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E D I T O R I A L Koma und gestörtes Bewusstsein
M it offenen Augen liegt er im Bett, er atmet ruhig und entspannt, der Blick geht ins Leere. Er bewegt sich nicht: nicht, als sein bester Freund zu Besuch kommt, nicht, als das Lieblingslied aus dem CD-Spieler ertönt, nicht, als der Krankenpfleger den Verbandswechsel macht. Keine Mimik, kein Wort. Er blickt mit offenen Augen in die Welt.
Aber – was er wahrnimmt, wissen wir nicht. Ob er denkt, bleibt ungewiss. Was er fühlt, können wir nur versuchen zu erspüren. Wache Momente im Alltag eines jungen Wachkomapatienten, wie sie auf der Spezialstation in der REHAB Basel unzählige Male vorkommen. Dennoch werden sie niemals alltäglich.
Die Behandlung von Menschen mit schweren Bewusstseinsstörungen ist eine grosse und bleibende Herausforderung für jeden Einzelnen im medizinisch-therapeutischen Behandlungsteam. Schwere Bewusstseinsstörungen kommen in unterschiedlichen Stadien vor: Das Syndrom der reaktionslosen Wachheit (unresponsive wakefulness syndrome, UWS) und das Syndrom des minimalen Bewusstseins (minimally conscious state, MCS) zeigen sich im klinischen Alltag bei Betroffenen nach einer schweren Schädigung des Gehirns (1). Beide Grosshirnhemisphären sind in diesem Fall strukturell geschädigt, das intakt gebliebene, aufsteigende Aktivierungssystem in der Formatio reticularis des Hirnstamms sorgt dagegen für Wachheit. Tritt die erhoffte klinische Verbesserung der Bewusstseinsstörung ein, ist das oft ein gradueller langsamer Prozess mit vielen feinen Zwischenstufen, der in einem aufmerksamen Behandlungsteam beobachtet, gefordert und gefördert werden muss. Beim UWS zeigt der Betroffene keine erkennbare, bewusste Reaktion auf äussere Reize. Hingegen gibt es beim MCS wiederholte und verlässliche Kommunikationszeichen auf basaler Ebene: eine Blickfixation oder Folgebewegung mit den Augen, gezielte Blinzelbewegungen der Augen oder ein leichter Händedruck. Das sind oft kleinste Signale, welche als Basis für einen einfachen Austausch zwischen
dem Patienten und seiner Umwelt dienen können, der Beginn eines einfachen Kommunikationscodes.
Mit einer Prävalenz von 1 bis 2 pro 100 000 Einwohner pro Jahr ist die Anzahl hospitalisierter Patienten mit UWS/MCS in Europa recht tief. Die häufigste Ursache für eine persistierende schwere Bewusstseinsstörung ist in einem Drittel aller Fälle ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, die verbleibenden zwei Drittel werden durch Erkrankungen verursacht, führend dabei sind schwere Hirnblutungen oder Schlaganfälle und die hypoxische Enzephalopathie (2).
Wie lassen sich Bewusstsein und Bewusstseinsstörungen messen? Im vergangenen Jahrzehnt haben prospektive Beobachtungsstudien und der Einsatz neuer elektrophysiologischer und bildgebender Verfahren wichtige Erkenntnisse zu Diagnose und Prognose von Patienten mit schweren Bewusstseinsstörungen nach Hirnschädigungen geliefert (3). Welche Assessments sind aber im klinischen Alltag der Intensivstation, der Akutversorgung und der Frührehabilitation brauchbar? Die Glasgow Coma Scale (GCS) hat als Bedside-Assessment in der orientierenden Erst- und Verlaufseinschätzung einen klaren Stellenwert erlangt. Die Coma-Remissions-Skala (CRS) gibt dem Untersucher darüber hinaus differenzierter Aufschluss über eine fassbare Reizantwort auf vordefinierte auditorische, visuelle und taktile Stimulation und ist überdies geeignet, über die Verlaufsbeobachtung auch Hinweise zur Prognose zu machen (4). Dennoch – im klinischen Alltag der Rehabilitation führt die enge 24h-Begleitung und Pflege des Betroffenen im interprofessionellen Behandlungsteam zu sehr wertvollen Eindrücken seiner Reaktionsweisen, die im punktuellen Bedside-Test allzu leicht untergehen können.
Mit dem im REHAB Basel entwickelten Basler Vegetative State Assessment (BAVESTA) geht es im ersten Beitrag von Marion Huber um ein interprofessionell einsetzbares, strukturiertes und skaliertes Beobachtungstool, das es erlaubt, feine, graduelle Veränderungen beim Patienten mit schwersten
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
Foto: zVg
Margret Hund-Georgiadis
FORTBILDUNG
Bewusstseinsstörungen zu erfassen. Vegetative Steuerung, nonverbale und verbale Kommunikation werden hier ebenso nach klaren Vorgaben bewertet wie motorische, visuelle und auditorisch getriggerte Reaktionen. Der interprofessionelle Ansatz ermöglicht es dem Team, im Feintuning der rehabilitativen Zielsetzung Prioritäten zu setzen und den Therapiefokus entlang der Fortschritte massgeschneidert für die betroffenen Patienten anzupassen.
Wach werden und reagieren, das sind die wichtigsten Paradigmen der Frührehabilitation bei UWS. Gerade in der Phase der Erstrehabilitation nach einer schweren strukturellen Hirnschädigung liegt der medizinische Fokus jedoch oft auf den Themen Atmung, Dysphagie, Epilepsie, Ernährung und etwaige Komplikationsbehandlung. Die systematische Reduktion von jeglichen sedierenden Medikamenten, allen voran Antiepileptika und Antispastika, erfolgt oft zu zögerlich, die gezielte pharmakologische Stimulation des Wachwerdens dadurch oft erst mit wochenlanger Verspätung. Diesen Aspekt greift die Arbeit von Christian Saleh auf und stellt – im Abgleich mit der aktuellen Studienlage – den Basler pharmakologischen Aktivierungspfad vor. Er soll Mut machen für eine systematische, aktivierende Behandlung und eine pharmakologische Restriktion von Medikamenten mit sedierender Wirkung in einer möglichst frühen Phase der Erstrehabilitation von UWS und MCS.
Um Aktivierung und das Ansprechen aller Sinne geht es im letzten Beitrag von Rahel Marti und Karin Hediger. Die Animal-Assisted Therapy (AAT) hat inzwischen ihren festen Platz im Behandlungsregime von Menschen mit schweren Bewusstseinsstörungen erlangt. Der oft eher spielerisch und nicht primär leistungsorientiert anmutende Therapieansatz schafft Lernschauplätze und erleichtert die Reaktionsfähigkeit. Betroffene sind oft mit grosser Motivation länger bei der Sache, das heisst, sie können länger beim Therapietier verweilen und im Umgang mit ihm wieder selbst zu Akteuren werden. l
Korrespondenzadresse: PD Dr. med Margret Hund-Georgiadis
Chefärztin und Medizinische Leiterin REHAB Basel
Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie Im Burgfelderhof 40 4055 Basel
E-Mail: m.hund@rehab.ch
Referenzen: 1. Laureys S et al.: Unresponsive wakefulness syndrome: a new name
for the vegetative state or apallic syndrome. BMC Med. 2010;8(1):68. 2. von Wild K et al.: The vegetative state – a syndrome in search of a
name. J Med Life. 2012;22;5(1):3-15. 3. Bender A et al.: Persistent vegetative state and minimally conscious
state – a systematic review and meta-analysis of diagnostic procedures. Dtsch Arztebl Int. 2015;112:235-242. 4. Lucca LF et al.: Outcome prediction in disorders of consciousness: the role of coma recovery scale revised. BMC Neurol. 2019; 18;19(1):68.
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