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Resilienz in der Coronakrise
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Undine Lang
Isolation, Einsamkeit, Unvorhersehbarkeit, Unsicherheit, Arbeitsplatzverlust, physische Distanzierung, Reduktion des Einkommens, unklare Zukunftsaussichten, ein erhöhter Alkoholkonsum, Inaktivität, weniger Unterstützung durch die Familie und Freunde sowie auch eine Permanenz dieser Krise haben einen Einfluss auf die Psyche. Um Krisen zu bewältigen, spielt es eine Rolle, ob Menschen auf soziale und mentale Ressourcen zurückgreifen können, um aus einer Krisensituation neue Entwicklungspotenziale zu schöpfen. Diese Fähigkeit wird auch als Resilienz (Widerstandsfähigkeit) bezeichnet. Tatsächlich enthält das chinesische Schriftzeichen für Krise zwei Silben, die, einzeln gelesen, die Worte Gefahr und Chance bedeuten. Das Thema Resilienz gewinnt in Zeiten der Coronakrise eine neue Bedeutung und birgt ein grosses Potenzial.
von Undine Lang
Die Coronakrise führt zu einem Anstieg von Stresssymptomen
I n der unter der Leitung von Prof. Dominique De Quervain von der Universität Basel durchgeführten Corona-Stress-Studie geben etwa die Hälfte der Schweizer an, vermehrt Symptome von Stress, Angst oder Depression zu empfinden (1). Der Anteil der Bevölkerung, die schwere depressive Symptome erlebte, war von 3,4 Prozent vor der Krise auf 9,1 Prozent im Lockdown gestiegen (Brief Patient Health Questionnaire [PHQ-9]). Diese Situation deckt sich mit den neuesten internationalen Metaanalysen (2). Dass diese erste Welle in unterschiedlichen Regionen keine identischen Auswirkungen auf die Psyche hatte und auch das Gesundheitswesen nicht sofort von psychischen Erkrankungen überschwemmt wurde, war zu erwarten, da psychische Erkrankungen oft einen Vorlauf von vielen Jahren haben, bis Menschen eine Behandlung beanspruchen. Ausserdem wirken sich psychosoziale Konsequenzen der Krise deutlich verzögert aus. So beträgt zum Beispiel weltweit die erwartete Anzahl der Arbeitsplatzverluste durch COVID-19 zwischen 5,3 und 24,7 Millionen (3). Der Effekt der Arbeitslosigkeit auf die Resilienz und die psychische Stabilität ist erheblich. So hat man in den Jahren 2000 bis 2011 in 63 Ländern nachgewiesen, dass der Verlust des Arbeitsplatzes das Suizidrisiko um 20–30 Prozent erhöhen kann (3). Weltweit könnte also – extrapoliert – der Anstieg der Arbeitslosigkeit durch die Coronakrise zwischen 2135 und 9570 zusätzliche Suizide pro Jahr bedeuten (3).
Wie stark Menschen durch die Coronakrise beeinträchtigt sind, hängt von der individuellen Resilienz ab Wie stark Menschen von der Coronakrise beeinträchtigt sind, hängt von Resilienzfaktoren ab (4). Bei etwa 6000 Studienteilnehmern in Italien zeigte sich, dass das Gefühl, das eigene Leben ergebe einen Sinn, Ge-
lassenheit oder auch Eigenständigkeit vor Beeinträchtigungen während der Krise schützen können (4). Antonovsky hat in den 1980er-Jahren das Kohärenzgefühl als wichtigen Faktor der seelischen Gesundheit definiert. Dieses Gefühl besagt, dass eine Person die Zusammenhänge des Lebens versteht, überzeugt ist, diese gestalten zu können, und an den Sinn des Lebens glaubt. Bei etwa 3000 Studienteilnehmern prädizierte das Kohärenzgefühl während der Coronakrise ein besseres Outcome (5). Tatsächlich zeigt sich in Studien rund um die Welt, dass Unterstützung durch Angehörige und Freunde, Aktivitäten, Spiritualität und das Gefühl eines Lebenssinns in der COVID-19-Pandemie essenziell sind (6).
Psychosoziale Faktoren tragen zu einer verbesserten Resilienz bei Frauen leiden etwa doppelt so häufig an psychischen Erkrankungen wie Ängsten und Depressionen als Männer (7), insofern scheinen Männer eine etwas höhere Resilienz aufzuweisen. Einen positiven Effekt auf die Resilienz hat das Aufwachsen in ländlicher Umgebung (8). Grünflächen in Städten, also beispielsweise innerstädtische Bäume, Rasenflächen, Blumenbeete oder Parks, sind wichtige schützende Faktoren für das psychische Wohlbefinden (9). Ein bestehender Arbeitsplatz ist einer der wichtigsten psychischen Stabilisatoren und Resilienzfaktoren (3). Am Arbeitsplatz sind es mangelnde Anerkennung und Wertschätzung durch den Vorgesetzten, wenig Kontrolle zu haben bei gleichzeitig hoch empfundener Belastung, seine Rolle nicht zu erkennen, Konflikte mit Kollegen und Einsamkeit, die zu Belastungen führen (10). Eine ganz wichtige Ressource, um psychisch und körperlich gesund zu bleiben, sind Freundschaften, die gepflegt werden. Freunde stellen einen Schutz vor psychischen Erkrankungen dar, und hier sind es vor allem einige gelebte Freundschaften, die mit regelmässigem Kontakt einhergehen (11, 12).
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Kontakte mit Freunden, ein Austausch und das Erleben von Verständnis, Anteilnahme und emotionaler Unterstützung sorgen dafür, dass Stresserlebnisse weniger bedrohlich erlebt werden (13). Auch verheiratet zu sein, stellt insbesondere für Männer einen Schutzfaktor vor psychischen Erkrankungen dar (14), ebenso eine gute körperliche Gesundheit (15). Auch Haustiere sind ein Resilienzfaktor, so sorgen beispielsweise Hunde für einen niedrigeren Blutdruck, weniger Übergewicht, eine höhere Lebenserwartung und eine geringere Sterblichkeit nach schweren Erkrankungen. Es zeigte sich ausserdem, dass im klinischen Setting Hunde psychische Symptome wie Angst und Depression verbessern können (16) und ein einstündiger Kontakt mit einem freundlichen Hund einmal pro Woche Heimbewohner vor Depressionen schützen kann (17). In einem Übersichtsartikel, der über 5000 wissenschaftliche Artikel umfasst, ergibt sich auch für religiöses Zugehörigkeitsgefühl ein Schutz bezüglich Depressionen, Abhängigkeitserkrankungen, Suiziden und stressassoziierten Erkrankungen (18).
Es gibt konkrete Verhaltensweisen, die die Resilienz erhöhen können Eine Verhaltensweise, die die psychische Gesundheit aufrechtzuerhalten hilft, ist beispielsweise Sport. Sport schützt vor psychischen und körperlichen Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Osteoporose, Rückenschmerzen oder Arthritis sowie Übergewicht. Fernsehkonsum und langes Sitzen schaden umgekehrt der psychischen Gesundheit und senkt die Lebenserwartung (19). Neben Psychotherapie und Pharmakotherapie gehört Sport mittlerweile zu den Behandlungsleitlinien sämtlicher psychiatrischer Erkrankungen. Zwar ist die Ernährung noch nicht so ausführlich in randomisierten, kontrollierten, klinischen Studien untersucht, aber es gibt bereits Hinweise, dass eine gesunde mediterrane Kost vor psychischen Erkrankungen schützen kann (12, 20); Diätinterventionen sind in der antidepressiven Therapie erfolgreich (12, 20). Teilweise können Nahrungsergänzungsmittel helfen, die Psyche zu stabilisieren, zum Beispiel die Gabe von Fettsäuren; häufig kann ein Ausgleich von häufigen Mangelerscheinungen wie Vitamin B12, Folsäure, Vitamin D, Eisen, Zink oder Vitamin B1 zu einem verbesserten Wohlbefinden führen (21). Für viele Hobbys wurde gezeigt, dass sie als Primärprophylaxe geeignet sind und die Resilienz erhöhen können. Die Datenlage reicht von Tanzen, Stricken, Golf, Gärtnern, Musizieren oder Musik hören, Malen bis zu Kampfsportarten (12). Insbesondere auch Yoga und Meditation haben nachweisbare Effekte auf die psychische Gesundheit gezeigt (12). Ein gesunder Schlaf prädiziert ausserdem die psychische Gesundheit, er schützt davor, dass Stressbelastungen zu negativer Stimmung führen (22), fördert die Ausgeglichenheit und beugt Gefühlsausbrüchen vor (12).
Stärken zu stärken, kann in der Krise psychischen Erkrankungen vorbeugen Das Wandern von Gedanken, mit dem sich Menschen in etwa 50 Prozent ihrer Zeit beschäftigen, kann unglücklich machen und Depressionen vorausgehen (23). Das Kreisen von negativen Gedanken ist gemäss 25 von 30
Studien mit einem späteren Auftreten von Depressionen, Angst und Stress verbunden (24). Entsprechend sind Präsenz und Achtsamkeit wirksame Methoden, diesem Leidensdruck vorzubeugen. Verschiedene Studien zeigten einen positiven Einfluss von Dankbarkeit auf psychische Symptome bei Depressionen, Psychosen und gesunden Menschen (12). Dankbarkeit, Altruismus und das Gefühl einer Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns schützte bei 2000 Veteranen vor Folgestörungen nach schweren Traumata (25). Auch Neugier geht als weitere positive Triebkraft mit positiven subjektiven Erfahrungen einher und wirkt sich auf Suizidalität, Stress-, Angst- und Depressionssymptome oder Schlafstörungen positiv aus (26). Optimismus schützt vor Depressionen und Angststörungen und ist mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit verbunden, sich das Leben zu nehmen. Beispielsweise führen positive Erwartungen für die Zukunft zu weniger depressiven Symptomen und Stresssymptomen (12). Eine weitere Eigenschaft, die in Krisenzeiten Schutz bietet, ist die Empathiefähigkeit, die mit der sozialen Vernetzung und der empfundenen Lebensqualität eng zusammen hängt (12). Emotionale Anteilnahme scheint eine starke Voraussetzung für Glück, Wohlbefinden, Gesundheit und Lebenserwartung von Menschen zu sein (12). Auch Humor schützt vor Depressionen und Stress und scheint über Schwierigkeiten am Arbeitsplatz hinwegzuhelfen (12). In einer Übersichtsarbeit, die 6000 Studienteilnehmer aus 18 Studien umfasste, zeigte sich auch die Fähigkeit, sich selbst und anderen zu vergeben, als eine Ressource, welche das psychologische Wohlbefinden, die körperliche und die psychische Gesundheit steigern kann (27).
Die Acceptance-Commitment-Therapie
ist geeignet, um Stress in der Krise zu
bewältigen
Zur Bewältigung der Coronakrise hat die World Health
Organization ein Brevier, basierend auf der Accep-
tance-Commitment-Therapie, herausgegeben (28). Die-
ses fusst auf 6 inhaltlichen Strategien: «sich erden», «sich
aushaken», «nach seinen Werten handeln» «sich enga-
gieren», «Platz machen» und «freundlich sein». Ziel der
Intervention ist es, die Fähigkeit zu entwickeln, als be-
wusster Mensch in umfassender Weise zum gegenwär-
tigen Augenblick in Kontakt zu treten. Ausserdem soll
das Verhalten überdacht, beibehalten oder verändert
werden, um die als wertvoll eingeschätzten Ziele zu er-
reichen. Symptome sollen nicht länger vermieden wer-
den, sondern sich in vorübergehende unangenehme
psychologische Ereignisse verwandeln, die nicht mehr
so viel Raum einnehmen. Stattdessen sollen Werte ver-
folgt, Ziele hinterfragt und dadurch eine Bereicherung
und Sinnhaftigkeit des Weges, den wir gehen, erfahren
werden (12, 28).
l
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Undine Lang Direktorin der Klinik für Erwachsene und der Privatklinik Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Wilhelm-Klein-Strasse 27 4002 Basel
E-Mail: undine.lang@upk.ch
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