Transkript
FORTBILDUNG
Weiterleben nach der Selbsttötung des eigenen Kindes
«Nun ist endgültig der Moment gekommen, in dem ich mich von Euch allen verabschieden will. (...) Wenn ein Mensch tatsächlich nicht mehr leben will, hilft es auch nichts mehr, wenn man ihm gut zuredet. Oder ihn einsperrt. Oder ihn liebt. (...) Trauert nicht um mich. Ich bin froh, dass ich gehen kann. Ich wäre hier auf Erden nicht glücklich geworden. Ich hatte es versucht. Inständig. Doch es geht einfach nicht. Ich hoffe, Ihr könnt das ein bisschen verstehen. Nun ist es Zeit zu gehen. Ich wollte etwas verändern in dieser Welt. Doch ich habe keine Kraft mehr. Bitte verzeiht mir. Für immer in Liebe, Andrea» (aus Andreas Abschiedsbrief)
Foto: zVg
von Jörg Weisshaupt
Jörg Weisshaupt
A uch wenn dem Suizid von Andrea eine jahrelange Krankheitsgeschichte vorausgegangen ist, stellt der plötzliche Verlust ihrer Tochter für die Eltern ein traumatisches Ereignis dar. Aussagen wie «Ich stehe neben mir, spüre mich nicht mehr» oder «Es hat mir den Boden unter den Füssen weggezogen» sind typisch. Selbstzweifel, Schuldgefühle, das Infragestellen aller Werte und Pläne führen dazu, dass das Leben der Angehörigen nicht mehr lebenswert scheint. Suizidbetroffene werden im englischen Sprachraum als «Survivors» bezeichnet. Dieser Begriff kann mit «Überlebende» übersetzt werden. Tatsächlich beginnt für viele, die einen nahestehenden Menschen durch Suizid verloren haben, ein Kampf ums eigene Überleben. Nach dem Suizid sehen viele Eltern nur noch ihre Versäumnisse und machen sich Vorwürfe, dass sie ihr Kind nicht schützen konnten. Manche packt auch Wut, warum ihr Kind ihnen das antun konnte. Wut und Zorn können Survivors davor bewahren, in ihrem prolongierten Trauerprozess selbst in einer Depression zu versinken.
«Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der andern muss man leben.»
Mascha Kaléko
Selbst auch zu sterben und auf diese Weise seinem Kind zu folgen, erscheint manchmal als einziger Ausweg, diesem Gefühlschaos zu entfliehen. Die Trauerarbeit wird von Familienmitgliedern ganz individuell gestaltet. Das kann zu Missverständnissen führen. Am Verlust des gemeinsamen Kindes scheitern oft Partnerschaften. Die Frage nach dem Warum in sich ruhen zu lassen, die Liebe zum verstorbenen Kind zu bewahren und für sein eigenes Leben wieder Perspektiven zu entwickeln, ist eine grosse Herausforderung. Deshalb dauert es Jahre, bis Betroffene Hilfe für sich in Anspruch nehmen. Werden sie jedoch proaktiv über Angebote informiert, auf die sie zurückgreifen können, um mit dieser Aufgabe nicht allein zu sein, dauert es 1 bis 2 Monate. Neben Familie und Freunden können
das therapeutische oder seelsorgerische Angebote, Einzelberatung oder geführte Selbsthilfegruppen sein. Verlusterfahrungen mit Menschen auszutauschen, die das Gleiche erlebt haben, kann sehr hilfreich sein. Nach dem Suizid eines Kindes oder Jugendlichen stehen die Eltern meist im Verdacht, in der Erziehung versagt zu haben. Nicht selten sind sie mit belastenden Formen von Stigmatisierung oder Vorwürfen durch das Umfeld konfrontiert. Manchmal kann es vorkommen, dass sich nach einem Suizid bei Hinterbliebenen ein Gefühl von Erleichterung einstellt. Das hat damit zu tun, dass beispielsweise ein langer Leidensweg nach einer schweren Krankheit mit grosser Belastung auch für das Umfeld zu Ende gegangen ist. Gefühle von Erleichterung können sich wiederum verstärkend auf Schuldgefühle auswirken. Bleiben Geschwister zurück, haben diese vielleicht jahrelang darunter gelitten, dass sich ihre Eltern mehr für das psychisch erkrankte Kind engagiert haben. Nach dem Suizid bleibt die erhoffte elterliche Zuwendung aus, weil deren Energie vom prolongierten Trauerprozess absorbiert wird.
Folgende Erfahrungen von Eltern suizidaler Jugendlicher wurden wiederholt gemacht: l Während des Klinikaufenthalts des Sohnes/der Toch-
ter wurden die Eltern nicht in die Behandlung einbezogen, fühlten sich ausgeschlossen und alleingelassen. Ihre Fragen zur Ursache der Krise und der Krankheit blieben unbeantwortet. l Obwohl man ihnen aufgrund der Schweigepflicht keine Informationen über die Krankheit ihres Kindes gab, mutete man ihnen zu, ihr Kind nach dem Klinikaufenthalt wieder zu Hause zu betreuen, ohne ihnen aber zu erklären, wie sie das angehen sollten. Die meisten erzählten, dass sie nicht gewusst hätten, was auf sie zukomme. Auch 18-Jährige sind noch auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen, vor allem dann, wenn sie sich in einer Krise befinden. l Für die Eltern wäre es hilfreich, zusammen mit ihrem Kind Strategien zu erlernen, wie man sich bei einer erneuten Krise zu verhalten hat. Idealerweise würde dieser Informationsaustausch mit den behandelnden Fachpersonen stattfinden. Eine solche Unter-
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stützung der Familienangehörigen könnte die Zahl der Suizide nach einem Klinikaufenthalt reduzieren. l Nach einem Suizid bleiben viele Fragen unbeantwortet. Die Einsicht in den Bericht des Klinikaufenthalts sollte nicht auf dem Rechtsweg eingefordert werden müssen. Gesprächsbereitschaft und das Ermöglichen der Einsicht auch in den Polizeibericht reduzieren bei den Survivors das Gefühl, auch noch nach dem Suizid ihres Kindes alleingelassen zu werden.
Die IASP, die Internationale Vereinigung für Suizidprävention (International Association for Suicide Prevention), widmet sich der Verhütung von Selbsttötung und suizidalem Verhalten, der Linderung seiner Auswirkungen und der Bereitstellung eines Forums für Akademiker, Fachleute für psychische Gesundheit, Krisenhelfer, Freiwillige und Überlebende nach Suizidversuch. In der Broschüre zum letzten Welttag der Suizidprävention vom 10. September 2020 weist die IASP darauf hin, dass jeder Suizid etwa 135 Menschen zu Suizidbetroffenen macht. Neben den nächsten Angehörigen sind das beispielsweise Mitarbeitende von Blaulicht- und Gesundheitsorganisationen, Lokführer, Schul- und Arbeitskollegen oder Freunde aus Freizeitaktivitäten. Diese neue Einschätzung lässt aufhorchen, denn bis anhin ist man in der Schweiz lediglich von fünf bis zehn Survivors ausgegangen, was doch sehr minimalistisch ist, wenn man bedenkt, wie viele soziale Kontakte wir real oder virtuell pflegen. Verwandte und enge Freunde von Menschen, die durch Suizid sterben, sind deshalb eine Hochrisikogruppe für Selbsttötung. Risikofaktoren dafür sind: l das psychologische Trauma eines Suizids l potenziell geteilte Familien und Spannung im Um-
feld oder am Arbeitsplatz l Werther-Effekt (Nachahmungstat) durch den Prozess
der Sozialmodellierung und durch die Last der Stigmatisierung, die mit diesem Verlust verbunden ist.
Darüber reden ... Trotz des professionellen Settings kann die wiederholte Konfrontation mit der Selbsttötung einer anvertrauten Person dazu führen, dass Personal von Kliniken oder Blaulichtorganisationen bis zur Arbeitsunfähigkeit belastet werden. Eine problematische Reaktion einer vorgesetzten Person ist beispielsweise: l Nachdem sich ein Patient im Universitätsspital das
Leben genommen hat, versammeln sich die Bezugspersonen des Personals zu einer Intervision. Der Chefonkologe platzt herein, erkundigt sich nach dem Grund der Zusammenkunft und gebietet: «Das Kaffeekränzchen ist beendet, zurück an die Arbeit!» Verantwortliche von Personalabteilungen realisieren vermehrt, dass die Präventionsarbeit nicht mit der Frage nach dem Verhindern eines Suizids getan ist. Um die Situation der Mitarbeitenden und des Systems ernst zu nehmen und zu optimieren, wünscht man berufsspezifische oder interdisziplinäre Fortbildungen zum Thema Nachsorge nach Suizid.
Der Verein trauernetz unterstützt Suizidbetroffene Der Verein trauernetz unterstützt betroffene Familienangehörige mit Triagegesprächen und moderierten
Fabian
Unser Sohn kam im Alter von 15½ Jahren in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Was als freiwillige, kurze Auszeit gedacht war, wurde zu einem neunmonatigen Klinikaufenthalt auf der geschlossenen Station. Diese Zeit war eine der schwierigsten in meinem Leben. Unserem Sohn ging es ab dem Eintritt in die Klinik immer schlechter. Für mich war es schwer nachvollziehbar, weshalb. Ich wurde nur sehr selektiv orientiert über das, was dort geschah. Vom Alltag meines Sohnes auf der Station war ich völlig ausgeschlossen, und Fabian verschloss sich mir immer mehr. So verlor ich nach und nach den Kontakt zu meinem Kind, und schliesslich fanden wir kaum mehr zueinander, was mir unglaublich wehtat. Unser Sohn trat nach der Klinik auf eigenen Wunsch in eine therapeutische Wohngemeinschaft ein. Seine Nachbetreuung wurde gut organisiert, und ich hatte auch einen guten Kontakt zu seinem Arzt, zu dem er nachher in die ambulante Therapie ging. Doch den Bruch in unserer Beziehung konnten mein Sohn und ich nie mehr richtig kitten, obwohl ich manchmal auch bei ihm spürte, dass er das gern gewollt hätte. Auch in der Wohngemeinschaft nahm man sich nicht die Mühe, zu mir einen regelmässigen Kontakt zu halten und mich zu informieren. Ich wurde dort immer nur als «Feuerwehr» geholt, wenn es Schwierigkeiten gab. Drei Jahre nach dem Austritt aus der Wohngemeinschaft nahm er sich das Leben. Ich habe nach seinem Tod viel über Depression und Suizidalität erfahren. Oft denke ich, wenn ich das alles vorher gewusst hätte und wenn wir, mein Sohn und ich, damals in der Klinik, statt getrennt zu werden, zusammen Strategien erlernt hätten, wie in einer erneuten Krise zu handeln sei – vielleicht hätten wir dann das Schreckliche vermeiden können.
Selbsthilfegruppen (Hilfe zur Selbsthilfe). Für Berufsgruppen, die mit Suizid konfrontiert werden, bietet der Verein Multiplikatorenschulungen und Beratung an.
Perspektiven für Suizidbetroffene Neues Handbuch für Selbsthilfe und Therapie Dieses Handbuch soll dazu beitragen, dass Betroffene im Rahmen von Selbsthilfegruppen über ihren traumatisierenden Verlust sprechen können. Es dient zudem Fachpersonen in ihrer therapeutischen Tätigkeit mit Hinterbliebenen. Es ist in sechs Kapitel gegliedert: l 1. Kapitel: Krise und Suizid l 2. Kapitel: Suizidbetroffene verstehen l 3. Kapitel: Geführte Selbsthilfe für Survivors l 4. Kapitel: Beschreibung der einzelnen Gruppentreffen l 5. Kapitel: 19 Themen für Gruppentreffen (teilweise
für Gruppenabende komplett vorbereitet) l 6. Kapitel: Ergänzende Materialien. Das Handbuch ist auf trauernetz.ch aufgeschaltet. Es steht so Fachpersonen und Betroffenen gleichermassen jederzeit zur Verfügung.
Neue geführte Selbsthilfegruppe Wegen der steigenden Nachfrage im Raum Zürich wird die Gruppe für Hinterbliebene neu doppelt geführt. Interessenten für die offene Gruppe melden sich bitte direkt über info@trauernetz.ch. Wo sich Survivors zusammenschliessen, unterstützen wir sie im Aufbau einer moderierten Selbsthilfegruppe. Derzeit geschieht das im Raum St. Gallen und Olten.
Neue moderierte Online-Community für Suizidbetroffene Bis sich eine Gruppe real treffen kann, ist ein virtuelles Angebot hilfreich. Die Erfahrung mit Videokonferenzen
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Weiterführende Informationen und Links:
www.verein-regenbogen.ch www.trauernetz.ch Broschüre: Den Kindern helfen, Informationen für Eltern und andere Betreuungspersonen https://trauernetz.ch/wp-content/uploads/2020/01/broschuere_den_kindern_ helfen.pdf
Online-Community für Suizidbetroffene
monatliche, moderierte Videokonferenz
Damit Du mit anderen Hinterbliebenen über Deinen Verlust sprechen kannst:
Schreib' eine Nachricht an 076 598 45 30,
dann bekommst Du den Link zum nächsten virtuellen Treffen und den Termin.
Abbildung: Monatliche Videokonferenz für Suizidbetroffene
für Survivors während der COVID-19-Pandemie zeigt das Bedürfnis, mit Gleichbetroffenen das Gespräch über den Verlust führen zu können. Deshalb bieten wir ab sofort eine monatliche moderierte Online-Community an (Abbildung).
Sich und andere informieren
Für Suizidbetroffene, die erfahren möchten, wie andere
einen traumatisierenden Verlust erleben und damit um-
gehen, sei folgendes Buch empfohlen: «Darüber reden
– Perspektiven nach Suizid: Lyrik und Prosa von Hinter-
bliebenen» (Verlag Johannes Petri, ISBN 978-3-03784-
036-8).
Für Institutionen, Schulen oder Gemeinden, die das
Thema der Nachsorge nach Suizid aufgreifen wollen, sei
die Wanderausstellung empfohlen: «Suizid und dann?
– Was ein Suizid bei Hinterbliebenen, ihrem Umfeld und
Helfenden auslösen kann».
Der Verein trauernetz unterstützt die lokalen Veranstalter
bei der Planung eines Rahmenprogramms (z. B. Vorträge,
Workshop, Filmvorführung mit Podium, firmeninterne
Schulung usw.) rund um die Ausstellung.
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Korrespondezadresse: Jörg Weisshaupt trauernetz Höhestrasse 80 8702 Zollikon
E-Mail: joerg@weisshaupt.ch
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