Transkript
KONGRESS AKTUELL
Virtuelles MS-State-of-the-Art-Symposium
Neue therapeutische Optionen bei MS und NMOSD
Das 23. State-of-the-Art-Symposium der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft wurde aufgrund der Pandemiessituation erstmals in seiner langjährigen Geschichte virtuell durchgeführt. Der fast in jedem Jahr auf dem Programm stehende Überblick zu den seit dem letzten Symposium neu hinzugekommenen Therapien bei Multipler Sklerose (MS) konnte in diesem Jahr durch neue Optionen bei Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) erweitert werden.
V erantwortlich für den Überblick über die sich stetig verbreiternde Palette an therapeutischen Optionen bei MS war in diesem Jahr Prof. Andrew Chan vom Inselspital, Universitätsspital Bern. Er startete sein Referat mit einem Update zu den Modulatoren des Sphingosin-1-Phosphat-(S1P-)Rezeptors, den «-imods». Neben Fingolimod sind mit Ozanimod und Siponimod seit Kurzem 2 weitere Vertreter dieser Gruppe verfügbar. Während Ozanimod bei Erwachsenen mit einer schubförmig remittierend verlaufenden MS eingesetzt werden kann, ist Siponimod für Patienten mit einer sekundär progredienten MS (SPMS) mit entzündlicher Krankheitsaktivität (nachgewiesen durch Schübe oder entsprechende Veränderungen in der Bildgebung) zugelassen (1, 2).
Rezeptorprofile beeinflussen vermutlich biologische Funktionen Man könne sich nun die Frage stellen, weshalb es gleich 3 Medikamente der gleichen Gruppe brauche, so Chan. Einer der Gründe dafür ist, dass die Familie der S1P-Rezeptoren verschiedene Subtypen umfasst, die von unterschiedlichen Zelltypen exprimiert werden und unterschiedliche Funktionen aufweisen. «Die Imods binden mit unterschiedlicher Selektivität und Affinität an diese Rezeptorsubtypen und können so zu unterschiedlichen biologischen Wirkungen führen», erläuterte der Referent. Ozanimod und Siponimod binden selektiv an die beiden Rezeptorsubtypen 1 und 5 (1, 2). «Das mag Effekte auf das Nutzen-Nebenwirkungs-Profil haben. Daneben unterscheiden sich die Imods aber auch noch in verschiedenen weiteren Aspekten, so zum Beispiel hinsichtlich Aktivierung, Pharmakokinetik beziehungsweise Metabolisierung», führte Chan weiter aus.
Daten zu Ozanimod In den Phase-III-Studien, namentlich der 1-jährigen Studie SUNBEAM und der 2-jährigen Stu-
die RADIANCE, erwies sich Ozanimod gegenüber Interferon (IFN) beta-1a, 30 µg i.m., hinsichtlich der Reduktion der jährlichen Schubrate als überlegen (3, 4). Ausserdem zeigten beide Studien eine signifikant geringere Abnahme des gesamten Hirnvolumens sowie des Volumens der kortikalen grauen Substanz und des Thalamus unter Ozanimod. Die Studien ergaben im Weiteren eine vergleichbare Inzidenz an Nebenwirkungen bei den mit Ozanimod beziehungsweise mit IFNβ1a behandelten Patienten. Als häufigste Nebenwirkung unter Ozanimod wurden Nasopharyngitis/Infektionen der oberen Atemwege beobachtet (3, 4). «Obwohl Ozanimod kaum an den S1P3-Rezeptor bindet, wurden bei Therapieeinleitung auch bradykardisierende Effekte beobachtet», berichtete Chan. Um den möglichen Einfluss auf die Herzfrequenz abzuschwächen, muss Ozanimod zu Beginn der Behandlung deshalb über einen Zeitraum von 7 Tagen auftitriert werden (1). Ein kardiales Monitoring dagegen ist nur bei Patienten mit spezifischen Risiken notwendig.
Daten zu Siponimod Siponimod zeigte in der EXPAND-Studie bei Patienten mit SPMS im Vergleich zu Plazebo eine 21-prozentige Reduktion des Risikos für eine nach 3 Monaten bestätigte Behinderungsprogression (Hazard Ratio [HR]: 0,79; p = 0,0134) und eine 26-prozentige Reduktion für eine nach 6 Monaten bestätigte Behinderungsprogression (HR: 0,74; p = 0,0058) (5). «In der Gruppe der Patienten mit aktiver SPMS betrug die Risikoreduktion 31 beziehungsweise 37 Prozent. Allerdings war die Studie für die Gesamtpopulation, also für eine Mischung aus Patienten mit aktiver und inaktiver SPMS, ausgelegt», schränkte der Referent ein. Das Nebenwirkungsprofil von Siponimod entspreche den Erwartungen, erklärte er weiter. Allerdings sei es auch hier nicht gänzlich gelungen, kardiale Nebenwirkungen zu eliminieren. Sipo-
nimod muss deshalb zu Beginn der Behandlung ebenfalls auftitriert werden (2). Eine Überwachung ist nur bei Patienten mit entsprechendem Risiko notwendig. Zudem muss vor der Einleitung einer Behandlung mit Siponimod der CYP2C9-Genotyp des Patienten bestimmt werden, da die Substanz bei bestimmten Genotypen kontraindiziert ist beziehungsweise die Dosierung angepasst werden muss (2). Als weitere neue Therapieoption ist für Patienten mit einer aktiven, schubförmig verlaufenden MS der Anti-CD20-Antikörper Ofatumumab verfügbar (6). Die Phase-III-Studien ASCLEPIOS I und II ergaben für Ofatumumab eine signifikant niedrigere jährliche Schubrate im Vergleich zu Teriflunomid sowie eine signifikante Reduktion des Risikos für eine Behinderungsprogression nach 3 und 6 Monaten (3 Monate: Risikoreduktion von 34,4%; p = 0,002; 6 Monate: Risikoreduktion von 32,5%; p = 0,012) (7). Als häufigste Nebenwirkung unter der Behandlung mit Ofatumumab wurden injektionsassoziierte Ereignisse registriert. «Die grosse Palette an Medikamenten mit unterschiedlichen Wirkstoffen und Anwendungsarten erlaubt es uns immer besser, jenes zu wählen, das für einen bestimmten Patienten am besten passt», erklärte Chan. Denn die Therapie einer MS sei keine Einheitstherapie, kein «one size fits all», sondern sie müsse sehr individuell ausgewählt und Nutzen sowie Risiken müssten gegeneinander abgewogen werden.
Forschungen nicht immer erfolgreich Nicht alle Bemühungen, neue MS-Medikamente zu entwickeln, sind von Erfolg gekrönt. So bestand unter anderem die Hoffnung, dass hoch dosiertes Biotin zu einer Myelinreparatur führen könnte. Eine entsprechende Phase-III-Studie war jedoch in allen Endpunkten negativ (8). Ebenfalls nicht erfolgreich war eine Phase-II-Studie mit dem Anti-Lingo-1-Antikörper Opicinumab (9). Das klinische Entwicklungsprogramm des Antikörpers wurde daraufhin eingestellt.
Gezielte Therapieoptionen für NMOSD verfügbar Auch in der Behandung der Neuromyelitisoptica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) gebe es Fortschritte, wie PD Dr. med. Anke Salmen,
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Inselspital, Universitätsspital Bern, erläuterte. Gemäss den 2015 publizierten diagnostischen Kriterien stellt der Aquaporin-4-(AQP4-)Antikörperstatus einen Bestandteil dieser Kriterien dar (10). Wie Salmen betonte, wiesen zellbasierte Assays eine deutlich höhere Sensitivität (76%) im Nachweis dieser Antikörper auf als ein ELISA (65%) oder Gewebeschnitte (59%). «Da der Antikörper extrathekal produziert wird, sollte primär Serum für die Untersuchung verwendet werden, nicht Liquor», ergänzte sie. In Bezug auf die Therapie erklärte sie, dass es zwischen MS und NMOSD hinsichtlich des Timings und der Wahl des verwendeten Therapeutikums klare Unterschiede gebe. Das betrifft die langfristige Therapie und die Therapie akuter Schübe. Bei einem akuten NMOSDSchub ist das Zeitfenster, um mit einer Schubtherapie eine Komplettremission zu erreichen, deutlich kürzer. In einer Studie konnte keine komplette Remission mehr erreicht werden, wenn eine Plasmapherese oder Immunadsorption mehr als 20 Tage nach Beginn des Schubs gestartet wurde, sodass solche schubtherapeutischen Massnahmen früh in Betracht gezogen werden müssen (11). Hinsichtlich einer Langzeittherapie betonte Salmen, dass die bei MS etablierten Therapien bei NMOSD nicht wirksam und sogar schädlich sein könnten. Mit Eculizumab und Satralizumab stehen für Patienten mit einer AQP4-IgG-positiven NMOSD nun 2 in der Schweiz zugelassene Therapieoptionen zur Verfügung. Bei Eculizumab handelt es sich um einen rekombinanten,
humanisierten, monoklonalen Antikörper, der an das humane Komplementprotein C5 bindet und die Aktivierung des terminalen Komplements hemmt (11). In der PREVENT-Studie, die ausschliesslich AQP4-IgG-positive Patienten einschloss, liess sich ein signifikanter Effekt von Eculizumab im Vergleich zu Plazebo bezüglich der Dauer bis zum Auftreten des ersten bestätigten Schubs beobachten (11). Satralizumab ist ein humanisierter, monoklonaler Antikörper, der gegen den IL-6-Rezeptor gerichtet ist (12). In den Studien SAkuraSky und SAkuraStar wurden AQP4-IgG-positive und -negative Patienten mit beziehungsweise ohne bestehende Immuntherapie untersucht. Eine signifikante Reduktion des Risikos für einen ersten bestätigten Schub unter der Therapie konnte jedoch nur für die AQP4-IgG-positiven Patienten gezeigt werden. «Hinsichtlich Nebenwirkungen der beiden Substanzen sind vor allem Infektionen von Bedeutung, meistens Infektionen der oberen Atemwege. Unter Satralizumab kann es zudem zu Zytopenien kommen», so die Referentin. Vor dem Einsatz von Eculizumab muss eine Impfung gegen Meningokokken erfolgen. Die Langzeitwirksamkeit und -sicherheit dieser neuen Substanzen sowie ihre Wirksamkeit im Vergleich zu den bisher off-label eingesetzten Optionen wie Azathioprin, Mycophenolatmofetil, Rituximab und Tocilizumab gehörten noch zu den vielen offenen Fragen auf dem Gebiet der NMOSD, so Salmen. Es seien auch keine klaren Behandlungsalgorithmen für neu diagnostizierte und stabile Patienten verfüg-
bar. Und nicht zuletzt brauche es spezifische
Studien für die Gruppe der AQP4-IgG-sero-
negativen Patienten.
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Therese Schwender
Quelle: «MS and Infectious Diseases» 23. State-of-the-ArtSymposium der Schweizerischen Multiplen Sklerose Gesellschaft, 23. Januar 2021, virtuell.
Referenzen: 1. Fachinformation Zeposia® (Ozanimod). www.
swissmedicinfo.ch. Letzter Zugriff: März 2021. 2. Fachinformation Mayzent® (Siponimod). www.
swissmedicinfo.ch. Letzter Zugriff: März 2021. 3. Comi G et al.: Safety and efficacy of ozanimod versus
interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis (SUNBEAM): a multicentre, randomised, minimum 12-month, phase 3 trial. Lancet Neurol. 2019;18:10091020. 4. Cohen JA et al.: Safety and efficacy of ozanimod versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis (RADIANCE): a multicentre, randomised, 24-month, phase 3 trial. Lancet Neurol. 2019;18:1021-1033. 5. Kappos L et al.: Siponimod versus placebo in secondary progressive multiple sclerosis (EXPAND): a double-blind, randomised, phase 3 study. Lancet 2018;391:1263-73. 6. Fachinformation Kesimpta® (Ofatumumab). www. swissmedicinfo.ch. Letzter Zugriff: März 2021. 7. Hauser SL et al.: Ofatumumab versus Teriflunomide in Multiple Sclerosis. N Engl J Med. 2020;383:546-557. 8. Cree BAC et al.: Safety and efficacy of MD1003 (high-dose biotin) in patients with progressive multiple sclerosis (SPI2): a randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3 trial. Lancet Neurol. 2020;19:988-997. 9. Cadavid D et al.: Safety and efficacy of opicinumab in patients with relapsing multiple sclerosis (SYNERGY): a randomised, placebo-controlled, phase 2 trial. Lancet Neurol. 2019; 18:845-856. 10. Wingerchuk DM et al.: International consensus diagnostic criteria for neuromyelitis optica spectrum disorders. Neurology 2015;85:177-189. 11. Kleiter I et al.: Apheresis therapies for NMOSD attacks: A retrospective study of 207 therapeutic interventions. Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm. 2018;5:e504. 12. Fachinformation Soliris® (Eculizumab), www. swissmedicinfo.ch. Letzter Zugriff: März 2021. 13. Fachinformation Enspryng® (Satralizumab), www. swissmedicinfo.ch. Letzter Zugriff: März 2021.
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