Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie & Neurologie 01/2022
Frühe Kindheit – Weichenstellung für das ganze Leben
Die menschliche Entwicklung wird nicht nur durch biologisch verankerte Programme gesteuert, sondern auch durch Umweltfaktoren beeinflusst. Die Bedeutung der frühen Kindheit für das Erleben und Verhalten gehört seit Freud zum festen Wissensrepertoire in der klinisch-psychiatrischen Forschung.
Psychopharmakologische Behandlung und Substanzmissbrauch in Schwangerschaft und Stillzeit
Das Alter von Erstgebärenden steigt in den Industrienationen stetig. Das hat zur Folge, dass immer mehr Frauen mit Kinderwunsch eine bereits bestehende Medikation mit Psychopharmaka haben, denn 75% der psychischen Erkrankungen beginnen vor dem 25. Lebensjahr. Hier stellt sich dann die Frage, wie mit der Medikation in Schwangerschaft und Stillzeit umzugehen ist. Zudem gibt es eine nicht unerhebliche Anzahl an Schwangeren, die Nikotin, Alkohol und auch illegale Suchtmittel konsumieren, mit zum Teil erheblichen negativen Folgen für die Entwicklung des Kindes.
Beziehungsstörungen als Risikofaktoren für die psychosoziale Entwicklung
Der lange Schatten der frühen Jahre
Die Bindungstheorie nach Bowlby und Ainsworth sowie deren Erweiterungen durch die Säuglingsund die Interaktionsforschung stellen wichtige Erkenntnisse hinsichtlich der herausragenden Bedeutung der frühen Eltern-Kind-Beziehung für viele über die Kindheit hinausgehende Aspekte des Erlebens und des Verhaltens sowie für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen bereit. Frühkindliche Deprivationserfahrungen und unsicher-desorganisierte Bindungsmuster sind nicht nur ein Risiko für die Entstehung von Bindungsstörungen, sondern auch für die gesamte psychosoziale Entwicklung. Im Erwachsenenalter finden sich nach frühen aversiven Beziehungserfahrungen ebenfalls Muster aus gehemmtem oder enthemmtem Beziehungsverhalten, beispielsweise im Kontext von Persönlichkeitsstörungen. Es scheint daher wahrscheinlich, dass Bindungsstörungen im Kindesalter, wenn sie nicht frühzeitig durch ein adäquates Beziehungsangebot kompensiert werden, im Verlauf der Adoleszenz die Entstehung einer Persönlichkeitsstörung begünstigen können.
Einfluss geburtsbezogener posttraumatischer Belastungsstörung auf die kindliche Entwicklung
Etwa ein Drittel der Mütter schätzt ihre Geburt als traumatisch ein, unabhängig davon, ob es medizinische Komplikationen gab oder nicht. Ausserdem erleben etwa 60% der Väter die Geburt als belastend. Eine objektiv unkomplizierte Geburt kann von den Eltern somit subjektiv als traumatisch empfunden werden, und beide Eltern können psychische Probleme entwickeln, wie beispielsweise Symptome einer geburtsbedingten posttraumatischen Belastungsstörung (GB-PTBS). Abgesehen von der Belastung für die Mutter, kann eine GB-PTBS nach der Geburt negative Folgen für die ganze Familie haben, inklusive die Entwicklung des Kindes.
Interaktionszentrierte-Eltern-Kind-Therapie-bei-postpartalen-Depressionen-und-Angsterkrankungen1
Bei rund 10% der Mütter ist mit klinisch relevanten Depressionen und Ängsten im Jahr nach einer Geburt zu rechnen. Damit verbunden ist ein Entwicklungsrisiko für die betroffenen Kinder, das nicht zuletzt über eine weniger entwicklungsförderliche Mutter-Kind-Interaktion vermittelt wird. Im ambulanten Bereich gibt es noch zu wenig entsprechende therapeutische Angebote über die rein störungsspezifische Behandlung der Mutter hinaus. Der Artikel bietet einen Überblick zur zentralen Bedeutung der entwicklungsförderlichen Interaktion zwischen Mutter und Kind und zu Vorgehen und Zielen der videogestützten interaktionszentrierten Eltern-Kind-Therapie.
PD Dr. Margarete Bolten – Psychotherapeutin und Forschungsmitarbeiterin, Universitäre Psychiatrische Kliniken, Klinik für Kinder und Jugendliche (UPKKJ), Basel, und Universitätskinderspital beider Basel (UKBB)
PD Dr. Margarete Bolten hat eine Mission. Sie setzt sich mit grosser Leidenschaft dafür ein, kleinen Kindern mit Problemen eine bessere Entwicklung zu ermöglichen. Und hilft dabei auch den Eltern.
Wenn es nicht mehr läuft – Gangstörungen als Leitsymptom neurologischer Erkrankungen
Während die ersten Schritte eines Kindes noch Begeisterungsstürme hervorrufen, wird das Gehen innert kürzester Zeit zu einer Selbstverständlichkeit und gleichzeitig zu einer der elementarsten Funktionen beim Menschen. Das Gehen ist jedoch ein hochkomplexer Vorgang, der auf einer präzisen Steuerung unserer Nerven, unserer Muskulatur und unserer Sinnesorgane sowie des Skelettsystems und der Gelenke basiert.
Klinische instrumentierte Ganganalyse – Das Gangbild in Zahlen
Die instrumentierte Ganganalyse ist eine funktionelle Untersuchung des Bewegungsapparats und ermöglicht die objektive Quantifizierung des Gangbilds. In der klinischen Anwendung unterstützt sie die Beurteilung der Ausgangssituation vor einer Behandlung, beispielsweise als Überprüfung von Operationsindikationen. Sie dient auch zur Evaluation operativer Eingriffe oder konservativer Therapien, zum Beispiel orthopädischer Hilfsmittel. Des Weiteren hilft die instrumentierte Ganganalyse bei der individuellen Therapieplanung oder bei frühzeitiger Erkennung von Gangbildverschlechterungen. Die Daten können sowohl mit einem Normalkollektiv als auch vor und nach einer Behandlung miteinander verglichen werden. Somit ermöglicht die instrumentierte Ganganalyse eine Beurteilung des Defizits und der Kompensationsmechanismen eines Patienten.
Gangstörungen bei Multipler Sklerose
Bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) sind Gangstörungen aufgrund des Befalls von funktionell strategischen Regionen des zentralen Nervensystems eine sehr häufige Problematik. Sie zeigen – wie die Krankheit selbst – eine grosse Heterogenität und manifestieren sich individuell mit unterschiedlichen Mustern. Die Beurteilung der Gangstörung bei MS-Patienten erfolgt prinzipiell mit der klinisch-neurologischen Untersuchung, kann aber heutzutage präziser und umfangreicher mithilfe von digitalen Geräten erfasst und beurteilt werden. Zur Therapie der Gangstörungen bei MS-Patienten dienen sowohl medikamentöse Behandlungen als auch die Neurorehabilitation sowie die Anwendung von verschiedenen Hilfsmitteln.
Gangstörungen bei Amyotropher Lateralsklerose
Etwa 40% der Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) weisen als Erstmanifestation der Erkrankung eine Gangstörung auf. Häufig besteht – bei dominanter Beeinträchtigung des 2. Motoneurons – zunächst ein schmerzloser Fallfuss mit kompensatorischem Steppergang. Andererseits kann bei dominanter Beeinträchtigung des 1. Motoneurons auch eine Spastik im Vordergrund stehen und zu einer spastischen Gangstörung führen. Beim seltenen «flail leg», einer distal beginnenden schlaffen Parese einer oder beider unterer Extremitäten, liegen lediglich Zeichen der Schädigung des zweiten Motoneurons vor. Die Diagnose ALS erfolgt bei Fehlen verlässlicher diagnostischer Biomarker primär klinisch und setzt eine sorgfältige Ausschlussdiagnostik voraus, die an die jeweilige klinische Präsentation zu adaptieren ist. Die klinisch heterogenen Erstpräsentationen können den Diagnoseprozess erschweren und verzögern. Neben der medikamentösen Beeinflussung der Krankheitsprogression durch Riluzol und Edaravone stehen bei Gangstörungen die symptomatischen Therapieansätze mit Antispastika und Hilfsmittelversorgung im Vordergrund. Neuere Entwicklungen der Magnetresonanztomografie können Atrophien der grauen beziehungsweise der weissen Substanz auf Ebene des Rückenmarks bei Patienten mit ALS und schlaffen oder spastischen Gangstörungen identifizieren und in der Zukunft gegebenenfalls zum Diagnoseprozess beitragen.
PD Dr. med. Katrin Parmar – Leitende Ärztin, Reha Rheinfelden
PD Dr. med. Katrin Parmar ist seit letztem Sommer Mitherausgeberin von P + N. Die passionierte Neurologin ist nicht wegen des Fachs in die Schweiz gekommen, aber deswegen geblieben.
Therapie von Angsterkrankungen – Neue Behandlungsempfehlungen der SGAD
Für die häufigsten psychiatrischen Angsterkrankungen hat die Schweizer Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) die Therapieempfehlungen überarbeitet und neu aufgelegt. Dr. Joe Hättenschwiler, Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung, Zürich, und Vorstandsmitglied der SGAD, hat anlässlich des virtuellen FOMFExpertenforums Psychiatrie & Psychotherapie Update erklärt, was sich geändert hat.
Virtueller ECTRIMS-Kongress 2021 – Digitaler Wissenstransfer zur Multiplen Sklerose
Für den 37. Kongress des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) hatten sich rund 9000 Teilnehmende und 200 Referentinnen und Referenten aus 100 Ländern angemeldet. Die verschiedenen Sitzungen boten Gelegenheit, sich über den aktuellen Stand der Wissenschaft in den unterschiedlichsten Bereichen der Multiplen Sklerose zu informieren.
Geben Antidepressiva während der Schwangerschaft schlechte Matheschüler?
Weitere Meldungen:
– Multiple Sklerose durch das Epstein-Barr-Virus – kommt die MS-Impfung?
– Buchtipp: «Zwangsstörung: Grundlagen – Formen – Interventionen»
– Kombination von Kaffee und Tee senkt Hirnschlag- und Demenzrisiko
In diesem Heft
Psychiatrie
Editorial
Fortbildung
- Psychopharmakologische Behandlung und Substanzmissbrauch in Schwangerschaft und Stillzeit
- Beziehungsstörungen als Risikofaktoren für die psychosoziale Entwicklung
- Einfluss geburtsbezogener posttraumatischer Belastungsstörung auf die kindliche Entwicklung
- Interaktionszentrierte-Eltern-Kind-Therapie-bei-postpartalen-Depressionen-und-Angsterkrankungen1
Portrait
Neurologie
Editorial
Fortbildung
- Klinische instrumentierte Ganganalyse - Das Gangbild in Zahlen
- Gangstörungen bei Multipler Sklerose
- Gangstörungen bei Amyotropher Lateralsklerose
Portrait
Kongress aktuell
- Therapie von Angsterkrankungen - Neue Behandlungsempfehlungen der SGAD
- Virtueller ECTRIMS-Kongress 2021 - Digitaler Wissenstransfer zur Multiplen Sklerose