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FORTBILDUNG
AdoASSIP – ein Kurzinterventionsprogramm für Adoleszente nach Suizidversuchen
Suizidalität und nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben sich zu einem klinisch und gesundheitspolitisch relevanten Problem in dieser Altersgruppe entwickelt. In den Medien wird teilweise von einer Epidemie gesprochen (1). Jugendliche und deren Familien, aber auch im Jugendbereich aktive Akteure wie die Haus- und Kinderärzte, Lehrer, Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen, sowie Kinder- und Jugendpsychiater sind zunehmend durch die hohe Inanspruchnahme ihrer Dienstleistungen wegen Suizidalität/NSSV überfordert (2).
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Gregor Berger Martina Blaser Isabelle Häberling
von Gregor Berger, Martina Blaser, Isabelle Häberling, Anja Gysin, Konrad Michel,
Dagmar Pauli, Susanne Walitza und das AdoASSIP-Konsortium*
Beobachtungsstudien sowie randomisierte, kontrollierte Untersuchungen geben Hinweise darauf, dass präventive Ansätze in Bezug auf Suizidalität einen protektiven Effekt aufweisen (3–5). Die sorgfältige Planung der Entlassung von in der Psychiatrie hospitalisierten Patienten (6) oder die proaktive Versorgung von Jugendlichen, die sich wegen Suizidalität auf Notfallstationen präsentieren (6–8), führt zu einer Reduktion der Suizidalität. Da Suizidversuche und NSSV neben anderen Faktoren besonders relevant für die Vorhersage zukünftiger Suizidversuche oder zukünftigem Suizid sind, ist es von grosser Wichtigkeit, dass diese Gruppe von Jugendlichen als Ultrahochrisikogruppe identifiziert wird und spezifische präventive Therapieangebote gezielt für diese höchst vulnerable Patientengruppe etabliert werden. Die Implementierung von solchen Präventionsangeboten stellt jedoch eine grosse Herausforderung dar und erfolgte bisher nur sehr beschränkt (9, 10). Nationale wie auch kantonale Programme zur Suizidprävention haben eine Reihe von Massnahmen zur Reduktion von erneuten Suizidversuchen und vollendeten Suiziden implementiert, wie zum Beispiel die Kampagne «Reden kann retten» und die Broschüre «Suizidalität im Jugendalter». Im psychiatrischen Bereich für erwachsene Personen wurde die Kurzintervention ASSIP (Attempted Suicide Short Intervention Program) entwickelt (11) und in verschiedenen Kliniken eingeführt. ASSIP ist ein spezifisches Kurzinterventionsprogramm zur Prävention von weiteren Suizidversuchen und Suiziden, das in einer randomisierten Interventionsstudie eine hohe Effektivität bei guter Tolerabilität nachweisen konnte. In diese Studie wurden 120 Patienten nach Suizidversuch randomisiert. Die Hälfte erhielt zusätzlich zur üblichen psychiatrischen Behandlung 3 ASSIP-Sitzungen, danach folgten persona-
lisierte Briefe über 2 Jahre. Die Kontrollgruppe erhielt eine psychiatrische Standardbehandlung über 2 Jahre in der gleichen Einrichtung. Nach 24 Monaten hatten 41 Personen der Kontrollgruppe einen weiteren Suizidversuch unternommen, gegenüber nur fünf Personen aus der Gruppe, die die zusätzlichen ASSIP Interventionen erhielt. Dies entspricht einer Risikoreduktion von erstaunlichen 80 Prozent der Interventionsgruppe im Vergleich zur Gruppe, die die psychiatrische Standardtherapie erhielt. Trotz des dringlichen Themas Suizidalität bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen weltweit, bei denen der Suizid die dritthäufigste Todesursache nach Unfällen darstellt (12), gibt es nur wenig spezialisierte Angebote für diese Hochrisikogruppe. Der Anstieg von Notfallanrufen zu diesem Thema beim Sorgentelefon 147 der Pro Juventute und der Anstieg der Kontakte in den kinder- und jugendpsychiatrischen Notfalldiensten und in den somatischen Notfallstationen fordern jedoch die Etablierung solcher rückfallpräventiver Therapieangebote mit dem Fokus Suizidalität im Jugend- und Jungerwachsenenalter. Gezielte Massnahmen für diese Hochrisikopopulationen haben wahrscheinlich das beste Nutzen-Risiko-Profil, um wiederholte Suizidversuche und Suizide nach einem Suizidversuch zu minimieren (11, 13, 14). Im Gegensatz zum bereits existierenden Kurzinterventionsprogramm zur Suizidprävention nach Suizidversuchen im Erwachsenenalter wird nun ein altersspezifisches Kurztherapieprogramm AdoASSIP systematisch an Jugendliche angepasst und angewendet. AdoASSIP wird ab diesem Jahr in 9 Kantonen und 4 Halbkantonen (AI, AR, BE, BL, BS, GE, LU, NW, OW, SG, TG, VD, ZH) umgesetzt und durch die Gesundheitsförderung Schweiz im Rahmen der Prävention in der Gesundheitsversorgung mit 1,5 Millionen Franken mitfinanziert. Weitere Kantone haben bereits Interesse angemeldet und versuchen, die Finanzierung kantonal oder durch Stiftungen sicherzustellen. Für die Anpassung von ASSIP an Adoleszente wird gegenwärtig eine Reihe von Adaptierungen vollzogen:
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Altersgerechte Suizidprävention nach Suizidversuchen Obwohl das Risiko für einen wiederholten Suizidversuch, wie oben beschrieben, hoch ist (siehe Editorial dieser Ausgabe), nehmen viele Jugendliche nicht die empfohlenen Nachbehandlungen wahr oder brechen diese nach kurzer Zeit ab (15). In einer Schülerbefragung nahmen nur 12 Prozent der Jugendlichen nach einem Jahr noch ein therapeutisches Angebot wahr (16). Daher sollen im Rahmen des von der Gesundheitsförderung Schweiz unterstützten AdoASSIP-Projekts in den teilnehmenden Kantonen Prozesse etabliert werden, mit welchen Jugendsuizidversuche systematisch erfasst werden und bereits beim Erstkontakt mit den relevanten Akteuren das Einverständnis der Jugendlichen und deren Familien eingeholt wird, damit diese proaktiv vom AdoASSIP-Therapeuten kontaktiert werden dürfen. Dieser Aspekt geht deutlich weiter als beim ErwachsenenASSIP und soll so die Jugendlichen und deren Familien für das AdoASSIP-Präventionsprogram motivieren. Jeder teilnehmende Partnerkanton bestimmt hierfür einen kantonalen AdoASSIP-Verantwortlichen, der den Akteuren, die mit suizidalen Jugendlichen in Kontakt kommen, helfen soll, Prozesse zur Einbindung in eine Therapie und eine Überweisung ins AdoASSIP zu vereinfachen.
Einführung und Einverständnisprozess Aufgrund des altersbedingten Entwicklungsstands sowie der psychosozialen und rechtlichen Gegebenheit wird eine an diese Altersgruppe angepasste Variante des ASSIP etabliert. Der Einbezug der medizinisch sorgeberechtigten Eltern und des Umfelds ist bei Jugendlichen in der Regel wichtig und soll im Rahmen des AdoASSIP-Programms dessen nachhaltige Wirkung noch verstärken. Während bei Erwachsenen nach einem Suizidversuch die Erhebung des Einverständnisses und die Intervention allein mit dem mündigen Patienten durchgeführt werden können, ist bei Jugendlichen der Einbezug der Eltern beziehungsweise des Sorgeberechtigten eine Notwendigkeit, da in der Regel medizinische Interventionen, die die körperliche, psychosoziale oder seelische Integrität des Jugendlichen beinhalten, das Einverständnis des Jugendlichen und der Eltern beziehungsweise des Sorgeberechtigten benötigen. Ein Suizidversuch ist aus unserer Sicht eine Handlung, die die körperliche und seelische Integrität des Jugendlichen beeinträchtigt. Jede Intervention, die diese Integrität und eine durch die Suizidalität entstehende Beeinträchtigung aktiv zu beheben versucht, benötigt daher aus unserer Sicht auch das Einverständnis des Betroffenen selbst und der sorgeberechtigten Eltern. Für das AdoASSiP wird im Rahmen des Präventionsprogramms das im Erwachsenenbereich verwendete Material sprachlich, juristisch und methodisch an diese Lebenphase angepasst. Weiter wird eine zusätzliche Sitzung in Form eines psychoedukativen Familiengesprächs angeboten, um auch die Sorgeberechtigten und weitere relevante Bezugspersonen des Helfernetzes aktiv in die Prävention zukünftiger Suizidversuche einzubeziehen. Hierbei sind jedoch die familiäre Situation und der Patientenwille individuell zu berücksichtigen wie zum Beispiel bei Gewalt in der Familie, hoch strittigen Familienkonstellationen oder psychisch schwer kranken Elternteilen. Jugendliche nach Suizidversuchen und ihre Sorgebe-
rechtigten, die sich zur Durchführung des AdoASSIP bereit erklären, sollen das AdoASSIP, wenn möglich, innerhalb von 2 Wochen nach erfolgtem Suizidversuch beginnen und in wöchentlichen Abständen durchführen. Da die Wirksamkeit im Erwachsenenalter jedoch auch noch nach längeren Zeitabständen nachgewiesen werden konnte, ist eine spätere Aufnahme des Programms ebenfalls möglich (17, 18). Die Intervention sollte, wenn immer möglich, zusätzlich zu einer bereits bestehenden Therapie erfolgen. Falls noch keine Therapie etabliert ist, gehört es zu den Aufgaben des AdoASSIPTherapeuten, den Jugendlichen und deren Familien zu unterstützen und eine reguläre Therapie zu etablieren.
Ablauf der AdoASSIP-Intervention Information und Einverständnis zu AdoASSIP Sobald wie möglich soll ein Akteur, der von einem Suizidversuch eines Jugendlichen erfährt, den Jugendlichen und die Sorgeberechtigten informieren, dass mit AdoASSIP ein hoch spezialisiertes Präventionsprogramm exisitiert, das zukünftige Suizidversuche und Suizide verhindern soll. Ohne eine explizite Ablehnung des Jugendlichen und/oder der sorgeberechtigten Eltern soll der auf Suizidprävention spezialisierte Mitarbeitende (ab hier als AdoASSIP-Therapeut bezeichnet) über den Suizidversuch informiert werden. Der Akteur, der vom Suizidversuch erfahren hat, gibt hierfür auch einen Flyer, der das AdoASSIP vorstellt, an den Jugendlichen und die Sorgeberechtigten ab. Der AdoASSIP-Therapeut nimmt anschliessend Kontakt mit dem Jugendlichen und den Sorgeberechtigten auf und stellt das Präventionsprogramm zur Verhütung zukünftiger Suizidversuche und Suizide vor. Nach dem Einverständnis zur Teilnahme an diesem Präventionsprogramm wird ein Termin für die erste Sitzung mit dem Jugendlichen vereinbart.
1. Sitzung Nach dem schriftlichen Einverständnis des Jugendlichen und seiner Eltern erzählt der Jugendliche, wie es zum Suizidversuch kam. Dieses Interview wird auf Video aufgenommen. In diesem Narrativ soll der Jugendliche möglichst frei und so detailliert wie möglich den Ablauf, seine Gefühle, seinen Schmerz und die Handlungen, wie es zum Suizidversuch kam, beschreiben. Am Ende der Sitzung erfolgt dann jeweils eine Einschätzung der Suizidalität durch den AdoASSIP-Therapeuten. Bei akuter Suizidalität und mangelnder Absprachefähigkeit werden entsprechende Massnahmen eingeleitet, wie beispielsweise die Überweisung an den kinder- und jugendpsychiatrischen Notfalldienst. Bisherige Erfahrungen zeigen, dass das Erzählen des Suizidversuchs durch die Patienten als positiv bewertet wird. Sie können ihre Gedanken, Gefühle und ihren Schmerz jemandem mitteilen, fühlen sich in der Regel wahrgenommen und sind dankbar, dass sie ihre innere Erlebniswelt jemandem anvertrauen können.
Zwischen der 1. und der 2. Sitzung Der AdoASSIP-Therapeut selektioniert die Videosequenzen, die in der 2. Sitzung mit dem Jugendlichen gemeinsam angeschaut und analysiert werden sollen. Wenn das Videonarrativ kurz ist, kann in der 2. Sitzung auch das gesamte Video angeschaut werden.
Anja Gysin Konrad Michel Dagmar Pauli Susanne Walitza
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0. Suizidversuch einer/s Jugendlichen
1. Case-Identifikation und Einverständnis
zu Überweisung
2. Kontaktaufnahme mit AdoASSIP intake
und Zuweisung
5. Durchführung AdoASSIP
(Sitzung 1–4)
4. Einverständnis des Jugendlichen und der Sorgeberechtigten
3. Kontaktaufnahme AdoASSIP-Therapeut
mit Jugendlichem
6. Sicherstellung der therapeutischen Anbindung
7. Follow-up-Kontakte ( Woche 1 und 2, dann
vierteljährlich während 2 Jahren)
Abbildung: Ablauf der Intervention mit AdoASSIP
2. Sitzung In der 2. Sitzung werden das Video respektive die ausgewählten Videosequenzen gemeinsam angeschaut, und es wird darüber reflektiert. Hierfür sitzen der AdoASSIP-Therapeut und der Jugendliche gemeinsam vor dem Bildschirm, beide als «Zuschauer» und «Diskutanten». Mit diesem «gemeinsam vor dem Bildschirm sitzen» soll ein kollaborativer Ansatz auch durch das Setting gefördert werden. Ziel der 2. Sitzung ist eine detaillierte Rekonstruktion der Geschichte des Suizidversuchs bis zur suizidalen Handlung. Hierbei sollen wichtige Themen, die mit dem Suizidversuch in Zusammenhang stehen, benannt werden. Die Analyse der Gedanken, Emotionen, vegetativen Symptome, und das damit verbundene Verhalten sind zentrale Bausteine, um gemeinsam den Suizidversuch zu verstehen, zu verarbeiten und ein Verständnis dafür zu gewinnen, wie der Jugendliche in den «Suizidmodus» hereingerät (Aufdecken von persönlichen Warnzeichen). Dieser Ansatz soll weiterhelfen, gemeinsam Schutz- und Resilienzfaktoren zu identifizieren. Am Schluss erhält der Jugendliche als Hausaufgabe ein Handout mit dem Titel «Suizid ist keine überlegte Handlung» zum Lesen und zur schriftlichen Bearbeitung bis zur 3.Sitzung. Wir adaptieren hierfür eine spezielle App (Robin Z), die an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich für das Monitoring von Symptomen bei Jugendlichen mit hohem Risiko für psychische Erkrankungsbilder etabliert wurde (19) und im Apple- und im Google-Store heruntergeladen werden kann. Vor Abschluss der 2. Sitzung erfolgt eine erneute Einschätzung der Suizidalität durch den AdoASSIP-Therapeuten. Bei akuter Suizidalität und mangelnder Absprachefähigkeit werden entsprechende Massnahmen eingeleitet.
Zwischen der 2. und der 3. Sitzung Der Jugendliche arbeitet an der Hausaufgabe «Suizid ist keine überlegte Handlung». Der AdoASSIP-Therapeut erarbeitet den Entwurf einer schriftlichen Zusammenfassung/Fallkonzeption (ca. ½ bis 1 Seite im Hinblick auf die 3. Sitzung.
3. Sitzung Zuerst wird der in der 2. Sitzung abgegebene Text («Suizid ist keine überlegte Handlung») besprochen. Dann wird die schriftliche Zusammenfassung/Fallkonzeption überarbeitet, sowie längerfristige Ziele, individuelle Warnsignale und Notfallstrategien gemeinsam formuliert. Der Patient erhält diese Liste entweder in Form eines Leporellos in Kreditkartenformat auf Papier oder elektronisch in der Robin-Z-App oder als Kombination von beidem. Sowohl das Leporello als auch die Robin-Z-App enthalten Notfallnummern, bei Robin Z können diese durch einen Klick direkt aktiviert werden. Jugendliche werden dazu ermuntert, die App oder das Leporello stets bei sich zu haben. Am Ende des Gesprächs wird das kommende Familiengespräch vorbereitet, insbesondere wie respektive welche Teile der Fallkonzeption und des Krisenplans mit den relevanten Bezugspersonen in der 4. Sitzung besprochen werden sollen.
Optionale zusätzliche Einzelsitzung Je nachdem kann eine weitere Einzelsitzung notwendig oder gewünscht werden, insbesondere wenn die oben aufgeführten Aufgaben der 3. Sitzung nicht innerhalb der vorgesehenen Zeit durchgeführt werden konnten oder bei komplexen familiären Situationen, die eine ausführliche Planung der psychoedukativen Familiensitzung notwendig machen. In einer solchen zusätzlichen Sitzung können bei Bedarf auch das Video beziehungsweise die Videosequenzen nochmals im Sinn einer Verstärkung angeschaut werden und die in den letzten zwei Sitzungen entwickelten Strategien geübt und vertieft werden.
4. Sitzung Diese wird speziell für AdoASSIP eingeführt. Je nach familiärer Situation werden die relevanten Bezugspersonen eingeladen. Die Jugendlichen stellen den Eltern, mit Unterstützung des AdoASSIP-Therapeuten, ausgewählte Teile der Fallkonzeption und vor allem die entwickelten Sicherheitsstrategien vor. Auf die Fragen der Eltern wird entsprechend den vorbesprochenen Vorbehalten des Jugendlichen eingegangen. Wenn der Jugendliche einverstanden ist, kann den Eltern die Liste mit den Langzeitzielen und Notfallstrategien abgegeben werden. Zudem ist angedacht, dass, sofern sinnvoll und möglich, der vor- beziehungsweise nachbehandelnde Therapeut in die 4. Sitzung einbezogen wird. Es kann bei hoch strittigen Familien gegebenenfalls auch sinnvoll sein, dass zwei separate Sitzungen mit getrennten Elternteilen durchgeführt werden, falls diese nicht in der Lage sind, sich im gleichen Raum auf die Probleme des Kindes zu fokussieren, sondern davon ausgegangen werden muss, dass die Sitzung durch die Probleme auf Elternebene nicht regelgerecht durchgeführt werden kann. Wichtig ist, dass der AdoASSIP-Therapeut nicht die Rolle eines Familientherapeuten übernimmt, sondern sich auf den Suizidversuch und die daraus erarbeiteten therapeutischen und präventiven Massnahmen beschränkt. Der AdoASSIP-Therapeut grenzt sich bewusst von der Rolle des regulären Therapeuten ab, der gegebenenfalls längerfristig an solchen Problemen mit dem Familiensystem arbeitet.
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Weitere geplante Kontakte Im Rahmen des AdoASSIP ist vorgesehen, dass der Therapeut dem Jugendlichen im ersten Jahr alle 3 Monate einen halb standardisierten Brief schreibt beziehungsweise mit dem Jugendlichen über ein von ihm gewünschtes Medium in Kontakt tritt. Für diese Briefe oder Nachrichten gibt es eine auf Jugendliche angepasste Vorlage, die auf die jeweiligen Umstände personalisiert und entweder in Papierform oder je nach Wunsch auch elektronisch übermittelt werden kann. Ein erster telefonischer Kontakt soll nach 1 und 2 Wochen stattfinden, um sicherzustellen, dass der Jugendliche die gegebenenfalls neu aufgegleiste therapeutische Unterstützung wahrnimmt. Eine ausführlichere Anleitung für das ASSIP-Therapieprogramm für Erwachsene findet sich im Manual von (17). Für die AdoASSIP-Altersgruppe werden Manual und schriftliche Dokumente speziell angepasst und überarbeitet. Wir erwarten, dass diese Anfang 2022 zur Verfügung stehen.
Erwartete Vorteile Durch das von der Gesundheitsförderung Schweiz unterstützte Präventionsprogramm für Adoleszente nach Suizidversuchen wird es erstmals möglich sein, eine spezifische und hoch spezialisierte Intervention für Jugendliche nach Suizidversuchen anzubieten, die über die übliche Behandlung hinausgeht beziehungsweise diese ergänzt. In der Somatik ist es bereits heute üblich, dass hoch spezialisierte Verfahren von Experten angeboten werden, aber die längerfristige Therapie wieder an den bisher zuständigen Behandler zurückvermittelt wird. Aus unserer Sicht entspricht AdoASSIP einer solch hoch spezialisierten Intervention durch geschulte Experten. Da die reguläre Therapie weitergeführt wird beziehungsweise eine reguläre Therapie als Teil der Intervention etabliert wird, gehen wir davon aus, dass ein solcher Ansatz innerhalb der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie mehr als bisher den spezifischen und akuten Bedürfnissen gerecht wird. Doch sprechen neben den empirischen Daten auch andere Argumente für eine von der regulären Therapie abgespaltete und eigenständige hoch spezialisierte Intervention ausserhalb des regulären Settings. Eine suizidale Krise ist per se traumatisch, nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für deren Eltern und deren Umfeld sowie auch – falls eine Therapie bestand – für den involvierten Therapeuten. Durch die Möglichkeit, AdoASSIP ausserhalb des therapeutischen Prozesses anzubieten, kommt es auch zur Unterstützung und gegebenenfalls zur Entlastung des Therapeuten. Die Expertise zur Erstellung eines Notfallplans ist zwar wahrscheinlich bei den meisten Therapeuten vorhanden, doch die konzeptuelle Einbettung inklusive Follow-up-Untersuchungen und begleitender App bieten ein hohes Mass an Professionalität, die nicht nur dem Jugendlichen, sondern auch seinem Therapeuten zugutekommt. Zudem erhalten das Helfernetz und der Therapeut eine Kopie des Notfallplans. In der Regel ist der Therapeut auch ein integraler Bestandteil des Notfallplans, was dessen Integration in AdoASSIP sicherstellt. Neben dem individuellen Nutzen besteht auch ein gesellschaftlicher und struktureller Beitrag an die Psychiat-
rieplanung. Es wird erstmals möglich sein, eine bessere Schätzung zur Anzahl Suizidversuche sowie Informationen zu deren Verläufen in den an dem Projekt beteiligten Kantonen zu erhalten. Je mehr Akteure an diesem Versorgungsprojekt teilnehmen, desto repräsentativer wird es möglich sein, einen Eindruck zur Anzahl Suizidversuche und zum Anteil Jugendlicher, der im Anschluss eine Behandlung wahrnimmt, zu erhalten. Wir gehen davon aus, dass bei schweren, medizinisch behandlungsbedürftigen Suizidversuchen die grossen Institutionen wie die Kinderspitäler oder die somatischen Notfallstationen, aber auch die kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken ein intrinsisches Interesse zeigen werden, diese vulnerable Gruppe von Ultrahochrisikopatienten für wiederholte Suizidversuche ins AdoASSIP zu überweisen und somit deren Versorgung nach Entlassung sicherzustellen. Auch der Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatern, die Minderjährige nach Suizidversuchen betreuen, sowie mit Kinder- und Hausärzten, niedergelassenen Psychologen und Psychotherapeuten kommt eine grosse Bedeutung zu. Hier könnte zwar eine gewisse Angst entstehen, dass AdoASSIP als alternative statt ergänzende Intervention verstanden wird. Es wird ganz entscheidend sein, dass die AdoASSIP-Therapeuten und die Vertreter der kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken die involvierten Akteure proaktiv informieren und erklären, dass AdoASSIP eine die reguläre Therapie ergänzende hoch spezialisierte Intervention ist, aber die Betreuung beim jeweiligen Therapeuten bleibt. Für die notwendige proaktive Kommunikation zum AdoASSIP wird ein Kommunikationskonzept erstellt, das auch von der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie (SGKJPP) unterstützt wird. Neben den klinischen Vorteilen ermöglicht es AdoASSIP, jugendspezifische Risiko- und Schutzfaktoren für Suizidversuche und Suizide zu identifzieren. Eine Evaluation des Einflusses der Kurzintervention AdoASSIP auf die Psychopathologie, die Lebensqualität, das Funktionsniveau und die Zufriedenheit der Jugendlichen, auf ihre Familien und Zuweiser ist ein integraler Bestandteil des Gesamtprojekts. Schliesslich hoffen wir, dass ein effektives Präventionsprogramm wie AdoASSIP zu einer Reduktion von Suizidversuchen und Suiziden bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen führt. Ausserdem verbessert es die Vernetzung der Akteure entlang der Versorgungskette. Wir gehen davon aus, dass diese Effekte auch durch die von Gesundheitsförderung Schweiz umgesetzte unabhängige Evaluation nachgewiesen werden können. Zudem wird die Wirtschaftlichkeit von AdoASSIP – das schriftliche Einverständnis der Jugendlichen und deren Sorgeberechtigten vorausgesetzt – in Zusammenarbeit mit den grössten Schweizer Krankenkassen genauer evaluiert werden. Zusammenfassend wird die Einführung von AdoASSIP zu einer Sensibilisierung und Entstigmatisierung der Jugendsuizidalität beitragen, einerseits durch die Fortbildungen/Schulungen, andererseits durch die Etablierung von Prozessen, die den Umgang von Akteuren mit Suizidversuchen im Jugendalter professionalisieren werden. Zusätzlich kann zuweisenden wie auch nachbehandelnden Therapeuten, die mit suizidgefährdeten
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Jugendlichen arbeiten, Unterstützung geboten werden, ohne dass ein Wechsel der Fallführung erforderlich ist oder die therapeutische Beziehung darunter leidet. Des Weiteren werden durch die Behandlung der Jugendlichen, die einen Suizidversuch hinter sich haben, verschiedene soziale und schulische Institutionen entlastet, die in der Regel im Umgang mit Suizidversuchen überfordert sind. Nicht zuletzt können durch die Präventionsmassnahme AdoASSIP auch Kosten der öffentlichen Hand und insbesondere im Gesundheitsbereich reduziert werden. Wenn 300 Jugendliche nach Suizidversuchen pro Jahr am Programm teilnehmen und etwa jeder fünfte einen Suizidversuch wiederholen würde, müssten wir von etwa 70 erneuten Suizidversuchen pro Jahr ausgehen. In der Studie von Gysin et al., 2016, wurde die Häufigkeit der Suizidversuche durch ASSIP von 26,7 auf 8,3 Prozent reduziert. Das würde bedeuten, dass mehr als 40 behandlungsbedürftige Suizidversuche verhindert werden. Bei Kosten von 19 000 Franken pro Suizidversuch wären dies jährliche Einsparungen von 760 000 Franken. Die Bereitschaft und die Zusammenarbeit aller Partnerkantone ermöglichen ein hoch spezialisiertes, spezifisches Angebot für eine Hochrisikogruppe von Jugendlichen und deren Familien, die unter einem sehr hohen Leidensdruck stehen. Dieses Angebot hilft den Jugendlichen und ihren Familien, aber auch dem Helfernetz und verhindert im besten Fall auch Traumatisierungen des betroffenen Umfelds. Dank der Unterstützung
*AdoASSIP-Konsortium
Antragsteller ZH: PD Dr. Gregor Berger, KD Dr. Dagmar Pauli, Prof. Dr. Susanne Walitza: Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich
Partnerkantone (alphabetisch) BE: Prof. Dr. Michael Kaess, PD Dr. Jochen Kindler: Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie & Psychotherapie UPD Bern BS/BL: Prof. Dr. Alain Di Gallo, Evelyn Herbrecht; Dr. Brigitte Contin: Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychosomatik des Universitätskinderspital beider Basel (UKBB) GE: Prof. Dr. Nadia Micali, Dr. Anne Edan, Eléonore Anzalone: MALATAVIE-Unité de crise, Département de la Femme, de l’Enfant et de l’Adolescent LU (OW/NW): Dr. Oliver Bilke, Dr. Conrad Frey: Luzerner Psychiatrie LUPS, Kinder- & Jugendpsychiatrie, Luzern SG (AI/AR): Dr. Ulrich Müller Knapp: Klinik Sonnenhof; Dr. Suzanne Erb: Kinder und Jugendpsychiatrischer Dienst TG: Dr. Bruno Rhiner, Amir Yamini: Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst KJPD TG und Notfallstationen Frauenfeld und Münsterlingen TG: PD Dr. Lars Wöckel, Clienia Littenheid (KJP Vertragsklinik vieler weiterer Kantone) VD: Prof. Dr. Kerstin von Plessen, Dr. Carole Kapp: Département de psychiatrie, CHUV Prilly ZH: Antragsteller und Dr. Stephan Kupferschmid: Integrierte Psychiatrie Winterthur IPW, Kanton Zürich
von Gesundheitsförderung Schweiz (QR-Link) ist es
möglich, hier ein einzigartiges schweizweites Präven-
tionsprogramm zu etablieren.
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Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Gregor Berger Leitender Arzt Notfalldienst/Hometreatment/Triage Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie Ambulatorien und Spezialangebote
Neumünsterallee 3 8032 Zürich
E-Mail: gregor.berger@puk.zh.ch
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Gesundheitsförderung Schweiz: AdoASSIP https://www.rosenfluh.ch/qr/adoassip
Suizidpräventionsexperten ASSIP-Experten/-Berater Prof. Dr. Konrad Michel, Dr. Anja Gysin-Maillard (ASSIP), Martina Blaser (Suizidprävention ZH)
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