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Darm und Depression
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Die therapeutische Wirksamkeit gegenwärtiger antidepressiver Medikation ist limitiert. Aus diesem Grund wird intensiv nach alternativen Therapieansätzen gesucht. Präklinische und erste klinische Versuche weisen auf das Potenzial von Darmmanipulationen für die Behandlung von Depressionen hin. Dieser Übersichtsartikel stellt das Konzept der Darm-Hirn-Achse vor, wie diese mittels Interventionen manipuliert werden kann, und die Ergebnisse erster klinischer Studien sowie was noch nötig ist, um mikrobielle Therapieformen in der Klinik anbieten zu können.
Else Schneider Anna-Chiara Schaub Jessica Roth André Schmidt
von Else Schneider, Anna-Chiara Schaub, Jessica Roth und André Schmidt
Einleitung
D ie Depression mit mehr als 264 Millionen erkrankten Menschen weltweit (1) ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen und steht im Zusammenhang mit erheblichen Beeinträchtigungen der Lebensqualität, die als sehr belastend empfunden werden (2). Wesentliche Grundlage der Behandlung ist der Einsatz antidepressiver Medikamente, die ihre Wirkung über Monoamin-Neurotransmittersysteme wie das Serotonin und das Noradrenalin erzielen. Ihre Wirksamkeit ist jedoch begrenzt, und zirka zwei Drittel aller Patienten sprechen unzureichend auf eine erste Behandlung an (3). Deshalb ist es wichtig, nach alternativen biologischen Ansatzpunkten zu suchen, um effizientere Behandlungsformen entwickeln und anbieten zu können. In diesem Zusammenhang konzentrieren sich neue Forschungen auf die Interaktion zwischen dem MagenDarm-Trakt und dem zentralen Nervensystem, besser bekannt als Darm-Hirn-Achse. Es gibt zunehmend Hinweise aus präklinischen Studien, dass die Zusammensetzung der Darmflora ein Hauptregulator wichtiger neurophysiologischer Prozesse ist, die bei Depressionen beeinträchtigt sind (4). Die hohe Komorbidität zwischen Depressionen und gastrointestinalen Erkrankungen widerspiegelt ebenfalls die Bedeutung der Darm-HirnAchse (5). Tatsächlich konnten Studien bei depressiven Patienten eine veränderte fäkale Bakterienzusammensetzung zeigen (6), die mit einer verstärkten Symptomatik und einer verminderten Lebensqualität einhergeht (7, 8). Nachweisstudien zeigten zudem, dass eine Übertragung von Stuhlproben depressiver Patienten bei Tieren zu Verhaltensauffälligkeiten führt, die mit Angst und Depressionen assoziiert werden (8, 9). Eine Fülle von
Erkenntnissen der letzten Jahre hat zur Annahme geführt, dass eine Wiederherstellung einer intakten Darm-Hirn-Interaktion ein neuer Therapieansatz für Depressionen darstellen könnte.
Die Darm-Hirn-Achse Allgemein bezeichnet die Darm-Hirn-Achse die bidirektionale Kommunikation zwischen Magen-Darm-Trakt und Gehirn und beschreibt damit den Zusammenhang zwischen peripheren intestinalen Funktionen und Verhalten. Im Magen-Darm-Trakt spielt vor allem die Darmmikrobiota, die Gemeinschaft der im Darm lebenden Mikroorganismen, eine wesentliche Rolle bei der Kommunikation mit dem Gehirn, weshalb oft auch von der Mikrobiota-Darm-Hirn-Achse gesprochen wird. Die menschliche Darmmikrobiota wiegt ungefähr 1 bis 2 kg und besteht aus Billionen symbiotischer Bakterien, Viren und Pilzen, die das Gehirn und das Verhalten beeinflussen (10). Häufig wird statt von der Darmmikrobiota auch vom Darmmikrobiom gesprochen, das die Darmmikrobiota inklusive der dazugehörigen genetischen Information bezeichnet. Obwohl diese beiden Begriffe nicht genau das Gleiche bedeuten (11), werden sie häufig synonym gebraucht. Hier wird fortan der breitere Begriff Darmmikrobiom verwendet. Wie genau die Kommunikationswege zwischen dem Magen-Darm-Trakt und dem Gehirn aussehen, ist bis jetzt nicht eindeutig erforscht. Neben den Hormonen und Neurotransmittern, die sowohl im Darm als auch im Gehirn produziert werden, spielen vor allem der Vagusnerv, das Immunsystem, die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (hypothalamic-pituitaryadrenal axis, HPA-Achse) sowie kurzkettige Fettsäuren (short chain fatty acids, SCFA) eine wesentliche Rolle in der Darm-Hirn-Kommunikation. Auch wenn diese vier verschiedenen Pfade nicht unabhängig voneinander
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Kasten 1
Die wichtigsten Kommunikationswege der Darm-Hirn-Achse
Kommunikationsweg System
Funktion
Vagusnerv
Peripheres Nervensystem Der Vagusnerv ist der 10. Hirnnerv und stellt die
schnellste und direkteste Verbindung der Darm-
Hirn-Achse dar. Der Vagusnerv spielt eine wichtige
Rolle bei der Emotionsregulation.
Immunsystem
Immunsystem/
Der Darm ist das grösste Immunorgan im mensch-
lymphatisches System lichen Körper und ist für die Abwehr von patho-
genen Mikroorganismen und die Toleranz von
Nahrungsmittelantigenen zuständig. Durch die
Regulation der Immunzellenausschüttung ist der
Darm mitverantwortlich für die Homöostase des
Immunsystems.
HPA-Achse (hypothalamic- Endokrines System
Die HPA-Achse ist die wichtigste nicht neuronale
pituitary-adrenal axis)
Verbindung von Darm und Gehirn und reguliert
vor allem Stressreaktionen. Die HPA-Achse ist eng
mit Immunsystem und Vagusnerv verknüpft.
SCFA (short chain fatty acids) Metaboliten
SCFA sind der Hauptbestandteil der im Darm
produzierten Metaboliten. Sie können sowohl die
Darmbarriere als auch die Blut-Hirn-Schranke
passieren und spielen somit eine wesentliche
Rolle in der Darm-Hirn-Kommunikation.
die Kommunikation regulieren, werden sie im Folgenden kurz einzeln beschrieben.
Vagusnerv Der Vagusnerv ist der 10. von 12 Hirnnerven und stellt den schnellsten und direktesten Kommunikationsweg zwischen Darm und Hirn dar. Die Nervenverbindung zwischen Darm und Gehirn besteht zu 80 Prozent aus afferenten Nervenfasern (bottom-up) und zu 20 Prozent aus efferenten Nervenfasern (top-down) (12). Durch die starke Innervation des Darms kann der Vagusnerv bereits kleine Veränderungen bei den Metaboliten des Darmmikrobioms feststellen, diese Information an das Gehirn weiterleiten und eine entsprechende Antwort im Gehirn auslösen (13). Umgekehrt kann der Vagusnerv die Permeabilität der Darmwand beeinflussen und damit höchstwahrscheinlich die Zusammensetzung des Darmmikrobioms mitbestimmen (14). Studien zur Vagusnervstimulation (VNS) und zur Vagotomie (Trennung des Vagusnervs) belegen die Wichtigkeit dieser bidirektionalen Kommunikation für eine adäquate Gehirnfunktion und ein entsprechendes Verhalten (15, 16). Vor allem die Ergebnisse der VNS haben gezeigt, dass der Vagusnerv eine wesentliche Rolle in der Emotionsregulation spielt (17).
Immunsystem Der Darm ist das mächtigste Immunorgan des Körpers und weist die grösste Ansammlung von Immunzellen in unserem Körper auf. Die Immunzellen sind im ständigen Austausch mit den Billionen Mikroben im Darm, um die Abwehr pathogener Mikroorganismen und die Toleranz gegenüber einer Vielzahl von Nahrungsmittelantigenen und nützlichen Mikroorganismen zu ermöglichen (12). Das Darmmikrobiom ist zudem eng mit der Dynamik
des restlichen Immunsystems verknüpft (18). Die Kommunikation zwischen Darm und Immunsystem findet vor allem über die Darmschleimhaut als Teil der Darmbarriere statt. Die Permeabilität der Darmbarriere wird durch Tight-Junctions-Proteine kontrolliert, deren Expression wiederum durch das Darmmikrobiom reguliert wird (19). Defizite in der Darmpermeabilität können zum Beispiel der Grund für die chronisch unterschwellige Entzündung bei Depressionen sein (20). Eine Studie bei Mäusen konnte ausserdem zeigen, dass ein durch den Mangel an Lymphozyten geschwächtes Immunsystem die Ängstlichkeit und die Gedächtnisleistung negativ beeinflusst, was durch die Gabe von Probiotika jedoch wieder ausgeglichen werden konnte (21). Diese Erkenntnisse weisen auf die wichtige Rolle des Immunsystems in der Darm-Hirn-Achse hin.
HPA-Achse Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (hypothalamic-pituitary-adrenal axis, HPAAchse) ist Hauptbestandteil des neuroendokrinen Systems und wird häufig auch als Stressachse bezeichnet, da sie verschiedene Stressreaktionen kontrolliert und die Homöostase der Stresshormone Cortisol, Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) und adrenokortikotropes Hormon (adrenocorticotropic hormon, ACTH) reguliert. Sie stellt die wichtigste nicht neuronale Verbindung von Darm und Gehirn dar und besteht aus einer komplexen Abfolge von direkten Einflüssen und Feedbackschleifen zwischen den drei Hormondrüsen des Hypothalamus, der Hypophyse und der Nebennierenrinde (12). Die meisten Erkenntnisse zur Interaktion zwischen Darmmikrobiom und der HPA-Achse stammen aus der Forschung mit keimfreien Mäusen. Dort konnte zum Beispiel gezeigt werden, dass keimfreie
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Mäuse im Vergleich zu gesunden Kontrollmäusen bei Stress durch Bewegungseinschränkung mit überdurchschnittlich hohen Cortisol- und ACTH-Spiegeln reagieren, was aber durch die Gabe von Probiotika wieder reguliert werden kann (22). Umgekehrt konnte in Tiermodellen auch gezeigt werden, dass eine Dysregulierung der HPA-Achse Veränderungen des Darmmikrobioms zur Folge hat (23). Auch bei Menschen mit Reizdarmsyndrom konnte diese Interaktion gefunden werden (24). Interessanterweise weist die HPA-Achse auch eine enge Verknüpfung zum Vagusnerv und zum Immunsystem auf.
SCFA Bioaktive kurzkettige Fettsäuren (short chain fatty acids, SCFA) bilden den Hauptbestandteil der im Darm produzierten Metaboliten und entstehen durch die Fermentierung von Ballaststoffen im Dickdarm. Sie können sowohl die Darmbarriere als auch die Blut-Hirn-Schranke passieren und dadurch auf humoralem Weg direkt sowie durch die Aktivierung neuronaler, immunologischer und hormonaler Wege indirekt mit dem Gehirn kommunizieren (25). SCFA nehmen dadurch Einfluss auf kognitive Funktionen wie Lernen, Gedächtnis und Emotionen. Studienergebnisse implizieren, dass sowohl depressive Mäuse als auch depressive Patienten eine signifikante Abnahme von verschiedenen SCFA wie Acetat, Butyrat und Propionat aufweisen (26, 27). Bei Mäusen konnte zudem gezeigt werden, dass eine orale Einnahme von SCFA die generelle Stressreaktion und die stressinduzierte Anhedonie verbessert (28). Jedoch sollte hier kurz angemerkt werden, dass ein erhöhtes Vorkommen von SCFA auch negative Konsequenzen haben kann und im Zusammenhang mit Erkrankungen wie der Parkinson-Krankheit und der Autismus-Spektrum-Störung steht (29, 30). Generell kann gesagt werden, dass eine starke direkte und indirekte Kommunikation zwischen Darm und Gehirn existiert. Bisherige Erkenntnisse weisen darauf hin, dass das Darmmikrobiom und die Darm-Hirn-Achse einen wesentlichen Einfluss auf das Verhalten haben und im Zusammenhang mit verschiedenen psychiatrischen, neurologischen und neurodegenerativen Krankheiten stehen, wobei die genauen zugrunde liegenden Mechanismen noch weitgehend unbekannt sind.
Darmmanipulationen als neuer Therapieansatz bei Depressionen Um über den Magen-Darm-Trakt die Darm-Hirn-Achse zu beeinflussen, bieten sich verschiedene Möglichkeiten an. Schon durch eine veränderte Ernährung kann die Zusammensetzung der Darmbakterien beeinflusst werden (31). Die für den Darm relevanten Stoffe werden als Präbiotika, Probiotika und Postbiotika bezeichnet. Sie können über die Darm-Hirn-Achse positive Effekte auf die Psyche haben und werden übergreifend als «Psychobiotika» bezeichnet (32). Präbiotika sind Ballaststoffe und dienen als Nährstoffe für Bakterien im Darm (33). Postbiotika sind zum Beispiel SCFA und entstehen natürlicherweise bei Stoffwechselprozessen wie der Fermentierung im Darm (32). Zu Prä- und Postbiotika gibt es erste Hinweise, dass sie positive Einflüsse auf depressive Symptome haben könnten, die Datenlage ist jedoch aktuell noch spärlich (Kasten 2). Die meiste
Forschung im Zusammenhang mit Depressionen existiert zu Probiotika. Deren Einsatz, gemeinsam mit der fäkalen Mikrobiota-Transplantation (FMT) als weitere Möglichkeit zur Manipulation der Darm-Hirn-Achse, wird im Folgenden detailliert vorgestellt.
Probiotika Probiotika sind lebende Mikroorganismen und haben in ausreichender Anzahl einen positiven Einfluss auf die menschliche Gesundheit. Neben der Einnahme über die Nahrung und als Nahrungsergänzungsmittel gibt es auch probiotische Arzneimittel, die als Antidiarrhoika sowie zur Regulation der Darmflora eingesetzt werden. Probiotische Produkte enthalten einzelne Bakterienstämme oder die Kombination verschiedener Stämme, wie zum Beispiel Laktobazillen und Bifidobakterien (34). Diese probiotischen Bakterien sollen im Darm pathogene Bakterien verdrängen und das bestehende Darmmikrobiom ergänzen. Da Depressionen mit einem veränderten Darmmikrobiom in Zusammenhang stehen (6), wurde der Ansatz einer Darmmikrobiom-orientierten Therapie mit Probiotika entwickelt. Verschiedene Interventionsstudien haben die Wirkung von Probiotika auf depressive Symptome untersucht. Dabei zeigten etwa zwei Drittel der Studien positive Effekte der Probiotika im Vergleich zu Plazebo (35). Zu beachten ist hierbei jedoch, dass die Studien verschiedene Studienpopulationen untersuchten und nur wenige Studien mit klinischen Stichproben durchgeführt wurden. Da vor allem bei Personen mit mittleren oder starken depressiven Symptomen Effekte von Probiotika gezeigt werden konnten und weniger bei jenen mit leichter Symptomausprägung, besteht die Annahme, dass die Wirkung von Probiotika von der Symptomausprägung abhängig ist (36). Bei Patienten mit Depressionen könnten Probiotika als Supplement zur bestehenden Therapie gegeben werden. Dieser Ansatz wird mit einer früheren Studie untermauert, bei der depressive Patienten neben Probiotika keine Antidepressiva nahmen. In dieser Studie konnte nach einer 8-wöchigen Intervention keine Überlegenheit von Probiotika gegenüber Plazebo gezeigt werden (37). Neben möglichen Effekten auf klinische Symptome wurden in einigen Studien auch Veränderungen von biologischen Faktoren untersucht. Dabei konnten Veränderungen in Gehirnfunktionen durch Probiotika gezeigt werden, wie zum Beispiel eine reduzierte Amygdalareaktivität auf emotionale Stimuli bei Patienten mit Reizdarmsyndrom und depressiven sowie Angstsymptomen (38). Derzeit ist noch nicht geklärt, mit welchen Veränderungen im Darmmikrobiom die Einnahme von Probiotika einhergeht. Einige Studien konnten keine signifikanten Veränderungen in der Zusammensetzung der Darmbakterien nachweisen (38, 39). Mit weiteren Analysen konnten jedoch spezifischere Veränderungen, wie zum Beispiel in den Metaboliten der Darmbakterien, durch Probiotika gezeigt werden. Da weiterhin viele Fragen in Bezug auf die Mechanismen und die Effektivität von Probiotika bei Depressionen offen sind, wird zurzeit an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel eine Studie mit stationären depressiven Patienten durchgeführt. Über einen Zeitraum von vier Wochen erhalten Patienten entweder ein Probiotika- oder ein Plazebopräparat. Neben
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Überblick über verschiedene mögliche Ansätze, um die Darm-Hirn-Achse zu manipulieren
Präbiotika Probiotika Postbiotika FMT
Beispiele Inulin Fructooligosaccharide (FOS) Galactooligosaccharide (GOS) Laktobazillen Bifidobakterien: Bifidobacterium longum Kurzkettige Fettsäuren: Butyrat, Acetat, Propionat Gesamte Mikrobiota eines gesunden Spenders via Kapseln oder Kolonoskopie
Studien zu Depression Wenige Studien, erste Hinweise auf Effekt in Affekt und Kognition (50, 51)
Starke Hinweise auf einen positiven Effekt auf depressive Symptome durch Interventionsstudien, Reviews, Metaanalysen (35, 36) Antidepressiver und anxiolytischer Effekt im Tiermodell, keine Interventionsstudie beim Menschen bisher (32) Pilotstudien zeigen positive Effekte auf depressive Symptome (45) und Lebensqualität (46) bei Patienten mit Reizdarmsyndrom
der Erhebung von klinischen Parametern wie depressiven Symptomen sollen mit Stuhl-, Blut- und Speichelproben sowie bildgebenden Methoden die DarmHirn-Achse und deren Veränderungen über den Interventionszeitraum und darüber hinaus untersucht werden.
FMT Eine direkte Möglichkeit der Darmmanipulation stellt die fäkale Mikrobiota-Transplantation (FMT) dar. Bei FMT wird die Darmflora eines Individuums in den MagenDarm-Trakt eines anderen Individuums transferiert (40). FMT wird bereits mit Erfolg zur Behandlung bei Darminfektionen, wie der rezidivierenden Clostridium-difficile-Infektion, eingesetzt (41, 42). Weiter gibt es Hinweise darauf, dass FMT beim Reizdarmsyndrom zu einer Verbesserung der Symptome führen kann (43). Viele Patienten mit einem Reizdarmsyndrom leiden zudem unter depressiver Symptomatik, wobei fast 30 Prozent der Reizdarmpatienten eine depressive Episode erleben (44). Reizdarmstudien konnten zudem zeigen, dass FMT nicht nur zu einer Reduktion der gastrointestinalen, sondern auch der depressiven Symptomatik führen kann (45). Ebenso verbesserte FMT die Lebensqualität der Patienten (46). Anhand der oben beschriebenen Erkenntnisse kann angenommen werden, dass FMT als Zusatzbehandlung zur Linderung depressiver Symptome beitragen kann. Nach unserem aktuellen Wissensstand existiert jedoch bis jetzt keine randomisiert kontrollierte Studie zur Untersuchung von FMT bei depressiven Patienten. Für die Anwendung von FMT bedarf es einer umfangreichen Voruntersuchung eines gesunden Spenders, dessen Stuhl anschliessend in den Körper einer erkrankten Person übertragen wird (47). Studien und Stuhlbanken verfolgen daher ein striktes Screening, das laufend aktualisiert und optimiert werden muss. Das Prozedere für Spender variiert zwar zwischen den verschiedenen Institutionen, wird jedoch jeweils durch eine externe Stelle kontrolliert. Allerdings gelten bestimmte Aufnahme- und Ausschlusskriterien. So führen beispielsweise Krankengeschichten (z. B. Reizdarmsyndrom oder maligne Erkrankung), die Einnahme bestimmter Medikamente (z. B. Antibiotika) oder das Reisen in bestimmte Länder zum Ausschluss (48). Eine Reihe von Labortests
wird durchgeführt, um diverse Faktoren und Krankheitserreger auszuschliessen. Dadurch wird insgesamt ein breites Feld abgedeckt, vom Blutstatus und serologischen Bild bis zur mikrobiellen Untersuchung des Stuhls auf bestimmte Viren und Bakterien (z. B. Escherichia coli) (48). Um beispielsweise bei der Stuhlbank OpenBiome (http://www.openbiome.org/) Stuhl zu spenden, müssen potenzielle Stuhlspender zwischen 18 und 50 Jahre alt und in der Lage sein, während 60 Tagen mindestens dreimal pro Woche Stuhl zu spenden. Nach einem umfangreichen Gesundheitsfragebogen folgen ein klinisches Interview mit Fragen zur Gesundheits- und Krankheitsgeschichte, eine Vitalparametermessung sowie die Entnahme von Blut- und Stuhlproben. Daraufhin wird während 60 Tagen regelmässig Stuhl abgegeben. Danach erfolgt wieder eine umfassende gesundheitliche Überprüfung. Wenn diese bestanden ist, wird der gespendete Stuhl für eine FMT verwendet. Der Stuhl kann frisch, gefroren oder in Form von Kapseln für die Transplantation verwendet werden. Die Übertragung findet entweder über eine Kolonoskopie oder oral beziehungsweise nasal statt (41, 42). Zurzeit wird rege darüber diskutiert, welche Übertragungsvariante effektiver ist, wie viel Stuhl übertragen werden soll, ob eine Einmaldosis ausreicht und ob es Stuhl von verschiedenen Spendern oder doch eher von einem (Super-)Spender sein soll (49). Die Übertragungsvariante, die Menge, die Häufigkeit sowie die Wahl des Spenders beziehungsweise der Spender können einen Einfluss auf die Wirksamkeit von FMT haben. Beispielsweise zeigte eine aktuelle Studie, dass der Effekt von FMT dosisabhängig ist (46). Leider gibt es immer wieder Meldungen von schwerwiegenden Nebenwirkungen nach FMT, die auf bestimmte Bakterien zurückzuführen sind (48). Es handelt sich dabei meist um Bakterien, die zu Infektionen führen können (48). Solche Berichte zeigen die absolute Notwendigkeit eines umfangreichen und genauen Screenings und einer sorgfältigen Auswahl der Spender sowie auch der Patienten, die FMT erhalten sollen. Bis heute ist noch nicht ganz klar, wie sich ein gesundheitsförderndes Darmmikrobiom genau zusammensetzt. Um dieser Schwierigkeit gerecht zu werden und die Sicherheit der Patienten gewährleisten zu können, bedarf es weiterer Forschung. Studien, welche die Defizite der
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Darmflora kranker Menschen sowie die positiven Aspekte des Darmmikrobioms untersuchen, werden unser Wissen über ein gesundheitsförderndes Darmmikrobiom und die Mechanismen der Darm-Hirn-Achse erweitern. Im Idealfall könnte das sogar dazu führen, dass fäkale Mikrobiotakapseln im Labor produziert werden. Dadurch wären adäquate Sicherheitskontrollen, Rückverfolgungen und eine erhebliche FMT-Produktion möglich (49).
Fazit und Ausblick
Das Konzept der Darm-Hirn-Achse gewinnt zuneh-
mend an Bedeutung für die Behandlung von Depres-
sionen. Die vielseitigen Kommunikationswege
innerhalb der Darm-Hirn-Achse liefern diverse Ansatz-
punkte für neue Behandlungsformen. Erste klinische
Studien weisen auf das grosse Potenzial der Manipula-
tion des Mikrobioms im Darm hin. Weitere Studien sind
jedoch erforderlich, um die bakteriellen Veränderungen
bei depressiven Patienten besser zu verstehen und ge-
zielte mikrobielle Therapien entwickeln und testen zu
können.
l
Korrespondenzadresse: PD Dr. sc. Nat. André Schmidt
Research Group Leader Neuropsychiatry and Brain Imaging Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Wilhelm-Klein-Strasse 27, 4002 Basel
E-Mail: andre.schmidt@unibas.ch
Merkpunkte:
● Die Depression ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen und führt zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität. Die Wirksamkeit bisheriger Behandlungsmethoden ist jedoch unzureichend, und Ansatzpunkte für neue Therapien werden dringend gebraucht.
● Die Darm-Hirn-Achse, die die Interaktion von peripheren intestinalen Funktionen und Gehirnfunktionen sowie Verhalten beschreibt, bietet einen neuen vielversprechenden Therapieansatz bei Depressionen, da die Darmflora wesentliche neuropsychologische Prozesse steuert, die bei Depression betroffen sind.
● Wesentliche Kommunikationswege der Darm-Hirn-Achse sind der Vagusnerv, das Immunsystem, die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und kurzfettige Fettsäuren (Kasten 1). Über diese Wege kann der Darm sowohl direkt als auch indirekt mit dem Gehirn interagieren und wesentlichen Einfluss auf das Verhalten nehmen.
● Obwohl die genauen Mechanismen der Kommunikation zwischen Darm und Gehirn noch nicht vollständig verstanden sind, weisen Studien auf ein grosses Potenzial von Darmmanipulationen als Therapieansatz bei Depression hin (Kasten 2). So konnten verschiedene Interventionsstudien eine Verbesserung der depressiven Symptome durch den Einsatz von Probiotika nachweisen, wobei man annimmt, dass die Wirksamkeit probiotischer Interventionen von der Symptomausprägung abhängig ist.
● Eine direkte Darmmanipulation ermöglicht die fäkale Mikrobiota-Transplantation (FMT), bei der der Stuhl und damit die Darmflora eines Individuums in den Darm eines anderen Individuums transplantiert wird. Erkenntnisse im Zusammenhang mit FMT-Behandlungen bei Reizdarm weisen darauf hin, dass eine FMT auch depressive Symptome positiv beeinflusst. Allerdings fehlen hier noch klinische Studien mit depressiven Patienten, die den Zusammenhang belegen.
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