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FORTBILDUNG
Globales Neuro-COVID-Register ENERGY
Die europäische Neurologie arbeitet mit internationalen Partnern zusammen, um ein globales Neuro-COVID-Register zu entwickeln
Die European Academy of Neurology (EAN) hat in Kooperation und Partnerschaft mit nationalen und internationalen neurologischen Gesellschaften ein Patientenregister zu Neuro-COVID mit weltweiter Reichweite geschaffen und entwickelt.
Foto: zVg
Claudio L. A. Bassetti
ENERGY-Fallberichtsformular: https://www.rosenfluh.ch/qr/ fallberichtsformular
EAN-Kongress 2021: https://www.rosenfluh.ch/qr/ eankongress
von Claudio L. A. Bassetti
D as EAN Neuro-COVID Global Registry (ENERGY) wurde im Frühjahr 2020 ins Leben gerufen. Diese Initiative ging von der engagierten COVID-19Taskforce der EAN aus, die zu Beginn der Pandemie gegründet wurde, um die Unterstützung der EAN für die neurologische Gemeinschaft während dieser beispiellosen Gesundheitskrise zu koordinieren. Kurz darauf rief die EAN-Führung aufgrund der Dringlichkeit der Situation und der sich abzeichnenden neurologischen Manifestationen Neurologen auf der ganzen Welt zur Mitarbeit an dem Register auf. Ziel dieser Initiative ist es, die Charakteristika und Auswirkungen neurologischer Manifestationen der COVID-19-Pandemie systematisch zu erfassen. Bislang beruhen die verfügbaren Informationen über die Beteiligung des Nervensystems während dieser Pandemie hauptsächlich auf Fallberichten und retrospektiven klinischen Serien. Diese Quellen sind anfällig für Stichprobenverzerrungen. Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass neurologische Komplikationen bei COVID-19-Patienten mit einem schlechteren Verlauf verbunden sind. In einer Umfrage bei mehr als 4500 Neurologen – durchgeführt von der COVID-19-Taskforce der EAN im April 2020 – wurde festgestellt, dass aufgrund der neurologischen Symptome Neurologen häufig in die Betreuung von COVID-19-Patienten einbezogen werden. Ein Register wie ENERGY hat das Potenzial, die allgemeinen Merkmale neurologischer Komplikationen und ihre Auswirkungen einer COVID-19-Infektion zu erfassen sowie zu klären, in welchem Zusammenhang diese Komplikationen mit den demografischen und klinischen Hintergründen der betroffenen Personen stehen. Gemäss dem ENERGY-Studienprotokoll werden Neurologen gebeten, dieses in ihren Einrichtungen oder Kliniken zu implementieren, um demografische und weitere Daten, neurologische Symptome und Indikatoren bei bestätigten COVID-19Patienten sowie bei Verdachtsfällen in Ambulanzen, Intensivstationen und Spitalabteilungen zu beurteilen und aufzuzeichnen. Genauere Details bezüglich des Studiendesigns und der Variablen, welche im Fallberichtsformular des Registers enthalten sind (siehe QR-
Code), wurden ebenfalls von der COVID-19-Taskforce der EAN veröffentlicht (1). Die Entwicklung des Registers wurde dank der Zusammenarbeit mit den italienischen, spanischen und portugiesischen neurologischen Gesellschaften wesentlich gefördert. Darüber hinaus hat die EAN seit Studienbeginn einen globalen Ansatz verfolgt und sich mit der Neurocritical Care Society zusammengeschlossen, um Daten mit dem Global Consortium Study of Neurological Dysfunction in COVID-19 (GCS-Neuro-COVID) auszutauschen, an welchem viele Zentren in Nordamerika beteiligt sind. Erst kürzlich wurde in Zusammenarbeit mit dem GCS-Neuro-COVID ein erster Bericht verfasst, um Art, Prävalenz und Ergebnisse neurologischer Manifestationen von COVID-19 zu bestimmen. Der Bericht umfasste Daten von 214 konsekutiven hospitalisierten COVID-19-Patienten, die von Neurologen aus Europa, Asien, Nahost und Nordafrika konsultiert wurden. Die Pan-American Federation of Neurological Societies (PAFNS) ist ebenfalls beteiligt und wird viele Daten von Standorten in Latein- und Südamerika einbringen. Es wurden bereits > 600 Patientenfälle aus 12 Ländern in Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika dem Register hinzugefügt. Zusätzlich bearbeitet die EAN derzeit mehr als 265 Beitrittsanfragen (seit Frühjahr 2020) aus aller Welt. Da vor Kurzem weitere Standorte die lokale Ethikzulassung erhalten haben und eine Vereinbarung zur gemeinsamen Nutzung von Daten mit einer britischen Studie Anfang 2021 abgeschlossen wird, ist ein Anstieg der Fälle im Register im ersten Quartal 2021 zu erwarten. ENERGY bleibt für weitere Standorte, die sich anschliessen und Daten beisteuern möchten, offen, und die EAN stellt den Zentren Ressourcen zur Verfügung, um sie bei der Dateneingabe zu unterstützen. Das beinhaltet die Möglichkeit einer kostenlosen Registrierung für den jährlichen EAN-Kongress (siehe QR-Code) an Standorten, die mehr als 20 Patientenfälle eingeben. Standorte, die mehr als 50 Fälle eingeben, erhalten finanzielle Unterstützung, um die Kosten für Personal, das die Daten eingibt, zu decken. Zudem steht das ENERGY-Studienprotokoll den teilnehmenden Zentren in mehreren Sprachen zur Verfügung, darunter Spanisch, Deutsch, Italienisch, Russisch und Portugiesisch.
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FORTBILDUNG
Zentren, die dem Register beitreten möchten, können sich online über ein Formular registrieren, um weitere Informationen zu erhalten, einschliesslich des Zugangs zum Studienprotokoll. Alle Anfragen können auch per E-Mail an covidregistry@ean.org gesendet werden. l
Korrespondenzadresse: Prof. Claudio L. A. Bassetti
Präsident der EAN Klinikdirektor und Chefarzt Universitätsklinik für Neurologie
Inselspital Bern Freiburgstrasse
3010 Bern
Referenz: 1. Beghi E: EAN Neuro-COVID Task Force. The European Academy of
Neurology COVID-19 registry (ENERGY): an international instrument for surveillance of neurological complications in patients with COVID-19. Eur J Neurol. 2020 Nov 21:10.1111/ene.14652.
EAN – The Home of Neurology
Die European Academy of Neurology (EAN) ist bekannt als Home of Neurology. Sie wurde im Jahr 2014 durch den Zusammenschluss zweier europäischer neurologischer Gesellschaften gegründet und vertritt die Interessen von mehr als 45 000 Einzelmitgliedern und 47 nationalen institutionellen Mitgliedern des gesamten europäischen Kontinents. www.ean.org.
EANcore COVID-19
EANcore COVID-19 ist eine Initiative der EAN, um Neurologen europaweit bei der Vorbereitung und Bewältigung der Herausforderungen zu unterstützen, welche mit dieser globalen Krise einhergehen. Die Initiative hat es sich zur Aufgabe gemacht, Neurologen mit aktuellen Informationen über die Pandemie zu versorgen, neue Daten über neurologische Komplikationen zu sammeln, Berichte von Ärzten an vorderster Front sowie zu neuesten Forschungsergebnissen zu veröffentlichen, aktuelle Nachrichten und weitere Informationen zu publizieren. Gleichzeitig werden alle Ressourcen so gut wie möglich zugänglich gemacht.
Nachgefragt bei Prof. Claudio L. A. Bassetti
«Pandemie hat Einfluss auf die Karriere»
Weshalb braucht es ein Neuro-COVID-19-Register? Warum länderübergreifend? Seit einem Jahr wissen wir, dass COVID-19 das Nervensystem angreifen kann. Wenn man die Literatur anschaut, um etwas über die Schwere, die Verteilung und die Häufigkeit zu erfahren, trifft man auf sehr heterogene Daten. Um die Vergleichbarkeit von Fallberichten sicherzustellen, ist eine standardisierte Erhebung und Beschreibung notwendig. Die EAN hat sich seit Frühling 2020 für eine internationale Zusammenarbeit zum Thema Neuro-COVID eingesetzt (1). Die EAN hat zum Beispiel eine Studie gestartet, die eine systematische und einheitliche Erfassung von neurologischen Komplikationen von COVID-19 ermöglicht (2). Die sogenannte ENERGY-Studie läuft aktuell in Europa, Südamerika, Afrika und im Nahen Osten und wird zum Verständnis von Häufigkeit, Patientencharakteristika und Verlauf der neurologischen Komplikationen beitragen. Die Studie wird uns aber auch zeigen, ob hierbei lokale Faktoren eine Rolle spielen. Mit lokal sind Faktoren wie das Gesundheitssystem, Umwelt sowie Genetik gemeint, die in Kontinenten wie Südamerika ziemlich anders sind als in der Schweiz.
Welche Aktivitäten hat die EAN mit 45 000 europäischen Neurologen aufgrund der Pandemie sonst noch aufgegleist? Es sind einige Projekte am Laufen. Die multidisziplinäre Taskforce EANcore COVID-19 hat Diagnose- und Be-
handlungsempfehlungen von Patienten mit COVID-19 und neurologischen Erkrankungen erarbeitet. Weiter entstand mit dem GCS-NeuroCOVID eine formale Zusammenarbeit zwischen der EAN und der nordamerikanischen Neurocritical Care Society (NCS) zur Konsensusfindung und Harmonisierung von Datenelementen und von einheitlichen Definitionen.
Welche Folgen hat die Coronapandemie auf die neurologische Ausbildung und Forschung? Viele laufende Forschungsprojekte und Studien wurden kurzfristig gestoppt oder verschoben, um die Kräfte in den Spitälern für die Bewältigung der Coronapandemie zu bündeln. Welche Auswirkungen das auf die Ausbildung von Neurologen hat, wurde von der EAN in einer Mitgliederbefragung per Fragebogen untersucht. Die Ergebnisse wurden vor wenigen Wochen veröffentlicht (3). Jedes Mitglied in Weiterbildung und Forschung konnte dabei angeben, inwieweit es klinisch in die COVID-19-Bewältigung involviert war und ob seine Ausbildung davon beeinträchtigt ist oder war. Die meisten gaben an, dass es eine Reduktion der neurologischen Betten und eine Kontakteinschränkung mit den ambulanten Patienten gab. Folge davon war eine reduzierte Durchführung von diagnostischen Tests wie zum Beispiel neurophysiologischen Tests als Basis für die weitere Behandlung wie auch für die Ausbildung. E-Mail- und Telefonkorrespondenz sowie telemedizinische Konsultationen sind stark angestiegen. Die Befragten gaben
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Nützliche Links: EANcore COVID-19 https://www.rosenfluh.ch/qr/ eancore-covid-19
SNG: Informationen zu COVID-19 https://www.rosenfluh.ch/qr/sng
DGN: Neurologische Manifestationen bei COVID-19 https://www.rosenfluh.ch/qr/ dgn-covid-19
NICE Rapid Guideline managing long-term effects of COVID-19 https://www.rosenfluh.ch/qr/ nice-covid-19
weiter an, dass die Pandemie auf ihre Ausbildung und Karriere einen starken Einfluss haben werde.
Der EAN-Jahreskongress fand im letzten Jahr erstmals virtuell statt. Was erwartet uns in diesem Jahr? Und in Zukunft, wenn die Pandemie vorbei ist? Letzten Frühling mussten wir sehr schnell entscheiden, ob und wie wir den Jahreskongress durchführen wollen. Wir entschieden uns für eine virtuelle Version. Daraus ist mit über 43 000 Teilnehmern der grösste Neurologiekongress der Geschichte geworden. Eine systematische Studie (u. a. in Form einer Befragung der Teilnehmer) hat den Vergleich zwischen dem virtuellen EAN-Kongress 2020 und dem physischen EAN-Kongress 2019 (Teilnehmer: 6900) analysiert. Die Ergebnisse wurden kürzlich veröffentlicht (4). Die Studie ergab, dass etwa die Hälfte von ausserhalb von Europa stammte. 42 Prozent waren zertifizierte Neurologen im Vergleich zu 80 Prozent im Jahr 2019. 21 Prozent waren Studenten im Jahr 2019 waren es 0,06 Prozent. Der Inhalt wurde von 56 Prozent als über den Erwartungen liegend beurteilt. Von jenen Teilnehmern, die früher auch schon an physischen Kongressen waren, bevorzugen 73 Prozent jetzt eine virtuelle Konferenz versus 17 Prozent, die lieber physisch reale Meetings hätten. Jede Kongressform hat Vor- und Nachteile. Der Nachteil einer virtuellen Durchführung ist natürlich der fehlende persönliche Kontakt. Die Interaktion ist limitiert, praktische Workshops sind nur zum Teil möglich. Ein weiterer Nachteil scheint der Umstand zu sein, dass sich etwa die Hälfte der Registrierten von ihren täglichen Aufgaben für eine wirkliche Kongressteilnahme nicht frei machen konnte. Vorteilhaft sind aber der Wegfall des zeitlichen und finanziellen Reiseaufwands, das heisst, es können auch Personen teilnehmen, die kein Geld für die Reise haben oder keine Zeit. In diesem Jahr wird der Kongress ein weiteres Mal virtuell durchgeführt, weil die Pandemieproblematik sich noch nicht genügend entspannt hat. Im Gegensatz zum letzten Jahr wird die Teilnahme nicht mehr kostenlos sein, aber abgestuft nach Kaufkraft des Herkunftslands des Teilnehmers, sodass für jedes Portemonnaie eine Teilnahme drinliegen sollte. Wie die Kongresse in Zukunft aussehen sollen, ist eine der grossen Fragen, die wir angehen müssen. Um den Bedürfnissen nach Networking wie auch gut erreichbarem wissenschaftlichen Inhalt ohne zwingende Reisetätigkeit nachzukommen, wird die Zukunft wahrscheinlich in hybriden Veranstaltungen liegen.
Noch ein Wort zur COVID-Impfung: Wie stehen Sie zur
COVID-Impfung aus neurologischer Sicht?
Die EAN-Neuro-COVID-19-Taskforce hat Empfehlungen
publiziert (5). Sie befürwortet klar, Patienten mit neuro-
logischen Vorerkrankungen nach Möglichkeit prioritär
zu impfen. Dafür sprechen folgende Argumente: 1. Viele
impfbare Krankheiten wie beispielsweise Tollwut, Ma-
sern, Polio, Röteln, Varizellen, Influenza, Mumps, Tetanus
und Diphtherie können das Nervensystem schädigen. 2.
Viele COVID-19-Patienten sind Hochrisikopatienten. Die
schwerste neurologische Erkrankung ist die Enzephalo-
pathie. 3. Viele Patienten klagen über persistierende,
meist neurologische Symptome auch nach Abheilung
der Infektion. 4. Patienten mit vorbestehenden neuro-
logischen Komorbiditäten haben einen schwereren
COVID-19-Verlauf und ein höheres Risiko für eine Ver-
schlechterung ihrer neurologischen Erkrankung wie
zum Beispiel Demenz, Parkinson oder Epilepsie. 5.
COVID-19 hat Einfluss auf die neurologische Behand-
lung, beispielsweise bei immunvermittelten Erkrankun-
gen. 6. Kontaktbeschränkungen haben Auswirkungen
auf die Behandlung von akuten neurologischen und
zerebrovaskulären Erkrankungen. 7. Patienten mit neu-
rologischen Erkrankungen können die Hygienevor-
schriften je nach Beeinträchtigung schlechter einhalten.
8. Die Pandemie hat starken Einfluss auf die psychische
Gesundheit und wird neuropsychiatrische Folgen
haben.
Weil aber noch nicht alle Daten von allen Medikamen-
ten und Erkrankungen vorhanden sind, sollte im Einzel-
fall, zum Beispiel bei immunologischen Krankheiten
oder in fortgeschrittenen Erkrankungsstadien und je
nach Medikation, mit dem behandelnden Neurologen
Nutzen und Risiko einer Impfung abgewogen werden.
Zu einigen Erkrankungen gibt es Stellungnahmen von
Fachgesellschaften wie zum Beispiel der MS-Gesell-
schaft, die man zu Rate ziehen kann.
l
Das Interview führte Valérie Herzog.
Referenzen: 1. Moro E et al.: A call from the European Academy of Neurology on
COVID-19. Lancet Neurol. 2020;19(6):482. 2. Beghi E et al.: The European Academy of Neurology COVID?19
registry (ENERGY): an international instrument for surveillance of neurological complications in patients with COVID?19. Eur J Neurol 2020; https://doi.org/10.1111/ene.14652. 3. Cuffaro L et al.: Neurology training and research in the COVID?19 pandemic: a survey of the Resident and Research Fellow Section of the European Academy of Neurology. Eur J Neurol 2020; https://doi. org/10.1111/ene.14696. 4. Stamelou M et al.: Evaluation of the 2020 EAN Virtual Congress: transition from a face-to-face to a virtual meeting. Eur J Neurol 2020; https://doi.org/10.1111/ene.14702. 5. Sellner J et al.: Primary prevention of COVID?19: Advocacy for vaccination from a neurological perspective. Eur J Neurol 2021; https://doi.org/10.1111/ene.14713
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