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FORTBILDUNG
Recovery in der Psychiatrie
Zuversicht, Wahlmöglichkeiten und erweiterte Formen der Partizipation
Recovery ist in kurzer Zeit zur Leitidee zeitgemässer psychiatrischer Dienstleistungen geworden. Im Beitrag wird auf die Ursprünge des Ansatzes eingegangen, und die Auswirkungen auf die Betroffenen, die psychiatrischen Dienstleistungen und die Gesellschaft werden beschrieben. Massnahmen und Erfahrungen bei der praktischen Umsetzung in einer psychiatrischen Klinik werden ausserdem vorgestellt.
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Gianfranco Zuaboni Jan Curschellas Robert Maier
von Gianfranco Zuaboni1, Jan Curschellas2 und Robert Maier3
M enschen mit einer psychischen Erkrankung sind trotz vorhandener Symptome in der Lage, ein produktives und selbstbestimmtes Leben inmitten der Gesellschaft zu führen (1). Die Hoffnung und die Zuversicht von betroffenen Menschen für ein solches Leben erhielten durch das Aufkommen des Recovery-Ansatzes Aufwind. Psychiatrische Fachorganisationen nahmen Recovery als Leitidee auf (2), als Gegenentwurf zu einer traditionellen Psychiatrie, die, geprägt durch hierarchische Strukturen und medizinische Ausrichtung (3–6), den Schwerpunkt auf die Pathologie, die Reduktion von Symptomen und die Prophylaxe von Rückfällen setzt (7–9). Die WHO formuliert in ihrem strategischen Massnahmenplan zur Förderung der psychischen Gesundheit eine Vision (10), die eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung mit der Förderung der Menschenrechte verbindet. Zu deren Umsetzung wurde das Projekt Quality Rights lanciert. Als rechtliche Grundlage dient die UN-Behindertenrechtskonvention für Menschen mit Behinderungen, die Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen einbezieht. Ein zentrales Projektziel ist es, Recovery-orientierte Dienstleistungen zu fördern (11).
Recovery: Ursprünge des Ansatzes, Definitionen und Konzepte Die Ursprünge von Recovery reichen ein paar hundert Jahre zurück und wurden von humanistischen Philosophen, Sozialaktivisten und emphatischen Fachpersonen
1 Dr. rer. medic., Leiter Pflegeentwicklung und RecoveryBeauftragter im Sanatorium Kilchberg 2 EX-IN Trainer, Dozent, Sanatorium Kilchberg 3 Dr. med., Chefarzt Psychiatrie, Sanatorium Kilchberg
geprägt (12). Die aktuellen Ansätze stammen aus den USA der 1980er-Jahre, als sich Personen mit schweren psychischen Krankheitserfahrungen zu organisieren begannen und deklarierten, dass ihre Symptome und Beeinträchtigungen sie nicht dauerhaft daran hindern, persönliche Lebensziele zu verfolgen. Zudem lehnten sie es ab, dass ihre Identität durch ihre Beeinträchtigung definiert wird (13, 14). Einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis und zur Konzeption von Recovery leisten persönliche Geschichten und Schilderungen von betroffenen Personen, die unter anderem von ihren Erfahrungen bei psychiatrischen Dienstleistungen berichten (15–17). Kritisiert wird die Ausrichtung der Psychiatrie, die zu sehr Wert auf die Krankheit, auf Defizite und biologische Verfahren legt und dabei die Person, ihre Stärken, Träume und Fertigkeiten vernachlässigt (18). Für Fachpersonen mag diese Form der Kritik irritierend und schwer zu ertragen sein, da sie das Engagement für die Anliegen der Patientinnen und Patienten grundlegend infrage zu stellen scheint. Gelingt es jedoch, darüber hinwegzusehen, können wertvolle Hinweise und Anregungen gewonnen werden, die zur Verbesserung der Dienstleistungen beitragen. In den vergangenen Jahren wurden verschiedene Formen der Rückmeldungen und des Austauschs etabliert. Dazu gehören beispielsweise das Beschwerdemanagement im Rahmen der Qualitätssicherung (19), Forschungsprojekte, die das Erleben und die Sichtweisen von Nutzenden untersuchen (20, 21), aber auch direkte Formen des offenen Dialogs wie das Psychoseseminar respektive der Trialog (22, 23) zwischen Nutzenden, Angehörigen und Fachpersonen. Die Definition von Recovery ist anspruchsvoll, weil darunter unterschiedliche Forderungen und Anliegen zusammengefasst werden. Zum besseren Verständnis ist es hilfreich, wenn man diese auf unterschiedlichen Ebenen verortet: auf der persönlichen Ebene, auf der Ebene
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der psychiatrischen Dienstleistungen und auf gesellschaftlicher Ebene.
Persönliche Ebene Recovery kann als individueller Veränderungs- oder Wachstumsprozess im Verlauf einer Krankheits- respektive Genesungserfahrung beschrieben werden. Patricia Deegan, Psychologin und Expertin aus eigener Erfahrung, beschreibt Recovery als lebenslangen Prozess, der nicht primär darauf abziele, symptomfrei zu werden, vielmehr bedeute es «… das Leben zu leben und die Dinge zu machen, die einem persönlich wichtig sind» (24). Recovery wird auch als eine Reise beschrieben, in deren Verlauf sich ein Wandel vollzieht, der persönliche Zielsetzungen, Werte, Gefühle, Fertigkeiten und Rollen betrifft (25). Das theoretische Bezugsrahmenmodell von Leamy et al. (26), das basierend auf einer systematischen Literatursichtung entwickelt wurde, ermöglicht eine eingehende Beschreibung. Das Modell besteht aus drei miteinander verbundenen Kategorien: l Merkmale der Recovery-Reise (z. B. Recovery ist ein
aktiver Prozess, Recovery ist keine Therapie) l Recovery-Phasen-Modell (mit Parallelen zum trans-
theoretischen Modell von Verhaltensänderungen) l Recovery-Prozesse (Kasten 1). Der selbstbestimmten Lebensführung wird ein zentraler Wert beigemessen, der sich auch auf die Art und Weise des Umgangs mit anfallenden Krankheitssymptomen auswirkt. So kann eine Person, die psychiatrische Hilfe gezielt in Anspruch nimmt, selbst einen stationären Aufenthalt als Teil ihrer Recovery-Reise verorten und nicht als Beweis des Scheiterns. Die Person entwickelt sich im Verlauf ihrer Recovery-Reise zum Experten ihrer eigenen Genesung und kann, wo das angezeigt ist, in Zusammenarbeit mit Fachpersonen notwendige Massnahmen und Therapien festlegen.
Ebene der psychiatrischen Dienstleistungen Wenn es sich bei Recovery um einen persönlichen, individuellen Prozess handelt, stellt sich die Frage, wie psychiatrische Dienstleistungen diesen unterstützen können. Der Fokus sollte nicht alleinig auf die Erkrankung gelegt werden, sondern auf die gesamte Person (6). Eine Recovery-orientierte Dienstleistung zeichnet sich dadurch aus, dass sie Menschen dabei unterstützt, ein sinnvolles und befriedigendes Leben aufzubauen und zu erhalten (27), dabei Prinzipien der Selbstbestimmung und Personenzentrierung beachtet (28) und entsprechende Wahlmöglichkeiten für Therapien und Angebote bereithält (27). Im Folgenden werden zwei weitere zentrale Komponenten vorgestellt: die Peerarbeit und das Konzept der Koproduktion.
Peerarbeit: Jüngste Berufsgruppe in der Psychiatrie Die Implementierung der Peerarbeit kann für Institutionen eine effektive Massnahme sein, um Recovery zu fördern und voranzubringen (29). Die Peerarbeit in der Psychiatrie stellt eine Erfolgsgeschichte dar, die sich in relativ kurzer Zeit im deutschsprachigen Raum etabliert hat. Peermitarbeitende sind Menschen mit eigenen Krankheits- und Genesungserfahrungen, die über eine entsprechende Weiterbildung verfügen und in unterschiedlichen Rollen und Funktionen Menschen mit psy-
Kasten 1:
Recovery-Prozesse «CHIME» (26)
Die fünf Prozesse können im Verlauf der Recovery-Reise zu unterschiedlichen Zeitpunkten an Bedeutung gewinnen. Sie können gleichzeitig aktuell sein und sich gegenseitig beeinflussen (das englisch gebildete Akronym «CHIME» kann mit «Glockenspiel» übersetzt werden). Für Menschen in Recovery könnte die Auseinandersetzung mit den einzelnen Prozessen bedeuten, Möglichkeiten zu entdecken, diese aktiv zu gestalten. ● Verbundenheit mit sich, seinem Umfeld und seiner Gemeinschaft (connected-
ness) ● Hoffnung und Optimismus für die eigene Zukunft (hope and optimism) ● positive Identität entwickeln (identity) ● persönliche Bedeutung der Erfahrung und Sinn im Leben (meaning in life) ● Selbstermächtigung (empowerment)
chischen Erkrankungen unterstützen und begleiten. Darüber hinaus vertreten sie die Perspektive der Nutzenden, beispielsweise in Veränderungsprojekten (30). Die Berufsgruppe der Peers ist eine der wenigen im Fachbereich der Psychiatrie, deren Leistungen und Auswirkungen wissenschaftlich untersucht und belegt sind (31–33).
Koproduktion: Von «tun für» zu «tun mit» Psychiatrische Dienstleistungen, die auf die Anliegen und Bedürfnisse der Nutzenden eingehen, sind mit der Herausforderung konfrontiert, Partizipation lebendig zu gestalten (34). Erweiterte Formen der Partizipation werden als Grundlage der Selbstermächtigung von Nutzenden und ihren Angehörigen verortet (35). Es geht darum, mit allen Beteiligten gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, anstatt das Lösen von Problemen einzelnen Personen mit einer Fachexpertise zu delegieren. Damit die Partizipation nicht zur Alibiübung verkommt, ist es angezeigt, entsprechende Vorkehrungen zu treffen (36). Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der «Koproduktion» unterstützt diesen Prozess. Es basiert auf der Annahme, dass Menschen Dienstleistungen nicht passiv empfangen, sondern über Expertisen und Erfahrungen verfügen, die für die Entwicklung der Dienstleistungen enorm wertvoll sind (37). Damit diese Ressourcen gefördert werden können, muss das Augenmerk auf die Zusammenarbeit gelegt werden, und es müssen dafür entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden. Eine zentrale Voraussetzung ist es, sich der Machtkonstellationen gewahr zu sein und Massnahmen einzuleiten, die diesen entgegenwirken (35, 38, 39) (Kasten 2, Beispiele der Koproduktion).
Gesellschaftliche Ebene Recovery ist nicht allein die Leistung der betroffenen Person. Dieser Prozess wird durch ein soziales Setting gefördert, das unter anderem durch Verständnis und Wohlwollen geprägt ist (40). Auch ökonomische Grundlagen sind notwendig, ohne die es für die betroffenen Personen enorm schwierig wird, zu genesen (41). Und nach wie vor sind in unserer Gesellschaft Menschen mit psychischen Erkrankungen mit Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert (42), die als zusätzliche Belastungen erlebt werden und den Recovery-Prozess nachweislich erschweren (43).
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Kasten 2:
Koproduktion in der Versorgungsentwicklung: HIC-Modell
In den Niederlanden wurde, basierend auf einer Literatursichtung und einem koproduktiven Ansatz, ein Modell zur akutpsychiatrischen Versorgung entwickelt, das «High and Intensive Care Model». Das Modell wurde in Workshops von Vertretungen verschiedener Anspruchsgruppen entwickelt. Das führt unter anderem dazu, dass dessen Implementierung über eine breite Akzeptanz verfügt (48).
Koproduktion in der Bildung: Recovery-Colleges
Seit in London im Jahr 2009 das erste Recovery-College eröffnet wurde, sind weltweit zahlreiche vergleichbare Initiativen lanciert worden. Recovery-Colleges sind gemeindenahe Bildungsangebote, die Kurse zu Themen der psychischen Gesundheit und der selbstbestimmten Lebensführung bereitstellen. Die Angebote richten sich gleichermassen an Menschen mit eigenen Krankheitserfahrungen, Angehörige und Fachpersonen. Die Recovery-Colleges verorten sich nicht als therapeutisches Angebot, sondern verfolgen konsequent einen Bildungsansatz. Koproduktion wird bei der Entwicklung und der Durchführung der Kurse gewährleistet, indem ein Experte aus Erfahrung und eine herkömmliche Fachperson das jeweilige Thema gemeinsam aufarbeiten, ihre unterschiedlichen Perspektiven einbringen und die Kurse gemeinsam moderieren. In der Schweiz gibt es Recovery-Colleges in Bern (www.recoverycollegebern.ch) und in Genf (www.recoverycollege.ch). Weitere Projekte sind in Planung (z. B. Psychiatrische Dienste Süd, St. Gallen).
Recovery im Sanatorium Kilchberg Das Sanatorium Kilchberg ist eine private Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, die psychiatrische Grundversorgung in der Region Zürich und Angebote für Zusatzversicherte bereithält. Neben 10 Stationen mit insgesamt 183 Betten verfügt die Klinik über teilstationäre und ambulante Angebote. Ausgehend von der gemeinsamen Initiative des ärztlichen Direktors und des Pflegedirektors, begann vor über 10 Jahren die Auseinandersetzung mit Recovery. Einige der seither realisierten Massnahmen werden nachfolgend vorgestellt.
Peerarbeit im Sanatorium Kilchberg Die Peerarbeit im Sanatorium Kilchberg wurde 2010 im Rahmen eines Forschungsprojekts auf einer Akutstation gestartet. Die Peermitarbeiterin Bettina Werder, eine der Pionierinnen der Peerarbeit in der Schweiz, leitete eine Gesprächsgruppe mit Patienten der Akutpsychiatrie mit dem Fokus, wie sie ihren Aufenthalt erleben und bewerten. Die Protokolle der Gespräche wurden dem Behandlungsteam als Basis für Veränderungen und Weiterentwicklungen zur Verfügung gestellt. Mittlerweile ist die Peerarbeit im Sanatorium Kilchberg etabliert, und Peers sind in unterschiedlichsten Bereichen und Funktionen tätig. So bieten sie Patienten Gespräche und Begleitungen auf den Stationen an, leiten Recovery-Gesprächsgruppen und -Seminare im stationären wie auch im ambulanten Bereich und sind in der Fort- und Weiterbildung als Dozentinnen engagiert. Zudem fliessen ihre Erfahrungen bei Innovations- und Veränderungsprojekten durch aktive Beteiligung im Veränderungsprozess ein. Die Peerarbeit wird von vielen Patientinnen und Fachpersonen als wertvolle Ergänzung erlebt. Die Patienten
schätzen die Begegnungen auf Augenhöhe, die durch gegenseitiges Vertrauen und Verständnis geprägt sind, die Vermittlung von Hoffnung und Zuversicht wird anerkannt («Sie wissen, wovon sie reden, da sie es selber erlebt haben», Zitat eines Patienten). Fachpersonen schätzen, dass dank der Peers die Perspektive der Patientinnen in den Behandlungsteams gestärkt wird. Doch für Peermitarbeitende ist es anspruchsvoll, diese Perspektive einzubringen, vor allem wenn sie diese allein gegenüber einem Team vertreten müssen. Peermitarbeitende benötigen ein Arbeitsumfeld, das durch emotionale Sicherheit und Wohlwollen geprägt ist. Die Zusammenarbeit mit Peers kann im positiven Sinne zu einer Entschleunigung beitragen, da sie dazu anregen, die für herkömmliche Fachpersonen vermeintlich klare Ausgangslagen und daraus abzuleitende Veränderungsvorhaben gemeinsam zu überdenken und innovative Massnahmen zu entwickeln.
Reduktion von Zwang und Gewalt Die Anwendung von Zwang und Gewalt, formell wie auch informell, wurde durch die Klinikleitung als allerletzte Massnahme festgelegt, die nur dann zur Anwendung kommt, wenn zuvor alle Alternativen ausgeschöpft wurden. Davon ausgehend, wurde die entsprechende Haltung und Kultur in der Klinik weiterentwickelt. Um eine lernende Kultur der Offenheit zu schaffen, wurde die kritische Reflexion des eigenen Handelns und dessen Transparenz gegenüber allen Anspruchsgruppen eingeführt, unter anderem durch die Etablierung von Ethikkonsilien, Audits von Zwangsmassnahmen und Aggressionsereignissen, Fallbesprechungen und den Einbezug der externen Beschwerdestelle der Pro Mente Sana. Überdies wurde das Deeskalations- und Aggressionsmanagement für alle therapeutisch tätigen Mitarbeitenden etabliert. Um die Patientenbedürfnisse verbessert zu berücksichtigen, wurde eine psychiatrische Patientenverfügung entwickelt, die heute im klinischen Alltag regelhaft Anwendung findet. Die Implementierung des Safewards-Modells (44) und weiterer evidenzbasierter Interventionen (u. a. systematische Gewaltrisikoeinschätzungen [45]) haben dazu geführt, dass Umstände, die zur Entstehung von Gewalt beigetragen haben, erkannt und gezielt angegangen werden können. Die Nachbesprechungen von Zwangsmassnahmen wurden, basierend auf dem von Wullschleger et al. (46) beschriebenen Konzept, implementiert. Im Rahmen der Nachbesprechung wird im Dialog der Entscheidungsprozess, der zu der Zwangsmassnahme geführt hat, thematisiert, und gemeinsam werden alternative Massnahmen für zukünftige vergleichbare Situationen entwickelt.
Öffnung von geschlossenen Stationen und Anpassung der Infrastruktur Die Öffnung der Akutstationen war eine weitere bedeutsame Entwicklung. Die Türen der Akutpsychiatrie waren bis im Jahr 2014 zu 100 Prozent verschlossen. Mittlerweile erreicht der Öffnungsgrad einen Durchschnittswert von 70 Prozent, bei gleichzeitiger Reduktion von Zwangsmassnahmen. Diese konnten trotz einer Zunahme von fürsorgerischen Unterbringungen
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erheblich gesenkt werden. Infrastrukturelle Massnahmen, wie beispielsweise die Schaffung von Einzelzimmern mit Ausstattung aus dem zusatzversicherten Bereich für die Schwerstkranken, die Verbesserung der Stationsatmosphäre durch Schaffung eines «Hotelcharakters», freier Internetzugang in jedem Bereich der Klinik, auch im Isolationszimmer, und therapeutische Massnahmen (Intensivbetreuung, schneller Zugang zu Fachtherapien, Förderung der Kontaktaufnahme zu Angehörigen u. a.), haben diese Organisationstransformation unterstützt.
Pool «Vertrauensperson» der Pro Mente Sana Unter der Federführung der Stiftung Pro Mente Sana wurde ein Pool von ehrenamtlichen Personen gebildet und geschult, die als «Vertrauenspersonen» zwangseingewiesene Patienten unterstützen, die über keine entsprechende Bezugsperson verfügen.
Recovery praktisch: Koproduktives
Bildungsangebot
Als fester Bestandteil des Weiterbildungsangebots hat
sich das Seminar «Recovery praktisch!» etabliert. Das
Seminar wurde in Koproduktion konzipiert und wird seit
mittlerweile 8 Jahren angeboten. Basierend auf einem
Schulungsmanual (47), wird im Seminar grossen Wert
auf persönliche Reflexion und den Erfahrungsaustausch
unter den Teilnehmenden gelegt. Die Teilnehmenden
sind sowohl interne und externe Fachpersonen und Per-
sonen mit eigenen Krankheits- und Genesungserfah-
rungen als auch Angehörige. Wiederholt wird von den
Teilnehmenden berichtet, dass im Verlauf des Seminars
Themen besprochen werden können, die im klinischen
Alltag tabuisiert werden. Das gemeinsame Lernen
scheint gemäss unserer Einschätzung dazu beizutragen,
dass die Distanz zwischen Fachpersonen und Men-
schen mit psychischen Krankheitserfahrungen verrin-
gert wird.
l
Korrespondenzadresse: Dr. rer. medic. Gianfranco Zuaboni
Sanatorium Kilchberg Alte Landstrasse 70 8802 Kilchberg
E-mail: g.zuaboni@sanatorium-kilchberg.ch
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Merkpunkte:
● Der Recovery-Ansatz bietet für psychiatrische Dienstleistungen eine Grundlage zur Weiterentwicklung der Angebote, das im Sinne der Personenzentrierung und der sozialen Inklusion.
● Die Peerarbeit trägt dazu bei, Werte und Haltungen in Organisationen zu transformieren und die Distanz zwischen Fachpersonen und Patienten zu reduzieren.
● Die Reduktion von Zwang und die Förderung von Partizipation und Wahlmöglichkeiten sind bedeutsame Bestrebungen für die qualitative Weiterentwicklung zeitgemässer psychiatrischer Akutversorgung.
● Um erweiterte Formen der Partizipation zu fördern, ist die kritische Reflexion vorhandener Machtkonstellationen erforderlich.
● Recovery ist nicht allein die Leistung einer Einzelperson. Organisatorische und gesellschaftliche Faktoren haben dabei entscheidende Rollen.
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