Transkript
E D I T O R I A L Aktuelles zu Diagnostik und Therapie
der Demenz
D as Thema Demenz ist im Jahr 2021 allgegenwärtig. In der Öffentlichkeit wecken Meldungen über neue Therapieoptionen Hoffnungen. Insbesondere die Zulassung des Medikaments Aducanumab in den USA hat für grosses Aufsehen gesorgt. Ob die hohen Erwartungen an dieses neue Medikament gerechtfertigt sind, wird von vielen Expertinnen und Experten noch kritisch diskutiert. Fakt ist aber, dass jede Ärztin und jeder Arzt in der Schweiz damit rechnen muss, in der Zukunft vermehrt mit Fragen zum Thema Demenz konfrontiert zu werden. Nicht nur wegen neuer Therapieoptionen, sondern schon allein wegen stark steigender Fallzahlen und eines wachsenden Bewusstseins für frühe Symptome in der Bevölkerung. In dieser Ausgabe möchten wir Ihnen deshalb einen Überblick über die aktuelle Diagnostik und Therapie im Demenzbereich geben.
Am Anfang der Abklärungen steht meist die Frage, ob die von Patientinnen oder Patienten sowie Angehörigen geschilderten Sorgen hinsichtlich kognitiver Störungen objektivierbar sind. Hierzu dienen neuropsychologische Testverfahren. Einige von ihnen sind als Screening bereits in der Praxis der Hausärztin oder des Hausarztes wie auch bei Fachspezialistinnen und -spezialisten nutzbar. Andere finden in der Folge in einer ausführlichen neuropsychologischen Abklärung ihre Anwendung. Aber welcher Test zu welcher Zeit? Diese Frage beantworten Toller et al. in ihrem Artikel, der zudem einen Ausblick auf neue Testmöglichkeiten bisher vernachlässigter kognitiver Domänen wie der sozialen Kognition gibt.
Wenn sich der Verdacht auf das Vorliegen einer Demenz erhärtet, kommen heute neben den Standardabklärungen regelmässig auch Biomarker zum Einsatz. Ihre diagnostische Aussagekraft konnte in den letzten Jahren derart verbessert werden, dass sie heute ein wichtiger Beitrag sind, um die diagnostische Sicherheit bereits früh im Krankheitsverlauf zu erhöhen. Dieser Punkt ist heute unbestritten: Patientinnen und Patienten profitieren von einer frühen und klaren Diagnose. Nur so kann
die quälende Unsicherheit hinsichtlich der Ursache der Beschwerden beseitigt werden, und nur so können gezielte Massnahmen in medizinischer Hinsicht wie auch in der persönlichen Lebensplanung eingeleitet werden. Mit einer frühen Diagnose öffnet sich für den Menschen mit Demenz ein Zeitfenster, in dem Entscheidungen in diesen Fragen wegen der noch erhaltenen Urteilsfähigkeit selbst getroffen werden können.
Julius Popp gibt einen Überblick zu den etablierten Biomarkern im Liquor, wagt aber auch einen Ausblick in die Zukunft: Biomarker im Blut stehen an der Schwelle zur klinischen Routine und könnten irgendwann etablierte Abklärungsalgorithmen revolutionieren. Daneben lässt sich auch die erweiterte bildgebende Diagnostik zu den Biomarkern zählen. Draganski et al. zeigen auf, welchen Mehrwert kernspintomografische Verfahren wie die Magnetresonanzvolumetrie im Alltag bringen können. Eher am Ende der diagnostischen Kette stehen heute verschiedene nuklearmedizinische Verfahren zur Verfügung, die Jüngling et al. in ihrem Artikel darstellen. Neben dem bereits am längsten etablierten FDG-PET besteht die Möglichkeit, die vorliegende Pathologie mit einem Amyloid-PET nachzuweisen. Als logischer nächster Schritt könnte bald das Tau-PET in der Schweiz Einzug in die klinische Routine halten. Weitere Verfahren zum Nachweis anderer Pathologien sind in der Erforschung.
Doch was nützt die beste Diagnose, wenn keine wirksamen Therapien zur Verfügung stehen? Diese immer noch verbreitete Fehleinschätzung möchten Thomas Schneider und ich in unserem Beitrag zu den therapeutischen Optionen ins richtige Licht rücken. Auch ohne neue «Wundermittel» stehen bereits heute wirksame Therapiemassnahmen zur Verfügung, um Symptome der Demenz zu lindern. Diese umfassen keineswegs nur Medikamente, sondern zielen auf eine umfassende Behandlung mit Einbezug nicht-medikamentöser und sozialmedizinischer Therapien. Aber natürlich kommt auch eine kritische Bewertung der neuen Therapieoptionen nicht zu kurz. Die Frage nach dem Einsatz des Prä-
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Foto: zVg
Ansgar Felbecker
parats Aducanumab könnte sich in nächster Zeit auch in der Schweiz stellen, und jede Ärztin und jeder Arzt tut gut daran, sich eine eigene Meinung zu bilden. Überwiegt die Hoffnung auf eine echte neue Therapieoption, oder überwiegen Bedenken bezüglich Wirksamkeit, Nebenwirkungen und Kosten? Hierfür möchten wir Ihnen mit Fakten eine Entscheidungsgrundlage liefern.
Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre und hoffe, dass wir Ihr Wissen zum Thema Demenz mit unseren Beiträgen etwas erweitern können. Menschen mit Demenz verdienen es, dass ihre Sorgen ernst genommen werden und dass sie von Expertinnen und Experten kompetent beraten werden. Das Wichtigste dabei ist neben dem Fachwissen aber immer auch der empathische Umgang mit den Betroffenen und Angehörigen. Und zu guter Letzt manchmal auch einfach nur die Zeit zum Zuhören. Dieser wichtige Aspekt kommt manchmal in der Hektik des ärztlichen Alltags und im Angesicht von
zeitlichen Limitationen in Tarifsystemen etwas zu
kurz. Nehmen Sie sich Zeit – zum Lesen dieser Arti-
kel, zum Gespräch mit den Menschen mit Demenz,
aber auch für sich! Denn eine gute Demenzpräven-
tion beginnt bereits früh im Leben mit regelmässi-
gem Sport, Bildung, Reduktion vaskulärer Risiko-
faktoren, sozialer Interaktion und gesunder Ernäh-
rung. Und auch hier sollten wir Ärztinnen und Ärzte
mit gutem Beispiel vorangehen und dürfen vor
allem auch einmal an uns selbst denken.
Ihr Ansgar Felbecker
l
Korrespondenzadresse: Dr. Ansgar Felbecker
Leitender Arzt Klinik für Neurologie Kantonsspital St. Gallen Rorschacher Strasse 95
9007 St. Gallen E-Mail: ansgar.felbecker@kssg.ch
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