Transkript
Wie Betroffene zu Genesungsbegleitern werden
Recovery – persönlich
FORTBILDUNG
Foto: zVg
Recovery ist etwas zutiefst Persönliches. Der Autor beschreibt aufgrund seiner 20-jährigen Geschichte mit der Psychiatrie seinen persönlichen Recovery-Weg und was dabei besonders bedeutsam für ihn war. Er stellt wichtige Inhalte der Peer-Weiterbildung und seine jetzige Arbeit als Peer vor.
Martin Born
Informationen zu Recovery bei Pro Mente Sana https://www.rosenfluh.ch/qr/ recoverypromentesana
von Martin Born
M artin Born hat im Rahmen seiner Peer-Weiterbildung die «Recovery-Fundamente» bei Pro Mente Sana besucht. Er arbeitet seit seinem Peer-Abschluss im November 2016 unter anderem als Redaktionsbegleiter für Radio loco-motivo beider Basel, als Peer-Berater bei der Stiftung Pro Mente Sana und in der Stiftung Satis mit Gruppenangeboten. Zudem ist er bei vielfältigen Projekten engagiert: Zum Beispiel bietet er DJ-Kurse an, hält Referate und unterrichtet Pflegedienstleistende als Selbstvertreter. Mit seiner Firma egaloid concepts setzt er sich zudem für Gleichwertigkeit ein und berät Betroffene und Angehörige. Des Weiteren engagiert er sich im Vorstand des Vereins Selbstvertretung psychische Gesundheit. Sein RecoveryWeg begann vor 13 Jahren.
Psychose 2008 Die Wurzel meiner heutigen Recovery liegt in meiner vierten Psychose im Jahr 2008. Damals hatte ich mich in meiner Basler Zweizimmerwohnung über mehrere Tage eingeschlossen. Ich habe tagelang geschrien und alles verflucht, kaum gegessen und fast nicht geschlafen, habe manisch geschrieben und einen Aufzählungstext entwickelt (1), der mich immer hektischer und getriebener werden liess. Nicht dass das Schreibsystem den Auslöser für dieses Getriebensein darstellte, er war mehr Ausdruck des Getriebenseins. Diese kräftezehrenden drei Tage der Entbehrungen mündeten in die Gründung meiner Firma egaloid concepts (2) und noch in der gleichen Nacht in die geglaubte Umkehrung der Zeit und die damit folgerichtige Erlösung der Welt. Weitverzweigte Fantasien, zum Teil unterfüttert von Halluzinationen, liessen mich noch lange Jahre in dem Glauben, dass alles gut sei, weil ich die Welt gerettet hätte. Mit dieser Psychose ist aber etwas mit mir passiert, weil die wahnhaften Geschehnisse zum ersten Mal einen Sinn ergaben und nicht diese grossen Fragezeichen nach dem Sinn des Erlebten hinterlassen haben wie in früheren Jahren. Dieses Erlebnis legte den Grundstein und war Kernthema meiner eigenen Recovery: das Versöhnen mit der eigenen Geschichte, der eigenen Beeinträchtigung und die Erkenntnis darüber, welche Kraft das mit sich bringt, wenn einem das gelingt. Und das 8 Jahre bevor ich das erste Mal von Recovery gehört hatte.
Berufliche Umorientierung 2012 Im Jahr 2012 verlor ich meine Anstellung als Tontechniker in einem mittelgrossen Veranstaltungsbetrieb wegen wiederkehrender Absenzen infolge akuter Angstzustände, vermutlich ausgelöst durch Alkoholund Nikotinentzug. Ich hatte in meiner Zeit als Tontechniker fünf Psychosen erlebt und machte Arbeitsbedingungen wie Stress, Nachtarbeit sowie das stete Arbeiten in verdunkelten Räumen mitverantwortlich für meine wiederkehrenden Krisen. Ich wollte mich also beruflich neu orientieren. Der Berufsberater empfahl mir eine Tätigkeit im Arbeitsagogikumfeld. Ich besuchte also eine Werkstätte einer befreundeten Arbeitsagogin auf dem Areal der Universitären Psychiatrischen Klinik (UPK) Basel, wo ich zum ersten Mal von der Peer-Weiterbildung hörte. Sie fragte mich, ob das vielleicht etwas für mich wäre. 4 Jahre bevor ich von Recovery gehört habe.
Peer-Weiterbildung 2015/2016 Ich startete also die Peer-Weiterbildung von Pro Mente Sana im Jahr 2015 in der psychiatrischen Klinik Königsfelden. Diese Klinik war der Ort meiner Hospitalisierung während der ersten Psychose im Jahr 2001. Damals hatte ich die Medikation verweigert, um sogleich 48 Stunden fixiert und zwangsmediziert zu werden. Ich kehrte also eher mit gemischten Gefühlen an den Ort dieser traumatischen Erlebnisse zurück. Der Unterrichtsort in den Veranstaltungsräumen des herrschaftlichen Direktionsgebäudes liess dann aber doch genügend Abgrenzung zu den engen Gängen und kleinen Zimmern der Akutstation zu. Wenn ich mich an Referaten und Selbstvertretungen in Schulklassen und Weiterbildungen beruflich vorstelle, rede ich gern von meinen 20 Jahren mit der Psychiatrie und davon, dass diese Jahre meine eigentliche Ausbildung zum Peer waren, zum Experten aus Erfahrung sozusagen. Die Peer-Weiterbildung wird demzufolge korrekterweise als Weiterbildung bezeichnet. Wir lernen, mit unserer Geschichte und unserem Erfahrungswissen zu arbeiten und diese in den Dienst anderer zu stellen. Das ist das Besondere an der Peer-Weiterbildung. Wenn man so will, ist es die Versöhnung mit der eigenen Geschichte, mit der Betroffenheit, der Psychiatrie- und der Krisenerfahrung (3). Als angehende Peers erlernten wir in der ersten Hälfte der Peer-Weiterbildung die Recovery-Fundamente:
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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FORTBILDUNG
«Recovery zielt nicht auf ein Endprodukt oder ein Resultat. Es bedeutet nicht, dass man ‹geheilt› oder einfach stabil ist. Recovery beinhaltet eine Wandlung des Selbst, bei der einerseits die eigenen Grenzen akzeptiert werden und andererseits eine ganze Welt voller neuer Möglichkeiten entdeckt wird. Das ist das Paradoxe an Recovery: Beim Akzeptieren dessen, was wir nicht werden tun oder sein können, beginnen wir zu entdecken, wer wir sein und was wir tun können. Recovery ist eine Art zu leben.» Patricia Deegan, 1996
Sie sehen, es ist also einiges komplexer, als einfach Dinge zu tun, die einem guttun, und Dinge zu vermeiden, die einem schaden. So haben sich alle Teilnehmer der Peer-Weiterbildung eine eigene Definition über Recovery erarbeitet, einen Merksatz quasi. Meiner war: «Recovery ist eine Geisteshaltung, die vor der Gesundung im medizinischen Sinne nicht haltmacht. Es ist eine Umstellung und Neuorientierung mit einem selbst als Ziel.» Zum Zeitpunkt, als ich diesen Merksatz schrieb, wusste ich zwar theoretisch, was Recovery ist – man kann also eigentlich von der Stunde null sprechen, von dem Wissen um das Konzept Recovery. Doch die Verinnerlichung, das Gehen des eigenen Recovery-Wegs, kam erst mit der Zeit. Recovery ist eher der Weg als das Ziel, kann aber beides sein. Ich vergleiche es gern mit einer Ernährungsumstellung: In der ersten Phase verlässt man die Komfortzone, übt Verzicht. Mit fortschreitender Umstellung wird man dann routinierter, und das neue Lebensgefühl wird immer selbstverständlicher. Somit ist auch eine Ernährungsumstellung eher Weg und Ziel zugleich. Der Recovery-Weg ist deshalb etwas zutiefst Persönliches und Individuelles und hat nicht die Symptomfreiheit oder der Gesundung im eigentlichen Sinne zum Ziel. Die Recovery-Fundamente sind die Basis der Peer-Weiterbildung. In der zweiten Hälfte der Weiterbildung spielen Themen wie Lernen und Lehren, Trialog, Krisenintervention oder Beraten und Begleiten eine wichtige Rolle. Zudem absolvieren wir zwei Praktika in Institutionen, die uns auf den Beruf des Genesungsbegleiters vorbereiten.
Mein Recovery-Weg Ich habe eingangs von meiner Psychose im Jahr 2008 als eigentlicher Grundlage zu meiner heutigen Recovery gesprochen. Das, weil die wahnhaften Geschehnisse zum ersten Mal einen Sinn ergaben. egaloid concepts ist das wichtige Symbol für diese Initialzündung, Gut und Böse hinter mir lassen zu wollen und Symbole wie Plus und Minus aus den ersten vier Psychosen zu überwinden. Dieser Impuls der Gleichwertigkeit und ihre Förderung erfolgten lange, bevor ich in irgendwelche Debatten über Inklusion einbezogen wurde, auch lange bevor ich wusste, was Inklusion bedeutet. Ich bin also genesen, habe meine Arbeit wieder aufgenommen, nehme meine Medikamente und besuche fleissig die Psychotherapiesitzungen. Es ging mir gut, aber ich war nikotin- und alkoholabhängig. Denn im Jahr 2006 hatte ich nach dem Cannabisentzug mit dem Trinken angefangen.
Meine Peer-Arbeit
Ich bin mit meiner Peer-Arbeit eher ausserhalb von Institutionen tätig. Häufig auch indirekt die Genesung begleitend und meist nicht in Gesprächsgruppen, aber an Sitzungen und Kursen bei der Redaktionsbegleitung von Radio loco-motivo beider Basel und in den diversen Kursen, die ich anbiete. Bei diesen Angeboten steht der Empowerment-Gedanke an erster Stelle, Recovery steht jedoch über allem. All meine Angebote richten sich an Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung, die meisten von ihnen beziehen eine Invalidenrente. Von einigen kenne ich die Diagnose, von den meisten aber nicht, weil sie für meine Arbeit keine Rolle spielt. Es zählt nur, wie es einem geht und wie wir in der Gruppe an diesem Tag miteinander klarkommen. Das zum Beispiel auch bei dem Projekt Radio UPK in der Forensik im Jahr 2020 oder der derzeit geplanten Recovery-Gruppe in der Stiftung Satis. Ich kann heute sagen, dass ich so arbeiten darf, wie ich es mir wünsche: mit Freude, der ganzen Auseinandersetzung mit Krisen und der Herausforderung in der Arbeit.
Ich trank also und rauchte und musste wegen grober
Sachbeschädigung im Haus umziehen. Ich musste häu-
fig umziehen, meist postpsychotisch. Überhaupt war
ich lange Jahre entweder präpsychotisch, psychotisch
oder postpsychotisch, und ich erlebte meine Genesung
immer wie einen Steigerungslauf in die nächste
Manie und den «Reset» in der Klinik mit Temesta.
Die Intervalle zwischen den Krisen wurden länger
(2001/02/04/08/12/20). Seit 2012 verzichte ich auf das
Rauchen und Trinken, und seit 2016 besteht das Be-
wusstsein um Recovery.
Jede Krise stellt eine Zäsur dar, zumindest für mich. Das
muss nicht zwingend eine Psychose sein, aber nach der
Krise lassen sich gewisse ungesunde Dinge eher abstel-
len, was ein wichtiger Schritt auf dem persönlichen Re-
covery-Weg sein kann. Das bedeutet, dass es auf dem
Recovery-Weg keine Rückschläge gibt, es gibt nur den
Prozess oder eben den Weg, und in jedem Moment bin
ich mein bestmögliches Recovery-Produkt.
Ich würde meiner persönlichen Recovery zusammen-
fassend vor allem zwei grundsätzliche Aspekte zuschrei-
ben: die eben beschriebene Peer-Weiterbildung und
das Kennenlernen meiner Partnerin vor 5 Jahren. Der
Umstand, begleitet zu werden und ständig jemanden
fragen zu können, vor allem bei akustischen Abnormi-
täten, half mir sehr, aus den Halluzinationen herauszu-
finden. Hörst du das auch? Riechst du das auch? Siehst
du das auch? Das hat mir geholfen, nach dem Klinik-
aufenthalt so etwas wie «Normalität» zu entwickeln, ins
Leben zurückzukommen. Aber zum Prinzip: Recovery ist
die Hoffnung auf Gesundung und die Abkehr von
Stigma und der Negativspirale. Mit dem Erarbeiten von
sogenannten Skills, was Patricia Deegan «personal me-
dicine» nennt (4), lerne ich, mir selbst zu helfen, und
nehme mein Schicksal in die eigenen Hände. Ich habe
das in einem früheren Artikel als «dinge. einfach. ma-
chen.» (5) bezeichnet. Aus der Erschütterung und der
Erstarrung in die Aktion zu kommen und mir möglichst
selbst Recovery-Wege aufzuzeigen, dies im Austausch
mit anderen Betroffenen, meinem Umfeld, aber in erster
Linie mit mir selbst. Es sind jetzt 5 Jahre Recovery bei
mir. Vieles mache ich gleich, einiges mache ich anders.
Gewisse Dinge lehne ich ab, andere verschiebe ich, und
einige versuche ich, häufiger zu verfolgen. Recovery –
persönlich eben.
l
Korrespondenzadresse: Martin Born
egalod concepts Mörsbergerstrasse 9
4057 Basel E-Mail: born@egaloid.com
Referenzen: 1. Born M: 3 überlegen. Machen.
https://www.agnostic.ch/ blog/277. Zuletzt abgerufen: 10.5.21. 2. egaloid. https://www.egaloid. com. Zuletzt abgerufen: 10.5.21. 3. Amering M, Schmolke M: Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. 5., überarb. Auflage. 2012. 4. Zuaboni G: Recovery und psychische Gesundheit – Grundlagen und Praxisprojekte. Psychiatrie Verlag. 2019. 5. B o r n M : R e c o v e r y _ sozialbegleitung. https://www. agnostic.ch/blog/6wllp6agcw7 jp2jh3aps5zwh84b4xj. Zuletzt abgerufen: 10.5.21.
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