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E D I T O R I A L Insomnie von verschiedenen Seiten
angehen
I nsomnische Beschwerden, das heisst Ein- oder Durchschlafstörungen und damit verknüpfte Beeinträchtigungen am Tag, gehören zu den häufigsten Gesundheitsbeschwerden weltweit und treten häufig zusammen mit neuropsychiatrischen Erkrankungen auf.
Aus wissenschaftlicher Perspektive ist für die Bereiche Neurologie und Psychiatrie von besonderem Interesse, dass Schlaf – Arbeiten der letzten Jahre folgend – wichtig für grundlegende Gehirnfunktionen ist. So trägt Schlaf dazu bei, neue informationstragende Verknüpfungen zwischen Nervenzellen zu stärken und andere unspezifisch entstandene Verknüpfungen zu mindern. Das ist wichtig für die Verfestigung und die Schärfung neuer Gedächtnisspuren unter Beibehaltung der Gesamtstärke von Nervenzellverbindungen (synaptische Plastizität).
Des Weiteren begünstigt Schlaf die Reinigung des Gehirns von anfallenden schädlichen Stoffwechselprodukten über ein neuer beschriebenes glymphatisches System. Damit gemeint ist ein perivaskuläres, durch Gliazellen gebildetes System, dem im Gehirn die Funktion des peripheren, im Gehirn fehlenden Lymphsystems zugeschrieben wird. Sowohl synaptische Plastizität als auch Reinigung des Gehirns sind fundamentale Funktionen, die durch Schlaf begünstigt werden. Ein besseres Verständnis im Kontext von Alterungsprozessen, Neurodegeneration und neuropsychiatrischen Erkrankungen ist von grossem Interesse.
dern ein Risikofaktor für die Entstehung und ein Faktor für einen ungünstigen Verlauf zahlreicher neuropsychiatrischer Erkrankungen, wie zum Beispiel Schlaganfall oder Depression.
Hervorzuheben ist hier, dass gemäss allen nationalen und internationalen Leitlinien gegenwärtig die kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie (KVT-I) die Therapie der Wahl ist, nicht die Behandlung mit Hypnotika. Das liegt an der langfristig besseren Wirksamkeit und am Wirkverlust der klassischen Hypnotika mit dem Risiko für eine Abhängigkeitsentwicklung und für negative Wirkungen, beispielsweise eine Hemmung synaptischer Plastizitätsprozesse durch Benzodiazepine oder Benzodiazepinrezeptoragonisten.
Derzeit laufen Anpassungen der KVT-I für den breiteren klinischen Einsatz im Bereich der Neurologie und Psychiatrie. Eine bessere Implementierung und Verbreitung angepasster Formen der KVT-I könnten zu einer Minderung der Überverschreibung von Hypnotika und zu einer besseren Gesundheitsversorgung in den Bereichen Neurologie und Psychiatrie beitragen.
In der vorliegenden Ausgabe erhalten Sie eine Übersicht über den aktuellen Stand in Diagnostik und Behandlungsplanung, in der Hypnotikatherapie und zu einem verhaltenstherapeutischen Programm bei Insomnie.
Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen
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Aktuell laufen mehrere Forschungsarbeiten, die Schlaf mit nicht invasiven Verfahren wie beispielsweise der auditorischen Closed-Loop-Stimulation modulieren und testen, inwieweit sich damit auch die genannten Funktionen von Schlaf beeinflussen lassen.
Aus klinischer Perspektive ist es wichtig, dass Insomnie oft nicht ein einfaches Begleitsymptom ist, son-
Prof. Dr. med. Christoph Nissen Chefarzt, stv. Direktor
Universitäre Psychiatrische Dienste Bern (UPD) Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Bolligenstrasse 111 3000 Bern 60
E-Mail: christoph.nissen@upd.ch
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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Foto: zVg
Christoph Nissen