiert. Der Verlauf ist progredient und führt durchschnittlich nach 3 bis 4 Jahren zum Tod durch respiratorisches Versagen (3). Das klinische Bild der Erstsymptomatik und auch der Verlauf der Erkrankung können sich sehr heterogen präsentieren. Durch die unterschiedliche Betonung der Degeneration des 1. und 2. Motoneurons können schlaffe oder auch primär spastische Paresen auftreten. Die Erkrankung präsentiert sich mehrheitlich (70%) mit einem fokalen spinalen Befall der zervikalen oder lumbalen Region (2). An der oberen Extremität führt dies zu einem in der Regel asymmetrischen Befall der distalen Muskeln, der an den Armen das Bild einer «split hand» zeigt (Atrophie der Thenarmuskulatur bei verhältnismässig gut erhaltener Hypothenarmuskulatur), an der unteren Extremität kommt es oft zu einem Fallfuss. Die Präsentation eines «split leg» wurde mehrfach beschrieben, einerseits als präferenziell paretische Fussheber bei gut erhaltener Fusssenkermuskulatur (4), andererseits auch umgekehrt (5). Die Ursache dieser dissoziierten Beteiligung der Muskeln ist nicht vollständig verstanden;
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möglicherweise spielen metabolische Prozesse im Sinne einer Erschöpfung der Motoneurone durch repetitive Belastung eine Rolle, gegebenenfalls liegen Unterschiede der kortikalen oder spinalen Modulation der verschiedenen Muskeln zugrunde (6). Insgesamt bestehen bei etwa zwei Drittel aller Patienten mit ALS zu Beginn spinale Symptome (7), zu etwa gleichen Teilen mit zervikalem beziehungsweise lumbalem Beginn. In Übereinstimmung hierzu weisen in einer aktuell durchgeführten ALS-Kohortenstudie am Universitätsspital Basel etwa 40% der Patienten Paresen an den unteren Extremitäten mit einer Gangstörung als Erstmanifestation auf. Entsprechend der variablen Beteiligung des 1. oder 2. Motoneurons kann eine Gangstörung als Erstmanifestation einer ALS auf unterschiedliche Arten in Erscheinung treten, mit entsprechend unterschiedlichem Spektrum von zu berücksichtigenden Differenzialdiagnosen.
Gangstörungen: klinische Präsentation bei ALS Klassische Präsentationen Typische generalisierte Symptome einer ALS umfassen Faszikulationen und Muskelkrämpfe. Klassischerweise entwickelt sich subakut innert weniger Wochen ein schmerzloser Fallfuss (Fallbeispiel 1), den der Betroffene häufig zunächst als Ungeschicklichkeit beim Gehen mit vermehrtem Stolpern über kleine Schwellen wahrnimmt. Im Verlauf zeigt sich der klassische Steppergang, bei dem die Fussheberschwäche durch ein vermehrtes Beugen in der Hüfte kompensiert wird. Die Schwäche ist schleichend progredient und weitet sich auf proximale Muskelgruppen sowie andere Extremitäten aus. Im Gegensatz hierzu kann die Degeneration des 1. Motoneurons überwiegen und entsprechend eine im Verlauf häufig einschränkende, oft schmerzhafte Spastik verursachen (Fallbeispiel 2). Auch in diesem Fall sollten sich Zeichen des 2. Motoneurons finden, jedoch häufig subtiler ausgeprägt.
Seltenere Präsentationen Beim seltenen «flail leg», einer distal beginnenden schlaffen Parese einer oder beider unteren Extremitäten, liegen lediglich Zeichen der Schädigung des 2. Motoneurons vor. Die Diagnose kann nach 1 Jahr gestellt werden, wenn zu diesem Zeitpunkt weiterhin Zeichen des 1. Motoneurons fehlen (8). Im Gegensatz hierzu bestehen bei der progressiven muskulären Atrophie nur schlaffe Paresen, Atrophien, Faszikulationen sowie abgeschwächte oder fehlende Muskeleigenreflexe. Gewöhnlich entwickeln 20 bis 30% der Betroffenen innert 5 bis 10 Jahren nach Symptombeginn auch Symptome des 1. Motoneurons und erfüllen somit die Diagnosekriterien einer ALS, deren Prognose besser ist als jene der klassischen ALS (9).
Primäre Lateralsklerose Die primäre Lateralsklerose (PLS) gilt als eine Sonderform der ALS, die sich mit schleichend progredienten Schädigungszeichen des 1. Motoneurons präsentiert. Betroffene Patienten weisen eine Muskelsteifigkeit, Gleichgewichts- und Koordinationsprobleme auf (10, 11). Die Prognose der PLS ist besser als die der klassischen ALS. Diagnostische Konsensuskriterien wurden
Fallbeispiel 1:
Ein 78-jähriger Patient stellte sich aufgrund von seit 1 Jahr bestehenden Muskelkrämpfen in den unteren Extremitäten und einer 1–2 Monate zuvor erstmals bemerkten Schwäche der Fusshebung links vor. Weiterhin berichtete er von einer raschen muskulären Ermüdbarkeit beim Gehen. Klinisch-neurologisch imponierten neben einer linksbetonten Atrophie des M. quadriceps femoris und des M. tibialis anterior mit entsprechenden M4-Paresen beidseits gesteigerte Muskeleigenreflexe der unteren Extremitäten; das BabinskiZeichen war beidseits negativ. Der Fussspitzengang war nur rechtsseitig möglich, ebenfalls das Aufstehen aus der Hocke nur mit Unterstützung. An den Armen zeigte sich eine Atrophie des M. interosseus dorsalis I und des M. abductor pollicis brevis beidseits mit diskreten Paresen. Der Pectoralisreflex und RPR (Radiusperiostreflex) waren beidseits gesteigert, sonstige Reflexe waren symmetrisch mittellebhaft provozierbar. Vereinzelte Faszikulationen waren am M. triceps beidseits und am M. deltoideus links sichtbar. Es fanden sich keine klinischen Hinweise auf eine Einschränkung der bulbären oder respiratorischen Funktionen. Ein MRI (Magnetresonanztomogramm) der Wirbelsäule zeigte altersentsprechende degenerative Veränderungen ohne Pathologien. In der elektrophysiologischen Untersuchung fanden sich neurografisch eine axonale Schädigung des motorischen Anteils des N. medianus, des N. peroneus und des N. tibialis links bei normwertigen sensiblen Neurografien. Elektromyografisch zeigte sich eine pathologische Spontanaktivität im M. vastus medialis, M. tibialis anterior, M. triceps brachii, M. interosseus dorsalis I und paravertebral thorakal mit erhöhter Polyphasierate in einzelnen Muskeln und reduziertem Rekruitment, einer akuten und chronischen Denervation entsprechend. Nach laborchemischem Ausschluss anderer Pathologien wurde die Diagnose einer wahrscheinlichen ALS gemäss den El-Escorial-Kriterien gestellt. Nach 8 Monaten war der Patient mit 2 Unterarmgehstützen für eine maximale Gehstrecke von 100 Metern mobil.
Fallbeispiel 2:
Eine 47-jährige Frau stellte sich mit einer Ungeschicklichkeit und einem Nachziehen des rechten Beins, das sie zum ersten Mal 4 Monate zuvor bemerkt hatte, vor. Aufgrund dieses Nachziehens war es bereits zu wiederholten Stürzen gekommen. Schmerzen und Muskelkrämpfe wurden, ebenso wie weitere Beschwerden, verneint. Klinisch-neurologisch präsentierte sich die Patientin ohne Paresen, Atrophien oder Sensibilitätsstörungen, jedoch mit einer rechtsbetonten leichtgradigen Paraspastik der unteren Extremitäten und einem bein- und rechtsbetonten Tetrapyramidalsyndrom. Die Gangproben zeigten eine leichtgradige Spastik mit einer Zirkumduktion des rechten Beins. Im Bereich der oberen Extremitäten fanden sich weder Atrophien noch Paresen, die Muskeleigenreflexe der oberen Extremitäten zeigten sich allseits sehr lebhaft bis gesteigert. Die bulbären und respiratorischen Funktionen waren klinisch intakt. Im MRI des Neurokraniums zeigten sich keine wegweisenden Befunde, spinal fanden sich leichte degenerative Veränderungen ohne Nachweis einer Spinalkanalstenose oder Myelopathie. Im ENG (Elektroneurografie) fanden sich – abgesehen von einer Amplitudendifferenz der motorischen Neurografie des N. tibialis im Seitenvergleich zuungunsten rechts – unauffällige Neurografien. Elektromyografisch waren chronische und akute Denervierungszeichen im M. tibialis anterior, M. interosseus dorsalis I und M. quadriceps femoris rechts nachweisbar. Eine ausführliche laborchemische Untersuchung war nicht wegweisend. Nach den revidierten El-EscorialKriterien konnte zu diesem Zeitpunkt die Diagnose einer laborgestützt wahrscheinlichen ALS gestellt werden. Im Verlauf der nächsten 8 Monate war eine schleichende Progredienz der rechtsseitigen Beinspastik mit Auftreten einer leichtgradigen Fussheberparese und einer atrophen Parese der rechen Hand als nun klinisch detektierbare Zeichen der Degeneration des 2. Motoneurons zu verzeichnen.
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kürzlich neu formuliert: Danach kann die Diagnose einer definitiven PLS bei über 25-Jährigen mit progredienter Beeinträchtigung des 1. Motoneurons in mindestens 2 von 3 Regionen und nach 4-jährigem Erkrankungsverlauf ohne Zeichen des 2. Motoneurons gestellt werden (12).
Ätiopathogenese Der Name Amyotrophe Lateralsklerose beschreibt die zugrunde liegenden pathologischen Veränderungen der Erkrankung. Einerseits führt die Schädigung der Motoneurone im Hirnstamm und in den Vorderhörnen des Rückenmarks zur Denervation und Atrophie der innervierten Muskeln. Andererseits verursacht die Degeneration der Neurone im Motorkortex und spinal histopathologisch eine Sklerose der lateralen Anteile des Myelons (1). Die Ätiopathogenese der ALS ist nicht vollständig verstanden. Es wird eine Vielzahl potenzieller Mechanismen postuliert, unter anderem eine Schädigung und konsekutive Degeneration der Motoneurone durch Immundysregulation, Inflammation und mitochondriale Dysfunktionen. Für die familiäre Form der ALS wurde eine Vielzahl von Genmutationen beschrieben, die mit dem Auftreten einer ALS assoziiert sein können (13). Bei 60 bis 80% der familiären ALS-Fälle sind in abnehmender Reihenfolge Mutationen in den Genen C9orf72, SOD1, FUS oder TARBDP als ursächlich identifizierbar (3), die zu Veränderungen der RNA-bindenden Proteine führen oder einen Einfluss auf die Proteinhomöostase haben (1). Ausserdem sind bei selteneren Mutationen Veränderungen des Zytoskeletts beschrieben.
Differenzialdiagnose Je nach Ausmass der Beeinträchtigung des 1. oder 2. Motoneurons kommen unterschiedliche Erkrankungen differenzialdiagnostisch bei einer Gangstörung in Betracht. Hauptursache eines Fallfusses ist eine Schädigung des N. peroneus oder der L5-Wurzel. Typischerweise bestehen dann jedoch auch sensible Defizite; es lassen sich möglicherweise Provokationsfaktoren für eine Neurokompression am Fibula-Köpfchen oder Rückenschmerzen eruieren. Seltener können sich auch neuromuskuläre Erkrankungen wie multifokale motorische Neuropathien oder distale Myopathien mit einem Fallfuss äussern. Ferner können das Post-Polio-Syndrom, die monomelische Atrophie des Beins oder eine postradiogene muskuläre Atrophie seltene Mimics darstellen (14). Hierbei helfen vor allem die elektroneuro- und -myografische Untersuchung, die spinale Hochvoltstimulation zum Ausschluss proximaler Leitungsblöcke sowie die Labordiagnostik (Immunelektrophorese, Anti-Gangliosid-AK, TSH, Vitamin B12, Blei, Cadmium, Borrelien) inklusive Liquoranalyse (Pleozytose, Proteinerhöhung) zur Differenzierung. Seltener kommen auch akute zerebrale Ischämien oder Raumforderungen als zentrale Ursachen infrage, wobei dann mehrheitlich das Bild einer Spastik vorliegt, die sich bei der ALS nur selten als spastischer Fallfuss äussert. Die Differenzialdiagnose der asymmetrischen, spastischen Gangstörung einer ALS ist breiter. Neben Tumoren im Bereich der Mantelkante kommen weitere
strukturelle Schädigungen, wie eine kompressive zervikale Myelopathie, entzündliche Veränderungen wie bei der Multiplen Sklerose, Neurosarkoidose, Systemerkrankungen oder infektiöse Ursachen (HIV, humanes T-lymphotropes Virus 1 + 2 [HTLV], Lues, Borrelien), sowie metabolische Ursachen (Vitamin-B12- oder Kupfermangel) in Betracht. Aus diesem Grund sind stets eine MRI-Untersuchung des Neurokraniums und des Rückenmarks sowie entsprechende Laboruntersuchungen indiziert. Genetisch bedingte Erkrankungen wie die Adrenomyeloneuropathie oder das Spektrum der familiären spastischen Spinalparalysen unterscheiden sich meist durch den zeitlichen Verlauf und das eher frühere Erkrankungsalter. Insbesondere die kompressive zervikale Myelopathie und infektiöse Erkrankungen wie HIV, Lues, Borrelien oder HTLV können sowohl Schädigungszeichen des 1. als auch des 2. Motoneurons aufweisen und stellen wichtige Differenzialdiagnosen dar. Bei männlichen Patienten mit Endokrinopathien, insbesondere Zeichen der Androgenrezeptorinsuffizienz und isolierten Schädigungszeichen des 2. Motoneurons, vor allem orofazial, ohne Beteiligung des 1. Motoneurons sollte differenzialdiagnostisch an eine spinobulbäre Muskelatrophie (Kennedy-Syndrom) gedacht werden, bei welcher es sich um eine X-chromosomal vererbte Erkrankung auf Grundlage einer Mutation des Androgenrezeptor-Gens handelt.
Diagnostik Die ALS ist primär eine klinische Diagnose bei Anamnese einer progredienten Symptomatik, Nachweis einer Schädigung des 1. und 2. Motoneurons und Ausschluss anderer Ursachen in Abhängigkeit des klinischen Phänotyps. Ein einzelner Biomarker, mit dem man eine ALS zuverlässig ausschliessen oder bestätigen kann, existiert bislang nicht. Die Diagnose ALS erfolgt gemäss den El-Escorial-Kriterien und deren Revisionen (15, 16). Hierfür werden 4 Regionen definiert: bulbär, zervikal, thorakal und lumbal. Die Diagnose kann je nach klinischer und elektrophysiologischer Beteiligung des 1. und 2. Motoneurons der Regionen in möglich, wahrscheinlich oder definitiv eingeteilt werden. Im vergangenen Jahr wurden die Gold-Coast-Kriterien als neueste Vereinfachung vorgeschlagen (17). Hier wird der Nachweis der Beteiligung des 1. und 2. Motoneurons in einer Region, die Krankheitsprogression von > 1 Jahr und der Ausschluss von Differenzialdiagnosen gefordert. Schädigungszeichen des 2. Motoneurons lassen sich apparativ im Elektromyogramm (EMG) nachweisen, das anhand von Zeichen der akuten Denervation mit Fibrillationen und positiven scharfen Wellen sowie anhand der Reinnerveration mit vergrösserten und verlängerten polymorphen, instabilen Potentialen motorischer Einheiten (PME). Subklinische Zeichen des 1. Motoneurons können sowohl durch die Ableitung von konventionellen, motorisch evozierten Potentialen detektiert werden (18) als auch durch kortikale Schwellenwertbestimmung mittels transkranieller magnetischer Stimulation (19). Während der MRT in der Vergangenheit primär die Rolle des Ausschlusses von Differenzialdiagnosen zukam, konnten in den letzten Jahren durch neuere Entwicklungen von MRT-Sequenzen neue Erkenntnisse gewon-
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nen werden. Die am Universitätsspital Basel entwickelte Radially Sampled (r) Averaged Magnetization Inversion Recovery Acquisitions (AMIRA) Sequenz ist in der Lage, die graue und weisse Substanz im Rückenmark mit hohem Kontrast darzustellen (20, 21) (Abbildung). In einer Untersuchung mit 30 ALS-Patienten und 30 gesunden, alters- und geschlechtsgematchten Kontrollpersonen liess sich bei den ALS-Patienten eine signifikante Atrophie der zervikalen und thorakalen, spinalen grauen Substanz nachweisen (22). Eine akzentuierte Atrophie der grauen Substanz zeigt sich bei Patienten mit einer klinischen Betonung des 2. Motoneurons (Abbildung 1A), während bei Patienten mit einer überwiegenden Beteiligung des 1. Motoneurons zwar auch eine Atrophie nachweisbar war, aber in geringerem Masse (Abbildung 1B).
Therapie Unter Annahme der Hypothese, dass zytotoxische Effekte des exzitatorischen Neurotransmitters Glutamat eine Rolle spielen und Riluzol hemmend auf die durch Glutamat vermittelten Effekte wirkt, ist Rilutek® bereits über 20 Jahre für die Behandlung zugelassen (23–25). Seit Februar 2019 steht ausserdem Edaravone als in der Schweiz zugelassenes intravenöses Medikament zur Verfügung, das als Radikalfänger neuroprotektiv wirken soll (26). Das intrathekal verabreichte Antisense-Oligonukleotid Tofersen (27) führte bei Patienten mit ALS mit SOD1-(Superoxid-Dismutase-1-)Mutation zu einer Reduktion von SOD1-Protein im Liquor. In der darauffolgenden Phase-III-Studie konnte bisher kein Nachweis einer klinischen Verlangsamung der Progression erbracht werden, aber eine signifikante Reduktion der NfL-(Neurofilament-light-chain-)Werte. Therapiestudien für weitere genetische Formen der ALS (C9orf72- und FUS-Mutationen) sind in der Rekrutierungsphase.
Symptomatische/supportive Therapie der verschiedenen Gangstörungen bei ALS-Patienten Neben der medikamentösen Therapie zur Verzögerung der Symptomprogredienz kommt der intensiven Physiotherapie ein grosser Stellenwert zu. Bei der prädominanten schlaffen Parese können verschiedene unterstützende Hilfsmittel zum Zug kommen (Foot-upBandagen für beginnende Fussheberparesen, Heidelberger-Schienen für schwerere Fussheberparesen, ggf. Knieorthesen). Bei fortschreitender Parese kommen je nach Patient und Krankheitsverlauf Gehstöcke, Rollatoren und Rollstühle infrage. Steht die Spastik im Vordergrund, kann diese primär nicht pharmakologisch durch Dehnungsübungen behandelt werden. Viele Patienten erfahren eine gute Symptomlinderung durch Hydrotherapie. Ausserdem stehen zentral wirksame Muskelrelaxanzien wie Tizanidin und Baclofen, Benzodiazepine und Gabapentin zur Verfügung. Bei fokal limitierter Spastik kann die intramuskuläre Injektion von Botulinumtoxin in die betroffenen Muskeln hilfreich sein. Bei generalisierter Spastik kommt auch eine Therapieeskalation mit intrathekaler Baclofengabe infrage. Grundsätzlich muss zu Beginn einer Spastiktherapie beachtet werden, dass es zu einer Gewöhnung der Patienten an den erhöhten muskulären Tonus kommt und es somit zu Gangstörungen und
Abbildung: Axiale 2-D-rAMIRA-MRT des Rückenmarks auf Höhe des lumbalen Enlargements von A) einer ALS-Patientin mit einer bilateralen schlaffen Fussheberparese, B) einer ALS-Patientin mit einer prädominant spastischen Parese der unteren Extremitäten und C) eines gesunden Probanden. Deutlich zu sehen ist die ausgeprägte Atrophie der grauen Substanz, betont an den Vorderhörnen, in den Abbildungen 1A und 1B (in plane Auflösung 0,5*0,5 mm2). (Abbildung: © R. Schläger)
einem erhöhten Sturzrisiko bei Beginn der Tonusreduk-
tion kommen kann. Muskelkrämpfe können teilweise
durch Magnesium oder Chininsulfat (in der Schweiz
off-label) therapiert werden. Ausserdem ist in der
Schweiz Cannabis zur Behandlung von Spastik und
Krämpfen bei ALS zugelassen. Dies bedarf jedoch einer
Sonderbewilligung durch das Bundesamt für Gesund-
heit (BAG).
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Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Regina Schläger Neurologische Klinik und Poliklinik
Universitätsspital Basel Petersgraben 4 4031 Basel
E-Mail: regina.schlaeger@usb.ch
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Merkpunkte:
● Etwa 40% der Patienten mit ALS weisen als Erstmanifestation der Erkrankung eine Gangstörung auf.
● Oft besteht – bei dominanter Beeinträchtigung des 2. Motoneurons – zunächst ein schmerzloser Fallfuss mit typischem kompensatorischem Steppergang. Seltener kann eine spastische Gangstörung bei vorwiegendem Befall des 1. Motoneurons auftreten.
● Beim seltenen «flail leg», einer distal beginnenden schlaffen Parese einer oder beider unteren Extremitäten, liegen lediglich Zeichen der Schädigung des 2. Motoneurons vor.
● Neben der medikamentösen Beeinflussung der Krankheitsprogression durch Riluzol und Edaravone stehen bei Gangstörungen die symptomatischen Therapien mit Antispastika und Hilfsmittelversorgung mittels Schienen, Bandagen, Gehhilfen sowie die regelmässige Physiotherapie im Vordergrund.
● Neuere bildgebende Verfahren können Atrophien der grauen Substanz auch auf Rückenmarksebene nachweisen.
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