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FORTBILDUNG
Nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten als Risikofaktor für suizidales Verhalten bei Jugendlichen
Nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) und Suizidalität treten sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch in klinischen Populationen im Jugendalter gehäuft auf. Obwohl NSSV per definitionem keine Selbsttötungsabsicht zugrunde liegt, werden NSSV und Suizidalität oft gemeinsam beobachtet. Inzwischen wurde NSSV in diversen Studien als wesentlicher Risikofaktor für das Auftreten von Suizidgedanken, -versuchen und sogar von vollendeten Suiziden identifiziert. Die vorliegende Übersichtsarbeit beleuchtet die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede beider Formen der Selbstschädigung, präsentiert die aktuelle Datenlage zu NSSV als Risikofaktor in der Entwicklung suizidalen Verhaltens und zeigt mögliche Therapieansätze sowie Ausblicke auf die zukünftige Forschung auf.
Foto: zVg
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Franziska Rockstroh Michael Kaess
von Franziska Rockstroh1 und Michael Kaess1, 2
Einleitung
B ei nicht suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) handelt es sich um die absichtliche, wiederholte Selbstverletzung durch eine direkte Schädigung (z. B. durch Schneiden, Verbrennen, Schlagen) des eigenen Körpergewebes (1). Wie der Name bereits andeutet, liegt dabei keine suizidale Absicht vor. Stattdessen dient NSSV einer Vielzahl anderer Funktionen, wobei die Verringerung negativer Gedanken und Gefühle (Emotionsregulation) die am häufigsten berichtete Funktion darstellt (2). NSSV ist ein häufiges Phänomen: In der Allgemeinbevölkerung berichten 17 bis 18 Prozent der Jugendlichen, sich bereits selbst verletzt zu haben (3, 4), und in klinischen Stichproben ist die Häufigkeit mit bis zu 60 Prozent nochmals deutlich erhöht (5). NSSV hat seinen Beginn und Höhepunkt meist im frühen bis mittleren Jugendalter (6, 7) und remittiert oft spontan bis spätestens im jungen Erwachsenenalter (8). Bei einem nicht zu vernachlässigenden Anteil Betroffener jedoch nimmt NSSV einen chronischen Verlauf und persistiert über längere Zeit (9). Bei Suizidalität hingegen ist, zumindest bis zu einem gewissen Grad, der Wunsch vorhanden, das eigene Leben zu beenden (1). Das kann sich in Suizidgedanken, Suizidplänen, Suizidversuchen und einem vollendeten Suizid äussern. Entlang dieses Kontinuums verteilen sich auch die Häufigkeiten dieser Gedanken und Verhaltensweisen. Während in populationsbasierten Studien 30 Prozent der Jugendlichen berichteten, bereits einmal an
1 Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universität Bern 2 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg (D)
Suizid gedacht zu haben, gaben 10 Prozent an, in der Vergangenheit einen Suizidversuch unternommen zu haben (10). Tatsächlich ist bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen Suizid die zweithäufigste Todesursache (11). Die Abbildung zeigt eine Übersicht verschiedener Formen von NSSV und Suizidalität. Um der unbestrittenen klinischen und gesellschaftlichen Relevanz beider Verhaltensweisen gerecht zu werden, wurden in der fünften Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) (1) zwei neue Diagnosen vorgeschlagen, die zunächst in die Sektion 3 der Diagnosen, die weiterer Forschung bedürfen, aufgenommen wurden: nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) und die suizidale Verhaltensstörung (SVS). NSSV wird definiert als selbstverletzendes Verhalten, das im letzten Jahr an mindestens 5 Tagen gezeigt wurde, mit der Erwartung, nur leichte bis mittelschwere körperliche Verletzungen hervorzurufen. Hinter dem Verhalten steckt die Erwartung, negative Gefühle loszuwerden, interpersonelle Schwierigkeiten zu lösen oder positive Gefühlszustände zu induzieren. Bei einer SVS dagegen gab es in den vergangenen 24 Monate mindestens einen Suizidversuch mit der Erwartung, dass diese Handlung zum Tod führt. NSSV oder Suizidgedanken sind keine Kriterien der SVS. Die Formulierung zweier unterschiedlicher Diagnosen betont einerseits die Unterschiede beider Phänomene und andererseits die Notwendigkeit, beide Formen der Selbstverletzung entsprechend ihrer Absicht als eigenständige Entitäten zu betrachten. NSSV beginnt meistens früher als suizidales Verhalten, der erste Suizidversuch erfolgt 1 bis 2 Jahre nach dem Erstauftreten von NSSV (12). Auch bezüglich Funktion zeigten sich Unterschiede: Während eine negative Verstärkung im Rahmen beider selbstschädigender Verhaltensweisen
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gleich oft auftrat, wurde bei NSSV signifikant häufiger von positiver Verstärkung berichtet. Trotz allem kommen NSSV und suizidales Verhalten relativ häufig bei der gleichen Person vor (1). Es wird davon ausgegangen, dass beide Verhaltensweisen zugrunde liegende Risikofaktoren wie weibliches Geschlecht, körperlichen und sexuellen Missbrauch, Impulsivität, affektive Störungen und Symptome der Borderline-Persönlichkeitsstörung teilen (12–15). Ausserdem wird NSSV als wichtiger Risikofaktor für das Auftreten von suizidalem Verhalten im Jugendalter angenommen, worauf in der vorliegenden Arbeit eingegangen werden soll. Im Gegensatz zu anderen Risikofaktoren ist NSSV ein sichtbares Verhalten, wodurch es eine wichtige Rolle für die Erkennung durch Aussenstehende spielen kann (16).
Interpersonale Theorie der Suizidalität Eine weitverbreitete Theorie, die eine Erklärung für den Zusammenhang zwischen NSSV und suizidalem Verhalten bietet, ist die interpersonale Theorie der Suizidalität (IPTS) von Joiner TE (17, 18). Sie beruht auf drei Konzepten, die als Bedingungen für den Suizid gelten: Der unerfüllte Wunsch nach Zugehörigkeit (thwarted belongingness), das Gefühl, eine Belastung für andere zu sein (perceived burdensomeness), und die Fähigkeit für Suizid (capability for suicide). Das gemeinsame Vorliegen der ersten beiden Faktoren führt gemäss der IPTS zu einem Erleben von Hoffnungslosigkeit und dem Wunsch zu sterben (Suizidgedanken). Der biologisch verankerte Selbsterhaltungstrieb hält die meisten Menschen aber davon ab, entsprechende Handlungen vorzunehmen. Durch das wiederholte Erleben schmerzhafter Ereignisse, wie NSSV, können die natürliche Angst vor dem Tod und die Schmerzsensitivität sinken (19). Die Habituation an einen Schmerzreiz und die Schädigung des eigenen Körpers befähigen das Individuum erst zu Suizid (aquired capability for suicide) und erhöhen somit das Risiko für einen Wandel von Suizidgedanken zu einem Suizidversuch (17, 20). In einer Übersichtsarbeit konnten Stewart et al. (21) 15 Studien identifizieren, welche die IPTS bei Jugendlichen überprüften. Häufig wurden dabei indirekte Proxy-Variablen untersucht, wie Einsamkeit oder Selbstbewusstsein, und die meisten Daten waren aufgrund des Querschnittcharakters nur eingeschränkt aussagekräftig. Der Zusammenhang zwischen NSSV als Faktor zur Erlangung der Fähigkeit für Suizid und Suizidversuche galt dabei jedoch als am besten untersucht. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine Auswertung der gross angelegten SEYLE-Studie (saving and empowering young lives in europe) mit 11 110 jugendlichen Teilnehmenden (22). Es konnte gezeigt werden, dass das fehlende Gefühl von Zugehörigkeit zu den Eltern Suizidgedanken im darauffolgenden Jahr vorhersagte, nicht aber der Mangel an Zugehörigkeit zu Freunden oder das Gefühl, eine Last zu sein. Weiter zeigte sich, dass selbstverletzendes Verhalten einen Suizidversuch in der Zukunft sowohl direkt vorhersagte als auch die Wahrscheinlichkeit für die Transition von Suizidgedanken zum Suizidversuch deutlich erhöhte. Die Veränderungen der Schmerzschwelle, die bei der IPTS als zentraler Mechanismus für die Fähigkeit zum Suizid angenommen wird, wurde bei jungen Menschen mit NSSV ebenfalls wiederholt nachgewiesen (23).
selbstschädigende Gedanken und Verhaltensweisen
suizidal
nicht suizidal
Suizidgedanken
Suizidplan
Gedanken an Selbstverletzung
Suizidversuch
Suizid
Selbstverletzung
Abbildung: Unterschiedliche Formen selbstschädigender Gedanken und Verhaltensweisen, adaptiert nach (6).
Zusammenfassend kann die IPTS eine gute Grundlage für den Zusammenhang zwischen NSSV und suizidalem Verhalten bieten. Die Gültigkeit des Konstrukts «unerfüllter Wunsch nach Zugehörigkeit» und das «Gefühl, eine Last zu sein», bedürfen im Jugendalter aber weiterer Überprüfung. Ausserdem wurde vorgeschlagen, weitere alterstypische und häufig mit NSSV und Suizidalität in Verbindung gebrachte Merkmale wie Impulsivität in künftigen Studien zur IPTS zu prüfen (21).
Längsschnittstudien Bei einem Risikofaktor handelt es sich um einen mit dem Outcome zusammenhängenden Faktor, der zeitlich vorgelagert ist und dem Ereignis von Interesse vorausgeht. Im Gegensatz zu einer Korrelation sind für die Identifizierung eines Risikofaktors Längsschnittdaten nötig, um eine Unterscheidung in Hoch- und Tiefrisikogruppen vornehmen zu können (24). Aus diesem Grund werden im Folgenden nur Längsschnittstudien vorgestellt. In einer prospektiven Studie mit weiblichen Jugendlichen aus der Allgemeinbevölkerung zeigte sich, dass Suizidgedanken im Jugendalter das Risiko für im späten Jugend- und frühen Erwachsenenalter berichtete Suizidversuche verdreifachte (25). Wurde zusätzlich zu den Suizidgedanken auch NSSV angegeben, stieg die Wahrscheinlichkeit für Suizidversuche deutlich um den Faktor 12,6 im Vergleich zu jenen ohne Suizidgedanken und NSSV. Nur NSSV ohne jemals erlebte Suizidgedanken wurde von gerade einmal 1,1 Prozent der Stichprobe angegeben, weshalb diese Gruppe nicht separat analysiert werden konnte. In einer anderen Stichprobe aus jugendlichen Schülerinnen und Schülern war NSSV bei der Baseline ebenfalls prospektiv mit Suizidgedanken und -versuchen in den folgenden 2,5 Jahren assoziiert (26). Dieser Effekt blieb bestehen, selbst wenn für Depressionen und vergangene Suizidversuche kontrolliert wurde. Der Zusammenhang zwischen NSSV und Suizidalität wurde auch bei jungen Erwachsenen über 3 Jahre hinweg bestätigt (27). Innerhalb der NSSV-Gruppe konnte ausserdem ein Dosis-Wirkungs-Prinzip aufgezeigt werden: Erfolgten bei einer Person mehr als 20 Episoden von NSSV, stieg das Risiko für später auftretende Suizidgedanken oder -versuche um fast das Vierfache im Vergleich zu Perso-
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nen mit weniger NSSV in der Vergangenheit. Im Rahmen der bereits erwähnten SEYLE-Studie wurden zusätzlich zur bestätigten Assoziation zwischen Selbstverletzung und Suizidalität zeitliche Veränderungen untersucht (28). Sowohl Jugendliche, die bereits bei der Baseline von NSSV berichteten und sich auch nach einem Jahr weiterhin selbst verletzten, als auch Jugendliche, die zum zweiten Messzeitpunkt neu von selbstverletzendem Verhalten berichteten, hatten ein weiteres Jahr später ein 2- bis 3-mal höheres Risiko für konkrete Suizidpläne und -versuche. Bei Jugendlichen, die jedoch zwischen der Baseline und der 1-JahresMessung die Selbstverletzungen stoppten, sank das Risiko für Suizidalität auf das Ausgangsniveau jener, die nie über Selbstverletzung berichteten. Diese Resultate weisen eindrücklich darauf hin, dass die Reduktion von selbstverletzendem Verhalten möglicherweise eine wichtige Rolle in der Suizidprävention spielt. Auch in der Vorhersage von vollendeten Suiziden nehmen vorhergehende Selbstverletzungen eine wichtige Rolle ein. In einer kürzlich veröffentlichten Studie (29) wurden Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren nach einer Vorstellung im Spital wegen Selbstverletzungen im Kontext einer grossen multizentrischen Kohortenstudie beobachtet. Im Studienzeitraum von bis zu 16 Jahren starben 1,4 Prozent der Jugendlichen, davon der grösste Teil (44%) durch Suizid. Damit lag die Suizidrate im Jahr nach dem ersten Spitalkontakt wegen Selbstverletzung in dieser Stichprobe 31-fach über der in der gleichaltrigen Allgemeinbevölkerung erwarteten 12-Monats-Inzidenz. Obwohl fast 3-mal so viele weibliche Jugendliche in die Notaufnahme kamen, war die Sterberate bei männlichen Jugendlichen doppelt so hoch. Neben dem Geschlecht wurden unter anderem höheres Alter und wiederholte Selbstverletzung als Risikofaktor für einen Suizid identifiziert, ebenso wie der Wechsel zwischen Methoden der Selbstverletzung, wie bereits in früheren Studien gefunden wurde (7, 29). Ribeiro JD und Kollegen untersuchten unterschiedliche Formen von selbstverletzendem Verhalten als Risikofaktor für Suizidalität in einer Metaanalyse mit 172 Studien (30). Der stärkste Zusammenhang wurde zwischen NSSV und Suizidversuchen gefunden: Das Risiko, einen Suizidversuch zu unternehmen, war bei Personen mit NSSV in der Vergangenheit 4-mal höher als bei Vergleichsindividuen ohne NSSV. Die Autoren weisen aber darauf hin, dass der Zusammenhang, obwohl statistisch signifikant, die Vorhersage nur geringfügig verbesserte und die Stärke des Effekts deutlich unter den Erwartungen blieb. In einer weiteren Metaanalyse konnten Castellví P et al. (31) diesen Zusammenhang bei Jugendlichen aufzeigen. Bei Jugendlichen mit irgendeiner Art von selbstverletzenden Gedanken oder Verhaltensweisen in der Vergangenheit war die Wahrscheinlichkeit für einen Suizid um den Faktor 22,5 erhöht. Für einen Suizidversuch lag diese Rate bei 3,5. Dazu sollte angemerkt werden, dass die Verwendung uneinheitlicher Begrifflichkeiten in vielen einbezogenen Artikeln die spezifische Aussagekraft in Bezug auf nicht suizidales Verhalten womöglich einschränkt. Stattdessen werden häufig Begriffe wie «direktes selbstverletzendes Verhalten» (28), «Selbstschädigung» (29), oder «selbstverletzende Gedanken und Verhaltensweisen» (31) als Überbegriff ver-
wendet, unabhängig davon, ob es sich um eine suizidale oder nicht suizidale Absicht handelt.
Implikationen für die Therapie Zusammengefasst besteht heute ausreichend Evidenz für die Einordnung von NSSV als einen der wichtigsten Risikofaktoren und Risikomarker für suizidales Verhalten bei jungen Menschen. Die frühzeitige Identifikation von NSSV ist daher wichtig zur Früherkennung bedeutender assoziierter psychischer Störungen (z. B. affektive Störungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen) (32). Die rasche und niederschwellige Intervention sollte ein wesentlicher Bestandteil im Sinne von Massnahmen der Suizidprävention sein (33). Eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse zur Wirksamkeit von Interventionen bei NSSV (34) kam zu dem Schluss, dass sich NSSV effektiv reduzieren lässt. Störungsspezifische Interventionen bieten im Vergleich zu anderen aktiven Interventionen Vorteile, wenn auch nur mit kleinen Effektstärken. Die höchste Wirksamkeit besteht derzeit für die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT), hierfür liegen auch schon Ergebnisse einer randomisiert kontrollierten Studie im Langzeitverlauf vor (35). Da jedoch störungsspezifische Therapien, wie die DBT, oft von relativ aufwendigen Behandlungsverfahren zur Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung abgeleitet sind, stehen diese vielen jungen Menschen mit NSSV nicht niederschwellig zur Verfügung. Eine zur niederschwelligen Behandlung von NSSV entwickelte Kurzzeittherapie wurde kürzlich in einer randomisiert kontrollierten Studie evaluiert. Sie zeigte eine schnellere und im Effekt äquivalente Wirksamkeit im Vergleich zu herkömmlichen psychotherapeutischen Verfahren in deutlich höherer Intensität (36). Diese Kurzzeittherapie wurde inzwischen auch als Online-Intervention umgesetzt und wird derzeit evaluiert (37).
Vorhersage von suizidalem Verhalten Obwohl NSSV als wichtiger Risikofaktor für suizidales Verhalten bei Jugendlichen gilt, stellten unter anderem Ribeiro JD et al. (30) und die Autoren einer weiteren Metaanalyse zur Suizidforschung der letzten 50 Jahre (38) fest, dass die Identifizierung von Risikofaktoren bis anhin nur minimal zur tatsächlichen Prognose von Suizidgedanken und suizidalen Verhaltensweisen beiträgt. Die klinische Relevanz ist dadurch stark eingeschränkt. In beiden Publikationen wird auf die Bedeutung neuer und innovativer Mess- und Assessmentmethoden hingewiesen, insbesondere wird die Untersuchung proximaler Prädiktoren empfohlen. Dadurch wird nicht nur die Untersuchung der Frage möglich, ob eine Person ein erhöhtes Suizidrisiko hat, sondern auch wann das Risiko besonders gross ist – was für die klinische Beurteilung und die akute Intervention von grosser Bedeutung ist. Eine Möglichkeit bietet das sogenannte Ecological Momentary Assessment (EMA) (39): Dabei findet die Erhebung nicht im Labor, sondern im Leben der zu untersuchenden Person statt (ecological), und die Messungen werden im Moment (momentary) durchgeführt. Dadurch wird nicht nur die externe Reliabilität erhöht, sondern auch Verzerrungen durch retrospektive Erhebungen werden minimiert. In den letzten Jahren konnten so unter anderem die häufig mit NSSV einhergehende affektive Instabilität und Emotionsregu-
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Merkpunkte:
● NSSV und Suizidalität sind im Jugendalter prävalent, auch in der Allgemeinbevölkerung.
● NSSV ist ein wichtiger, durch seinen äusserlichen Charakter gut identifizierbarer Risikofaktor für suizidales Verhalten in dieser Altersgruppe.
● Die Behandlung von NSSV ist deshalb ein wesentliches Element der Suizidprävention.
● Um die Vorhersage von Suizidalität zu verbessern, sollte der Forschungsschwerpunkt zukünftig auf die Erkennung kurzfristiger Prädiktoren gelegt werden.
lation (40–44) zeitnah aufgezeigt und die dynamische Veränderung von Suizidgedanken (45) in Verbindung mit NSSV (46) abgebildet werden. EMA werden heute häufig über Smartphones durchgeführt, was zusätzlich ein objektives Monitoring von Hintergrunddaten (z. B. Standort, Tastatureingaben, Bildschirmzeit) erlaubt (47). Auch die Verwendung von Wearables gewinnt zunehmend an Bedeutung, da hiermit nicht nur Bewegungs-, sondern auch physiologische Daten wie die Herzratenvariabilität als mögliche Biomarker für NSSV und Suizidalität gemessen werden können (48–50). Im Bereich der Suizidforschung sind EMA-Studien insbesondere im Jugendalter weiterhin selten, in den letzten Jahren hat die Anzahl aber stark zugenommen (43), was als wichtiger Schritt für ein verbessertes Verständnis von Selbstschädigung und Suizidalität gesehen werden kann.
Zusammenfassung NSSV ist ein wichtiger Risikofaktor für das Auftreten von Suizidalität im Jugendalter. Es wird davon ausgegangen, dass durch NSSV eine Habituation an Schmerzen und Schädigung des Körpers stattfindet, was in Kombination mit Suizidgedanken die Wahrscheinlichkeit für einen Suizidversuch erhöht. Trotz Identifizierung von Risikofaktoren ist die Vorhersage von suizidalem Verhalten schwierig und die Stärke der untersuchten Effekte unbefriedigend. Für zukünftige Studien wird die Nutzung neuer Technologien und innovativer Messmethoden im Rahmen von intensiven längsschnittlichen Studiendesigns als Forschungsschwerpunkt vorgeschlagen, um kurzfristige Risikofaktoren und klinisch relevante Warnsignale für selbstverletzendes Verhalten zu ermitteln. Die Behandlung von NSSV mit Psychotherapie ist zuverlässig und effektiv möglich und stellt möglicherweise einen wichtigen Baustein der Suizidprävention dar. l
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Michael Kaess Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie Bolligenstrasse 111, Stöckli
3000 Bern 60 E-Mail: michael.kaess@upd.ch
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