Transkript
E D I T O R I A L Jugendsuizidalität stabil hoch
25 Prozent aller Todesfälle bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden auf Suizide zurückgeführt. Sie sind in dieser Altersgruppe in westlichen Industrieländern neben Unfällen die häufigste Todesursache (1, 2). Während in der Schweiz bei Erwachsenen die Häufigkeit von Suiziden in den letzten 2 Jahrzehnten abnahm, scheint die Rate der Suizide bei den Jugendlichen mit 3,7 pro 100 000 der 10- bis 18-jährigen in der Schweiz wohnhaften Jugendlichen relativ stabil zu sein (3) und über dem europäischen Durchschnitt zu liegen (4). Im Gegensatz zu den Suiziden werden die Daten zur Häufigkeit von Suizidgedanken und Suizidversuchen bei Adoleszenten selten und kaum systematisch erfasst (was auch für das Erwachsenenalter gilt). In einer Umfrage in den 2. Klassen der Zürcher Sekundarschulen berichtete jedes 4. Mädchen und jeder 10. Knabe von Suizidgedanken. 2 Prozent der Knaben und 7,6 Prozent der Mädchen gaben an, dass sie innerhalb der letzten 12 Monate vor der Befragung versucht hätten, sich das Leben zu nehmen (5). 24,7 Prozent der platzierten Kinder im Vergleich zu 11,4 Prozent der im familiären Umfeld lebenden Kinder berichteten von Suizidgedanken, während die Häufigkeit von Suizidversuchen bei 3,6 Prozent respektive 0,8 Prozent lag (6).
Internationale populationsbasierte Untersuchungen zeigen, dass Suizidgedanken, Suizidversuche und Suizide bei Jugendlichen und bei jungen Erwachsenen in den letzten 20 Jahren zuzunehmen scheinen (7–9). Besonders besorgniserregend ist die deutliche Zunahme von bis zu 40 Prozent bei den 10- bis 24-Jährigen in den Vereinigten Staaten zwischen 2006 und 2016 (10), wobei vor allem die Rate der weiblichen Suizide bei Minderjährigen überproportional stark zugenommen hat (9, 11). Parallel dazu scheinen auch psychische Störungen generell, insbesondere jedoch depressive Verstimmungen (8) in dieser Altersgruppe zuzunehmen (7). Die teilweise deutliche Zunahme der Inanspruchnahme psychiatrischer und somatischer Notfallangebote wegen psychischer Probleme in der Schweiz, die häufig in Zusammenhang mit Suizidalität und
nicht suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) erfolgt, weist darauf hin, dass diese Entwicklung auch in der Schweiz stattfindet. Aufgrund der mangelnden systematischen Erhebung von Suizidgedanken, NSSV und Suizidversuchen bei Minderjährigen in der Schweiz kann das jedoch nicht abschliessend belegt werden. Allein in Zürich hat sich zwischen 2015 und 2020 die Anzahl der kinder- und jugendpsychiatrischen Notfalltelefonkontakte von 999 auf 2430 verzweieinhalbfacht und die Notfallkonsultationen von 365 auf 1002 fast verdreifacht. In Bern und Basel zeigen sich ähnliche Tendenzen (12). Auch das Notfalltelefon für Kinder und Jugendliche (Tel. 147) berichtet von einer deutlichen Zunahme der Inanspruchnahme seiner Dienstleistungen, insbesondere kommt es seit 2015 zu 2- bis 3-mal mehr Anfragen wegen Suizidgedanken (13).
Der Zusammenhang zwischen Suizidversuchen und vollendeten Suiziden im Erwachsenenalter ist wissenschaftlich gut belegt (14, 15). Gemäss Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation erhöht sich das Risiko für einen späteren Suizid nach einem Suizidversuch um den Faktor 40 bis 60 (1). Auch bei Jugendlichen sind Suizidversuche mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Risikofaktor für zukünftige suizidale Handlungen (16–18). In einer klinischen Studie mit Adoleszenten aus Heidelberg (D) wurde das Wiederholungsrisiko für Suizidversuche innerhalb einer ambulanten, klinischen Stichprobe auf zirka 40 Prozent beziffert (19). Suizidversuche von Adoleszenten sind mit einer deutlich erniedrigten Lebenserwartung verbunden (20), wobei davon ausgegangen werden muss, dass es bis zum Erreichen der Volljährigkeit eher zu wiederholten Suizidversuchen als zu Suiziden kommt, aber das Risiko für einen Suizid mit der Transition ins Erwachsenenalter deutlich steigt. Gregor Berger und das AdoASSIP-Konsortium stellen in ihrem Beitrag ein durch die Projektförderung Prävention in der Gesundheitsversorgung (PGV) bei Gesundheitsförderung Schweiz unterstütztes Kurzinterventionsprogramm zur Verhütung von Suizidversuchen bei Jugendlichen nach Suizidversuchen vor. Dieses Projekt wird im Verlauf des Sommers
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Foto: zVg
Gregor Berger
2021 in Zürich pilotiert und ab 2022 in der Hälfte aller Schweizer Kantone eingeführt.
Das kinder- und jugendpsychiatrische Versorgungssystem wird nicht nur von Jugendlichen mit Suizidgedanken und Suizidversuchen aufgesucht, sondern auch immer häufiger im Rahmen von nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) (21). NSSV ist neben einem Suizidversuch selbst einer der stärksten Risikofaktoren für zukünftige Suizidversuche und Suizide (22–26). NSSV hat in den letzten 2 Jahrzehnten weltweit deutlich zugenommen, besonders bei Mädchen und jungen Frauen zwischen 16 und 24 Jahren (in England von 6,5% [95%-Konfidenzintervall {KI}: 4,2–10,0] auf 19,7% [95%-KI: 15,7–24,5]) (25, 27–29). In ihrem Beitrag erläutern Franziska Rockstroh und Michael Kaess die Rolle des NSSV in der Vorhersage und der Entwicklung von Suizidalität und zeigen mögliche therapeutische Interventionen in dieser gefährdeten Gruppe von Jugendlichen auf.
Neben Suizidversuchen und NSSV in der Vergangenheit gibt es eine Reihe von weiteren relevanten Risikofaktoren, die beachtet werden sollten: Suizide in der Familie oder im näheren Umfeld, psychiatrische Erkrankungen (z. B. Depressionen, aber auch ADHS und andere externalisierende Störungen) als Komorbidität (30) oder in der Familiengeschichte (31), Suchtmittelkonsum (32, 33), Persönlichkeitsstörungen, insbesondere verbunden mit erhöhter Impulsivität (34), Migration (35), High Expressed Emotion und/oder Gewalt in der Familie (36, 37), nicht heterosexuelle Orientierung (38), Bullying/Mobbing (39) und weitere. Diese Risikofaktoren interagieren in komplexer Weise miteinander und müssen bei einer Einschätzung der Suizidalität sorgfältig erfasst werden. Die ersten 3 Monate nach Entlassung aus einer psychiatrischen Klinik (40) oder einer Notfallstation (41) sind mit einem besonders hohen Risiko für einen wiederholten Suizidversuch verbunden (42). Das gilt wahrscheinlich auch für Jugendliche (43). Eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse zeigt, dass die jährliche Rate von Suizidversuchen pro Suizid nach Entlassung mit 8,79 (6,63–12,0) sehr hoch ist (30). Martina Blaser und Alphons Schnyder stellen in ihrem Beitrag die Massnahmen vor, die im Rahmen nationaler und kantonaler Suizidpräventionskampagnen erarbeitet wurden, um diese kritischen Übergänge für die Betroffenen zu verbessern.
Schliesslich ist das Leid für Angehörige und enge Be-
kannte nach einem erfolgten Suizid immens. Bei Ju-
gendsuiziden sind häufig ganze Klassen oder
Schulen traumatisiert. Jörg Weisshaupt beleuchtet
in seinem Beitrag diesen oft vernachlässigten As-
pekt.
Während es bei medizinischen Erkrankungen im Ju-
gendalter wie Krebs, Diabetes oder Herz-Kreislauf-
Erkrankungen eine Selbstverständlichkeit ist, dass
bei ersten Anzeichen sofort Hilfe gesucht wird, be-
steht bei psychischen Erkrankungen häufig eher eine
gegenläufige Tendenz. Geäusserte Suizidgedanken
werden verharmlost, und professionelle Hilfe sowohl
von Betroffenen als auch ihrem Umfeld wird häufig
zu spät in Anspruch genommen. In einer gross an-
gelegten europäischen Suizidpräventionsstudie, bei
der 15- bis 19-jährige Jugendliche mit akuten Suizid-
plänen oder kürzlich durchgeführten Suizidversu-
chen nach einem Screening direkt zu niederschwelli-
gen Beratungsgesprächen eingeladen und gegebe-
nenfalls an professionelle Helfer verwiesen wurden,
zeigte sich nach 1 Jahr, dass lediglich 12 Prozent der
betroffenen Jugendlichen auch tatsächlich Hilfe
erhalten hatte (44). Dieser Umstand ist umso er-
schreckender, wenn man bedenkt, dass bei 15- bis
19-Jährigen durch psychische Erkrankungen wie
Depression mehr Lebensjahre verloren gehen als
bei anderen medizinischen Erkrankungen.
Wir hoffen, dass die Beiträge in dieser Ausgabe dazu
dienen, das Bewusstsein für die Früherkennung psy-
chischer Störungen im Jugendalter zu schärfen und
ihre Wichtigkeit zu erkennen.
l
Gregor Berger, Dagmar Pauli, Martina Blaser, Isabelle Häberling, Michael Kaess und Susanne Walitza
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Gregor Berger Leitender Arzt Notfalldienst/Hometreatment/Triage Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie Ambulatorien und Spezialangebote
Neumünsterallee 3 8032 Zürich
E-Mail: gregor.berger@puk.zh.ch
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