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EDITORIAL
Recovery-orientierte Praxis benötigt entsprechende Haltung der psychiatrischen Fachpersonen
D as Konzept Recovery hat die psychiatrische Versorgung in unserem Umfeld seit ungefähr 20 Jahren mit neuen Aspekten bereichert oder einige wieder in den Mittelpunkt gestellt. Einer der wesentlichsten Aspekte ist die Annahme, dass alle Menschen immer wieder Schwierigkeiten, Leid und Krankheit erleben und diese zu unserem Leben gehören. Dieses Verständnis verändert unsere Haltung als psychiatrische Fachpersonen; nicht nur psychiatrisches Expertentum, auch Gleichwertigkeit, Partizipation, der Einsatz von Betroffenen für Betroffene und Selbstbestimmung sind wichtig. Der Begriff «auf Augenhöhe» hat Einzug in die psychiatrische Praxis gehalten. Selbstverständlich bleiben neben der erwähnten Haltung psychiatrisches Fachwissen und bestmögliche Behandlung unabdingbar (1, 2). Die Recovery-orientierte Behandlung und Pflege berücksichtigt daneben vermehrt ein erfülltes Leben auch mit Symptomen, Rückfällen und durch die Krankheit verursachten Beeinträchtigungen (3, 4).
Recovery wurde in eher hoch entwickelten Ländern bekannt und umgesetzt. Ob das Konzept auch für einkommensschwächere oder Schwellenländer gilt, ist Gegenstand von Untersuchungen (5). Die Begriffe «Recovery» und «Peer» sind international im psychiatrischen Umfeld weitgehend etabliert, ausser im französischsprachigen Raum (Rétablissement, Pair). Um Recovery von der medizinischen oder rehabilitativen Bedeutung einer Genesung oder Gesundung abzugrenzen, wird auch der Begriff «personenorientierte» oder «personal recovery» verwendet (6). Anhand empirischer Forschung wurden folgende Recovery-Elemente unter dem Begriff «CHIME» zusammengefasst (2, 7): Connectedness, Hope and Optimism about the future, Identity, Meaning in Life und Empowerment. Das CHIME-Rahmenmodell wurde vor wenigen Jahren erweitert um das Element der praktischen Unterstützung, um einen grösseren Fokus auf der Diagnostik und der Medikation sowie um Elemente wie Schwierigkeiten und Scheitern (8). Letzteres, weil eine optimistische Haltung Professio-
neller, die keinen Platz für Schwierigkeiten lasse, Betroffene eher behindern oder sie beschämen könne (8). Das entspricht dem neueren und Recovery-verwandten Ansatz des Selbstmitgefühls oder der Self Compassion sowie weiteren achtsamkeitsbasierten Ansätzen, bei denen die Förderung der Akzeptanz und der Annahme schwieriger Erlebnisse zentral ist (9, 10). Recovery und Selbstmitgefühl beeinflussen die Haltung von Betroffenen, indem sie Empfindungen wie Scham, Minderwertigkeit, Verurteilung und Selbststigmatisierung reduzieren sowie das Verständnis fördern, dass es allen Menschen so gehen könnte (11). Selbstmitgefühl gilt als Weiterentwicklung des bis dahin für die psychische Entwicklung essenziell erachteten Selbstwertgefühls (10).
Als individueller Prozess, der in englischsprachigen Ländern von Betroffenen entwickelt wurde, ist Recovery nicht eindeutig konzeptualisiert und erforscht. Martin Born stellt in seinem Beitrag dieses Themenhefts seine persönliche Geschichte mit einer psychischen Erkrankung, seine Ausbildung zum Peer und seine aktuelle Tätigkeit als Peer vor. Er beschreibt sehr offen seinen individuellen Recovery-Prozess.
Recovery ist keine eigentliche Therapieform, bietet aber der psychiatrischen Versorgung und Pflege eine Ausrichtung. Eine Recovery-orientierte Praxis benötigt eine entsprechende Haltung der psychiatrischen Fachpersonen, mit der angepasste Interventionen durchgeführt werden, aber auch entsprechende Strukturen, in denen diese möglich sind. Ein zentrales Element einer entsprechenden Haltung Professioneller ist die Hoffnung oder die Zuversicht Erkrankten gegenüber (12–16), da die Hoffnung auf Gesundung oder auf eine bessere Zukunft den Recovery-Prozess in Gang setzen kann (17). Zum Konzept Recovery passende Interventionen betreffen daher nicht nur haltungsbezogene Elemente, sondern auch krankheitsbezogene Behandlungen wie die Medikation oder spezifische Therapieformen. Aber auch alltägliche und praktische Elemente wie die
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
Foto: zVg
Franziska Rabenschlag
FORTBILDUNG
Unterstützung im Arbeitsprozess gehören dazu (18). Recovery-Bemühungen müssten eigentlich an der Teilhabe am Erwerbsleben gemessen werden, so Baer (2015). Der Begriff «social recovery» tritt denn auch mehr und mehr in den Vordergrund (19). Die Teilhabe am Arbeitsprozess oder an sozialen Möglichkeiten werde in der psychiatrischen Behandlung immer noch vernachlässigt (19) und sollte explizit in der Behandlung und der Pflege adressiert werden (20). Der Beitrag von Holinger und Schoppmann in diesem Themenheft befasst sich vertieft mit dem Stellenwert der beruflichen Eingliederung als Mittel zur Gesundung.
Strukturelle Beispiele sind die soziale Umgebung, der
Zugang zu einem Unterstützungsangebot, auch die
jeweilige Gesundheitspolitik oder die kulturelle Hal-
tung einer Gesellschaft psychiatrisch Erkrankten
gegenüber (21). Der Beitrag von Zuaboni, Curschel-
las und Maier im vorliegenden Themenheft fasst
die Entwicklung des Konzepts Recovery und dessen
Auswirkungen für die Praxis zusammen. Ihr Beitrag
zeigt ausserdem anschaulich die dadurch verän-
derte Praxis im Sanatorium Kilchberg. Die Artikel zu
Recovery in diesem Themenheft decken meiner Ein-
schätzung nach die wesentlichen Aspekte des Kon-
zepts Recovery ab. Ich freue mich sehr über die
gelungenen Beiträge und wünsche Ihnen eine inte-
ressante Lektüre.
l
Dr. phil. Franziska Rabenschlag Bereichsleitung Pflege ZDK, ZPE
Zentrum für Diagnostik und Krisenintervention Zentrum für Psychotische Erkrankungen Leitung Pflege Privatklinik
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Wilhelm-Klein-Strasse 27 4002 Basel
E-Mail: franziska.rabenschlag@upk.ch
Referenzen: 1. Resnick SG et al.: An empirical conceptualization of the recovery
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personal recovery with current mental health consumers. Australian & New Zealand Journal of Psychiatry. 2014;48(7):644-653. 3. Anthony WA et al.: Recovery from Mental Illness: The Guiding Vision of the Mental Health Service System in the 1990s. Psychosocial Rehabilitation Journal. 1993;16(4):11-23. 4. Knuf A: Vom demoralisierenden Pessimismus zum vernünftigen Optimismus. Eine Annäherung an das Recovery-Konzept. Soziale Psychiatrie. 2004;1:38-41. 5. Gamieldien F et al.: Exploration of recovery of people living with severe mental illness (SMI) in low-income and middle-income countries (LMIC): a scoping review protocol. BMJ Open. 2020;10(2):e032912. 6. Amering M, Schmolke, M: Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit (5. Aufl.). 2012. Bonn: Psychiatrie-Verlag. 7. Leamy M et al.: Conceptual framework for personal recovery in mental health: systematic review and narrative synthesis. British Journal of Psychiatry. 2011;199(6):445-452. 8. Stuart SR et al.: What we talk about when we talk about recovery: a systematic review and best-fit framework synthesis of qualitative literature. Journal of Mental Health 2017;26(3):291-304. 9. Neff K: Selbstmitgefühl. 2012. München: Kailash. 10. Knuf A: Sei nicht so hart zu dir selbst: Selbstmitgefühl in guten und in miesen Zeiten. 2016b. München: Kösel. 11. Braehler C et al.: Exploring change processes in compassion focused therapy in psychosis: results of a feasibility randomized controlled trial. British Journal of Clinical Psychology. 2013;52(2):199-214. 12. Andresen R et al.: The experience of recovery from schizophrenia: towards an empirically validated stage model. Australian & New Zealand Journal of Psychiatry. 2003;37(5): 586-594. 13. Hoffmann H et al.: Hopelessness and its impact on rehabilitation outcome in schizophrenia – an exploratory study. Schizophrenia Research. 2000;43(2-3):147-158. 14. Onken S et al.: An analysis of the definitions and elements of recovery: a review of the literature. Psychiatric Rehabilitation Journal. 2007;31(1):9-22. 15. Schrank B et al.: Recovery in mental health. Neuropsychiatry. 2007;21(1):45-50. 16. Peebles et al.: Recovery and systems transformation for schizophrenia. Psychiatric Clinics of North America. 2007;30(3):567-583. 17. Davidson L et al.: Sense of self in recovery from severe mental illness. British Journal of Medical Psychology. 1992;65(2):131-45. 18. Baer N: Recovery und Arbeitsintegration. Pro Mente Sana aktuell. 2015;15(1):27-29. 19. Ramon S: The Place of Social Recovery in Mental Health and Related Services. International journal of environmental research and public health. 2018;15(6):1052. https://doi.org/10.3390/ijerph15061052. 20. Fowler D et al.: Social recovery therapy in improving activity and social outcomes in early psychosis: current evidence and longer term outcomes. Schizophrenia research. 2019;203: 99-104. https:// doi.org/10.1016/j.schres.2017.10.006 21. Jacobson N et al.: What is recovery? A conceptual model and explication. Psychiatric Services. 2001;52(4):482-485.
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