Transkript
FORTBILDUNG
Neurologisches Management bei COVID-19
«Immuntherapien sollten weitergeführt werden»
Vor rund einem Jahr hat die Coronapandemie die Schweiz erreicht. Seither wurden Tausende Fälle behandelt, und es zeigte sich, dass COVID-19 auch neurologische Folgeerscheinungen hat. Der Präsident der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft, Prof. Hans Jung, Klinik für Neurologie, Universitätsspital Zürich, erläutert im Interview, welche Folgen seither bei den Patienten aufgetreten sind, welche Patienten besonders gefährdet sind und wie mit bestehenden Therapien verfahren werden soll.
Foto: zVg
Hans Jung
Nützliche QR-Links: Schweizerische Neurologische Gesellschaft: Empfehlungen zu COVID-19 https://www.rosenfluh.ch/ qr/sng-covid-19
Multiple Sklerose Gesellschaft https://www.rosenfluh.ch/ qr/ms-covid-19
Welche neurologischen Auswirkungen kann COVID-19 haben? COVID-19 hat sehr viele neurologische Auswirkungen. Deshalb ist es wichtig, dass die niedergelassenen Neurologen diese kennen und erkennen. Das kann verschiedene Ebenen betreffen. Im peripheren Nervensystem kann es Auswirkungen auf die Muskulatur haben, zu einem Guillain-Barré-Syndrom oder zu einer Myositis führen. Im zentralen Nervensystem kann es häufig Geruchs- und Geschmackssinnstörungen, Kopfschmerzen, Schwindel und Enzephalopathien auslösen, deutlich seltener direkte Auswirkungen haben, wie beispielsweise Enzephalitiden oder Meningoenzephalitiden. Eine der wichtigsten Auswirkungen von COVID-19 ist aber jene auf das zerebrovaskuläre System.
Was passiert bei einem schweren COVID-19-Verlauf? Bei schweren COVID-19-Verläufen kommt es zu einer erhöhten Blutgerinnungsneigung, die zu thromboembolischen Komplikationen wie zum Beispiel Hirnschlag oder Sinusvenenthrombosen führen können. SARSCoV-2 schädigt auch das Endothel der kleineren Hirngefässe, was zu einer Gefässinnenwandentzündung oder -erkrankung und zu chronischen Durchblutungsstörungen führen kann.
Welches sind die häufigsten neurologischen Manifestationen in diesem Zusammenhang? Das weiss man noch nicht so genau. Es gibt aber Studien, die zeigen, dass auch bei neurologisch asymptomatischen COVID-19-Patienten mikrovaskuläre Veränderungen infolge Endothelschäden zu beobachten sind. Das könnte mit ein Grund dafür sein, dass Patienten über längere Zeit über neurologische Beschwerden klagen, gerade im kognitiven Bereich.
Sind die neurologischen Folgeerscheinungen behandelbar? Wenn ja, wie? Die Therapie dieser neurologischen Manifestationen erfolgt nicht zielgerichtet auf SARS-CoV-2, sondern ist abgestimmt auf die Ausprägung der neurologischen Symptome. Ob und wie die Dexamethasonbehandlung bei schweren COVID-19-Verläufen einen Einfluss auf die Kleingefässstörung hat, kann nur vermutet werden und
ist nicht abschliessend geklärt.
Lässt sich präventiv etwas tun? Eine Impfung wäre die beste Vorbeugung. Ich hoffe, dass mit der Impfung der Bevölkerung die Fallzahlen und in der Folge auch die neurologischen Komplikationen zurückgehen werden. Evidenz für vorbeugende Massnahmen gegen neurologische Schädigungen bei positiv Getesteten gibt es leider nicht. Die Steroidgabe bei schweren COVID-19-Verläufen könnte zu weniger schweren neurologischen Problemen führen, das weiss man aber noch nicht mit Sicherheit.
Gibt es neurologische Erkrankungen, die sich mit COVID-19 verschlechtern? Bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen, die sich mit SARS-CoV-2 infizieren, kann es auch zu einer Verschlechterung ihrer neurologischen Erkrankung kommen, gerade bei älteren Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen. Im Rahmen einer Allgemeinerkrankung kann sich eine vorbestehende neurologische Erkrankung schon verschlechtern, es kann beispielsweise auch ein delirantes Zustandsbild entstehen.
Sollen Immuntherapien bei einer Erkrankung mit SARS-CoV-2 fortgeführt werden? Ein Aussetzen einer bestehenden Immuntherapie birgt natürlich das Risiko, dass sich die neurologische Grunderkrankung verschlechtert und es beispielsweise bei Multipler Sklerose (MS) zu einem Schub kommen kann. Wie erste Studien zeigen, ist das Risiko für einen schwereren COVID-19-Verlauf bei MS-Patienten unter immunmodulierenden Therapien nicht erhöht, sondern wird massgeblich durch das Alter, den neurologischen Behinderungsgrad und vaskuläre Risikofaktoren bestimmt. Die Daten sprechen dafür, die Immuntherapien in den meisten Fällen fortzuführen. Deshalb gibt es auch die Empfehlung, immunsupprimierende oder immunmodulierende Therapien bei neurologische Erkrankungen während einer Erkrankung mit SARS-CoV-2 aufrechtzuerhalten. Im Einzelfall kann es natürlich zu einer anderen Entscheidung kommen. Empfehlungen dazu sind von verschiedenen Fachgruppen im Mitgliederbreich der Schweizerischen Neurologische Gesellschaft zu finden.
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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FORTBILDUNG
Es gibt auch Hinweise darauf, dass immunmodulierende Substanzen den Verlauf von COVID-19 abschwächen könnten, weil sie ein Überschiessen der Immunreaktion bis zu einem gewissen Grad unterdrücken können.
Wie stehen Sie zur COVID-19-Impfung aus neurologischer Sicht? Sollen neurologische Patienten geimpft werden? Ja, unbedingt! Es sollten sich möglichst viele Personen impfen lassen, auch solche mit neurologischen Erkrankungen. Natürlich wird es im Einzelfall Ausnahmen geben. Doch ist der Nutzen deutlich grösser als das Risiko für eine Erkrankung mit SARS-CoV-2, auch im Hinblick auf die Nebenwirkungen, die bei jetzigem Stand des Wissens nicht stärker sind als bei anderen Impfungen. Bei Patienten unter immunmodulierenden Therapien könnte es sein, dass die Wirksamkeit der Impfung etwas geringer ist, so wie bei der jährlichen Grippeimpfung, deren Erfolg durch bestimmte Immuntherapien ebenfalls zum Teil geschmälert werden kann.
Welche neurologischen Erkrankungen machen den Patienten zu einem COVID-19-Hochrisikopatienten?
Patienten mit schweren Atemstörungen oder schweren bulbären Funktionsstörungen durch ihre Grunderkrankung sind besonders gefährdet. Das sind beispielsweise Patienten mit Status nach Hirnschlag sowie Patienten mit Morbus Parkinson und anderen extrapyramidalen Erkrankungen, aber auch Patienten mit spinaler Muskelathrophie, mit Muskeldystrophien, Guillan-Barré-Syndrom, bulbären Myasthenien oder amyotropher Lateralsklerose. Natürlich ist auch ein Alter über 75 Jahre ein genereller Risikofaktor, und es sollte nicht vergessen werden, dass Demenzpatienten aufgrund der kognitiven Unfähigkeit, Masken zu tragen und den Abstand zuverlässig einzuhalten, ebenfalls gefährdet sein können.
Wie lautet Ihre Botschaft an niedergelassene Neurologen? Gern möchte ich meine neurologischen Kolleginnen und Kollegen auffordern, all ihre Patienten zur Impfung zu ermutigen und über Risikofaktoren wie Alter, neurologisch bedingte Atem- und Schluckfunktionsstörungen und/oder kognitive Störungen aufzuklären. l
Das Interview führte Valérie Herzog.
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