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FORTBILDUNG
Schlaf und psychische Gesundheit
Wie Patienten lernen, ihren Schlaf selbst zu verbessern
Schlaf und psychische Gesundheit sind eng miteinander verknüpft. Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen oder Früherwachen (Insomnie) sind bei Patienten mit psychischen Erkrankungen verbreitet und oft mit einem schlechteren Verlauf der psychischen Erkrankung verbunden. Die kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie (KVT-I) ist die Therapie der Wahl bei Insomnie, wird jedoch nicht systematisch in der stationären psychiatrischen Versorgung umgesetzt. «SLEEPexpert» ist ein verhaltenstherapeutisches Programm für Insomnie mit dem Ziel, Patienten mit akuten psychischen Erkrankungen in die Lage zu versetzen, ihren Schlaf selbst zu verbessern.
Foto: zVg
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Carlotta Schneider Elisabeth Hertenstein Christoph Nissen
von Carlotta Schneider1, Elisabeth Hertenstein1 und Christoph Nissen1
Hintergrund
E ine Schlafstörung in Form einer Insomnie wird durch Einschlafschwierigkeiten, Durchschlafschwierigkeiten oder frühmorgendliches Erwachen in Verbindung mit einer beeinträchtigten Tagesfunktion über einen Zeitraum von mindestens 3 Monaten definiert (1). Besonders davon betroffen sind Patienten mit psychischen Erkrankungen. Mehr als zwei Drittel dieser Patienten leiden unter insomnischen Beschwerden, und zirka ein Drittel erfüllt die diagnostischen Kriterien für eine komorbid vorliegende Insomnie (2). Oft ist eine Wechselwirkung von psychischer Erkrankung und Insomnie vorhanden. So sind insomnische Beschwerden ein häufiges Symptom bei psychischen Erkrankungen. Umgekehrt haben Menschen, die unter chronischer Insomnie leiden, ein erhöhtes Risiko, eine psychische Erkrankung zu entwickeln (3), und eine Insomnie kann den Verlauf einer psychischen Erkrankung verschlechtern. Bei Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen sind schlafanstossende Medikamente in der akuten Erkrankungsepisode in der Behandlung oft notwendig, jedoch sind sie häufig mit Toleranzentwicklung, dem Risiko für eine Abhängigkeit und Nebenwirkungen verbunden. Gemäss aktuellen Leitlinien ist die kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie (KVT-I) die Therapie der Wahl bei chronischer Insomnie, auch bei Patienten mit komorbiden psychischen Erkrankungen (4).
Kognitive Verhaltenstherapie bei Insomnie (KVT-I) Die KVT-I ist ein umfangreiches Programm, bestehend aus Psychoedukation, kognitiver Therapie, verhaltens-
1 Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD), Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
therapeutischen Interventionen und Entspannungsverfahren. Im Rahmen der Psychoedukation wird Grundlagenwissen zu Schlaf vermittelt. Die kognitive Therapie zielt darauf ab, dysfunktionale Gedanken, die das Einschlafen behindern, zu identifizieren und einen besseren Umgang damit zu erlernen. Als wichtigste einzelne Komponente wurde die verhaltenstherapeutische Intervention der Bettzeitrestriktion identifiziert (5). Hier wird die Bettzeit an die Schlafzeit angepasst, um Wachzeiten im Bett zu reduzieren und den Schlafdruck zu erhöhen. Die progressive Muskelrelaxation, als Beispiel für ein Entspannungsverfahren, dient der bewussten Wahrnehmung von Anspannung und Entspannung und kann dazu beitragen, Schlaf zu verbessern. Die KVT-I wurde initial für Patienten mit primärer Insomnie, also Insomnie ohne weitere Erkrankungen, entwickelt. Das umfangreiche Therapieprogramm wurde bereits auf verschiedene Behandlungsgruppen mit Wirksamkeitsnachweis zugeschnitten (6). Es gibt derzeit jedoch erst wenige Studien zur Umsetzung und Wirksamkeit der KVT-I im akutpsychiatrischen Setting. Die KVT-I ist als mehrwöchiges Behandlungsprogramm oft zu komplex für Patienten mit akuten psychischen Erkrankungen und in den Stationsalltag schwierig zu integrieren. Das Programm «Become your own SLEEPexpert®» für Patienten mit akuten psychischen Erkrankungen bietet eine Möglichkeit, die Therapie der Wahl bei Insomnie in die stationäre psychiatrische Versorgung zu integrieren.
«SLEEPexpert» «Become your own SLEEPexpert®» zielt darauf ab, Patienten mit akuten psychischen Erkrankungen in die Lage zu versetzen, ihren Schlaf selbst zu verbessern. Das Programm wurde in einem implementationswissenschaftlichen Prozess zusammen mit Patienten und Behandlungsteams der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) Bern entwickelt und an die Bedürfnisse
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der genannten Gruppen und den Klinikalltag angepasst. Das Programm fokussiert auf Psychoedukation und die Erarbeitung eines individuellen Schlaffensters und ist in 3 Phasen gegliedert.
Phase 1: Die Indikation wird durch einen Psychotherapeuten oder Arzt gestellt und basiert auf der subjektiv berichteten Schlafstörung des Patienten. In einer Kick-off-Veranstaltung im Gruppensetting wird wichtiges Grundlagenwissen zur Schlafregulation von Psychologen oder Ärzten in einfacher Form vermittelt. Hier wird auf zwei Prozesse der Schlafregulation fokussiert. Patienten lernen im ersten Prozess, dass über den Aufbau von Schlafdruck, der die körperlich bedingte Schläfrigkeit beschreibt, im Sinne eines homöostatischen Prozesses Schläfrigkeit erzeugt und somit das Schlafen erleichtert werden kann. Zur einheitlichen Vermittlung vergleichen wir den Aufbau des Schlafdrucks mit dem Aufbau einer Welle beim Surfen (Abbildung, linkes und mittleres Bild). Der Surfer kann nur surfen, wenn die Welle genügend aufgebaut ist, genauso wie eine genügend lange Wachphase notwendig ist, um ausreichend Schlafdruck für nachfolgenden Schlaf aufzubauen. Die Vermeidung von Tagschlaf und verlängerten Bettzeiten wird den Patienten empfohlen, um genügend Schlafdruck aufbauen zu können. Der zweite Prozess beschreibt eine ergänzende zirkadiane (tageszeitliche) Komponente, unseren Chronotyp. Hier wird zwischen Frühtypen («Lerchen») und Spättypen («Eulen») unterschieden und bestimmt, wann Patienten individuell am besten einschlafen können. Das rechte Bild in der Abbildung zeigt hierzu einen Surfer, der trotz fehlenden Wellengangs versucht zu surfen. Symbolisch zeigt es einen Patienten, der zu einer individuell ungeeigneten Zeit im Bett ist. Patienten mit psychischen Erkrankungen berichten oft über eine hohe Diskrepanz zwischen Bettzeit und Schlafzeit. So berichten viele Patienten von einer Bettzeit von über 10 Stunden, meist mit einer niedrigen Schlafeffizienz (Verhältnis von Schlafzeit zu Bettzeit). Zum Aufbau eines ausreichenden Schlafdrucks wird die Bettzeit an die aktuelle Schlafzeit angepasst. Diese Bettzeit ist meist deutlich kürzer. Weiterhin wird die Bettzeit in Abstimmung mit den Patienten an den individuellen Chronotyp angepasst. Abschliessend wird ein individuelles Schlaffenster mit jedem einzelnen Patienten festgelegt und in der elektronischen Patientenakte verschrieben. Es ist anzumerken, dass das Schlaffenster anhand der subjektiv berichteten Bett- und Schlafzeit erarbeitet wird. Hierzu bedarf es keiner Messung.
Phase 2: Eigenmanagement mit Unterstützung. Patienten füllen ab der Kick-off-Veranstaltung ein Schlaftagebuch aus und werden durch regelmässige Kurzkontakte vom Behandlungsteam dabei unterstützt, ihr individuelles Schlaffenster umzusetzen und die gewonnene Zeit am Abend und am Morgen wertvoll zu gestalten. Das Schlaffenster kann bei einer hohen Schlafeffizienz, wenn die Bettzeit über 90 Prozent mit Schlaf verbracht wird, verlängert werden, mit dem Ziel, den individuellen Schlafbedarf zu decken. Besteht weiterhin eine niedrige Schlafeffizienz (unter 90%), kann das Schlaffenster auf ein Minimum von 5 Stunden verkürzt werden.
Abbildung: Bild eines Surfers zur Veranschaulichung der Prozesse zur Schlafregulation. Das linke Bild zeigt eine hohe Welle, die genügend aufgebaut ist für einen erfolgreichen Wellenritt. Im übertragenen Sinne steht das für einen ausreichend aufgebauten Schlafdruck, der für den Schlaf notwendig ist. Das Bild in der Mitte hingegen zeigt eine Person, die noch nicht surfen beziehungsweise schlafen kann, da die Welle beziehungsweise der Schlafdruck noch nicht genügend aufgebaut ist. Das rechte Bild zeigt einen Surfer, der zu einer Zeit zu surfen versucht, zu der gar keine Wellen da sind. Dieses Szenario ist vergleichbar mit dem einer Person, die zu einer Zeit im Bett ist, die für den individuellen Chronotyp ungeeignet ist (Grafik: [7]).
Phase 3: Eigenmanagement. Nach Begleitung durch das Behandlungsteam lernen Patienten, ihr Schlaffenster eigenständig umzusetzen und gegebenenfalls anzupassen. Unsere erste Evaluation des Programms zeigt, dass eine Implementierung und Umsetzung im Klinikalltag für Patienten mit akuten psychischen Erkrankungen möglich ist (7). Befragungen mit Patienten und Behandlungsteams zeigen, dass oft eine nicht medikamentöse Behandlung von Insomnie bevorzugt wird und dass das Programm das Verständnis zum Thema Schlaf verbessert hat. Das Schlaffenster wurde als hilfreichste Therapiekomponente bewertet, und Patienten berichten über eine reduzierte Sorge um das Einschlafen. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse, dass Patienten die verkürzten Bettzeiten oft einhalten können und es insgesamt zu einer Verlängerung der Schlafdauer kommt. Ein Wirksamkeitsnachweis steht nach Abschluss einer Entwicklungs-, Implementierungs- und ersten Evaluationsphase aus und wird derzeit in einer randomisierten, kontrollierten Studie zum Programm untersucht. Gemäss unserer Einschätzung ist das Programm diagnoseübergreifend für Patienten mit psychischen Erkrankungen und komorbid vorliegender Insomnie indiziert. Hervorzuheben ist, dass das Programm nicht auf eine Reduktion der Schlafdauer abzielt, sondern primär überlange Bettzeiten reduziert und somit zu einer besseren Konsolidierung von Schlaf führt. Wichtig ist, dass das Schlaffenster nicht unter 5 Stunden verkürzt werden sollte und dass insbesondere bei Patienten mit bipolaren oder psychotischen Störungen, bei denen Schlafentzug zu Phasenwechseln beziehungsweise Exazerbation der Symptomatik führen kann, ein vorsichtiges Vorgehen und engmaschiges Monitoring indiziert sind.
Zusammenfassung «Become your own SLEEPexpert®» bietet eine neu zugeschnittene schlafzentrierte Intervention mit dem Potenzial, Schlaf bei Patienten mit akuten psychischen Erkrankungen zu verbessern. Der stationäre Aufenthalt ist eine Gelegenheit, Patienten mit akuten psychischen Erkrankungen zu erreichen, die sonst schwer zu unterstützen sind, und langfristige Verschreibung von Schlafmitteln zu reduzieren. Derzeit wird eine randomisierte Studie zum Programm durchgeführt, um die Wirksam-
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keit zu testen. Weiterhin laufen Entwicklungen, um in Zukunft das Eigenmanagement mit einer Smartphone-App zu unterstützen. Angesichts der erheblichen Belastung durch psychische Erkrankungen und komorbide Insomnie ist die gezielte Behandlung von Insomnie zur Verbesserung der klinischen Versorgung von besonderem Interesse. Weiterhin könnte das Programm auch auf andere Behandlungssettings und an-
Merkpunkte:
● Mehr als zwei Drittel der Patienten mit psychischen Erkrankungen leiden unter insomnischen Beschwerden, und zirka ein Drittel erfüllt die Diagnosekriterien für eine komorbid vorliegende Insomnie.
● Gemäss aktuellen Leitlinien ist die kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie (KVT-I) die Therapie der Wahl bei chronischer Insomnie auch bei Patienten mit komorbider psychischer Erkrankung.
● «Become your own SLEEPexpert®» ist ein verhaltenstherapeutisches Programm, das auf KVT-I basiert und in einem implementationswissenschaftlichen Prozess zusammen mit Patienten und Behandlungsteams der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) Bern entwickelt und an die Bedürfnisse der genannten Gruppen und den Klinikalltag angepasst wurde.
● «Become your own SLEEPexpert®» zielt darauf ab, Schlaf zu verbessern, die langfristige Verschreibung von Schlafmitteln zu reduzieren und möglicherweise auch andere Gesundheitsparameter zu verbessern.
● Weitere Untersuchungen mit Kontrollgruppen sind notwendig, um die Wirksamkeit des Programms weiter zu prüfen.
dere Fachgebiete, wie zum Beispiel Insomnie nach
Schlaganfall im Bereich der Neurologie, übertragen wer-
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Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Christoph Nissen
Chefarzt, stv. Direktor Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD) Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Bolligenstrasse 111 3000 Bern 60
E-Mail: christoph.nissen@upd.ch
Förderung Die aktuelle Entwicklung wurde vom Klinikfonds der Universitäten Psychiatrischen Dienste (UPD) Bern unterstützt.
Referenzen: 1. American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual
of Mental Disorders (DSM-5R). American Psychiatric Pub. 2013. doi:10.1176/appi.books.9780890425596 2. Seow LSE et al.: Evaluating DSM-5 Insomnia disorder and the treatment of sleep problems in a psychiatric population. J Clin Sleep Med. 2018;14(2):237-244. doi: 10.5664/jcsm.6942 3. Baglioni C et al.: Insomnia as a predictor of depression: a metaanalytic evaluation of longitudinal epidemiological studies. J Affect Disord. 2011;135(1-3):10-19. doi: 10.1016/j.jad.2011.01.011. 4. Riemann D et al.: European guideline for the diagnosis and treatment of insomnia. J Sleep Res. 2017;26(6):675-700. doi: 10.1111/ jsr.12594 5. Trauer JM et al.: Cognitive behavioral therapy for chronic insomnia: a systematic review and meta-analysis. Ann Intern Med. 2015;163(3):191-204. 6. Troxel WM et al.: Clinical management of insomnia with brief behavioral treatment (BBTI). Behav Sleep Med. 2012;10(4):266-279. 7. Schneider CL et al.: Become Your Own SLEEPexpert: Design, Implementation and Preliminary Evaluation of a Pragmatic Behavioral Treatment Program for Insomnia in Inpatient Psychiatric Care. SLEEP Advances 2020. doi: 10.1093/sleepadvances/zpaa005
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