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Praktische Aspekte der Kontrazeption bei Depression
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Die Prävalenz der Depression bei Frauen im reproduktiven Alter ist hoch, und viele Frauen benutzen eine hormonelle Kontrazeption (HC) häufig von der Adoleszenz bis zur Menopause. Es gibt immer wieder Berichte über einen potenziellen Einfluss von diversen kontrazeptiven Hormonen auf die Stimmung und das Wohlbefinden beziehungsweise über eine Assoziation zwischen HC und Stimmungsschwankungen oder erheblicher depressiver Stimmung. Hier müssen die behandelnden Ärzte über grundlegende Informationen verfügen, um sachlich auf die Verunsicherung eingehen und beraten zu können. Dieser Artikel fasst die aktuelle Datenlage zur Assoziation zwischen HC und Depression zusammen.
Mylène Dietiker-Ginier Angela Niggli Gabriele Susanne Merki-Feld
von Mylène Dietiker-Ginier, Angela Niggli und Gabriele Susanne Merki-Feld
Prävalenz der Depression
G emäss Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition (DSM-V), ist Major Depression (MDD) als eine Erkrankung mit einer oder mehreren ausgeprägten depressiven Episoden (MDE) definiert (1). Zur Diagnose einer MDE müssen mehr als 5 der folgenden 9 Symptome über eine Dauer von zwei Wochen präsent sein: depressive Stimmung, Anhedonie, Gewichts- oder Appetitänderungen, Insomnie oder Hypersomnie, psychomotorische Hemmung oder Agitation, Energieverlust oder Müdigkeit, Wertlosigkeit oder Schuldgefühl, Konzentrationsstörungen oder Unentschlossenheit, Gedanken an den Tod oder Suizidgedanken oder Suizidversuch. Eines der Symptome muss die depressive Stimmung oder die Anhedonie sein. Die Lebenszeitprävalenz einer MDD liegt bei 16,2 Prozent bei Frauen und ist doppelt so hoch wie bei Männern (2, 3). Die Prävalenz einer MDD im reproduktiven Alter liegt bei etwa 14 Prozent (4). Die diagnostischen Kriterien der postpartalen Depression (PPD) sind gemäss DSM-V dieselben. Das Auftreten der Symptome erfolgt aber in der Postpartum-Periode. Die Prävalenz der PPD liegt bei 13 Prozent (5).
Hormone im natürlichen Zyklus Im natürlichen Zyklus fluktuieren Östrogene und Gestagene. Vor allem der Hormonabfall am Ende des Zyklus kann einen Effekt auf die Stimmung haben (6). Es besteht die Hypothese, dass der rasche Östrogenabfall bei Frauen, die Risikofaktoren für eine Depression aufweisen, eine MDE provozieren kann. Gemäss Tschudin et al. geben 91 Prozent der Schweizer Frauen prämenstruelle Symptome an, unter anderem Müdigkeit, Stimmungsschwankungen und Reizbarkeit (7). 10,3 Prozent der
Frauen beschreiben moderate bis starke prämenstruelle Symptome, aber 3,1 Prozent der Frauen leiden an einer prämenstruellen Dysphorie (PMDD). Letzteres ist ein gravierendes psychisches Leiden, vergleichbar mit einer MDD. Die Therapie erfolgt in der Regel mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI). Eine Alternative bei Frauen mit Verhütungsbedarf ist die Therapie mit der drospirenonhaltigen Pille (20 µg EE und 3 mg Drospirenon), die effektiver ist als ein Plazebo (8).
Antikonzeptionsmethoden mit potenziellem Einfluss auf die Stimmung HC können einen Einfluss auf die Stimmung haben. Dieser kann bei kombinierten Präparaten (KHK) oder nur gestagenhaltigen Präparaten (POK) verschieden sein. Die KHK verfügen über ein Östrogen, in der Regel Ethinylestradiol (EE), seltener Estradiol oder Estradiolvalerat und ein Gestagen. Zu diesen gehören die kombinierte Pille, der transdermale Patch und der Vaginalring. Im Bereich der POK sind in der Schweiz die Gestagenpille (POP), das Implantat, die Depotinjektion (DMPA) und hormonfreisetzende Intrauterinpessare (IUS) auf dem Markt. Die Methoden enthalten unterschiedliche Gestagene in diversen Dosierungen. Eine Sonderrolle nimmt das Hormon-IUS ein, bei dem zwar nur kleinere Gestagenmengen systemisch aufgenommen werden, jedoch Nebenwirkungen ähnlich oft auftreten wie bei anderen Gestagenmethoden.
Hormonale Kontrazeptiva und depressive Verstimmung/Depression Studien beschreiben teils einen positiven, teils einen negativen Effekt von HC auf die Stimmung. Einige Studien haben gezeigt, dass Frauen weniger Stimmungsschwankungen unter HC angeben (9, 10). Keyes et al. fanden, dass Frauen mit HC (n = 2691) weniger depressive Stimmungen angaben als Frauen ohne HC (n = 3963) (9).
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In einem Review von Oinonen et al. von 2002 wurden 4 Studien von 1971 bis 1993 untersucht, die gezeigt haben, dass Frauen mit KHK weniger Stimmungsschwankungen angeben als Frauen ohne KHK. All diese Studien umfassten nur eine kleine Anzahl Probandinnen (n < 100). Die untersuchten Pillen waren entweder mono- oder triphasische Pillen mit Östrogen und Gestagen (10). Skovlund berichtete 2016 über eine Assoziation zwischen HC und Depression (11). Es handelt sich um eine prospektive Kohortenstudie mit Daten aus einem dänischen Register. Daten von 1 061 997 Frauen der Alterskategorie 15 bis 34 Jahre wurden für die Zeit von 1995 bis 2013 eingeschlossen. Die Gesamtbeobachtungszeit betrug 3 518 381 Frauenjahre (FJ). Frauen mit HC wurden mit Frauen ohne HC, verglichen. Bei 74 126 Frauen mit HC erfolgte eine Erstverschreibung von Antidepressiva, (Rate Ratio [RR]: 1,23; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,22–1,25). Die Frauen, die den transdermalen Patch (Norelgestromin) angewendet haben (n = 8081 FJ), hatten eine RR von 2,0 (95%-KI: 1,76–2,18) (n = 333) für die Erstverschreibung von Antidepressiva, Frauen mit Vaginalring (Etonogestrel) (n = 69 605 FJ) eine RR 1,6 (95%-KI: 1,55–1,69) (n = 2195); Frauen mit einer POP (Norethisterone, Levonorgestrel oder Desogestrel) einr RR 1,34 (95%-KI: 1,27–1,40); Frauen mit IUS (Levonorgestrel) (n = 81 281 FJ) eine RR 1,4 (95%-KI: 1,31–1,42) (n = 2373). Diese Studie mit vielen Daten hat dennoch einige Limitationen, die bei der Interpretation berücksichtigt werden müssen. Diese Limitationen werden später bei der Beschreibung der zweiten Skovlund-Studie diskutiert (12).
Kombinierte hormonale Kontrazeptiva Eine multizentrische, doppelblinde, plazebokontrollierte Studie von 2017 untersuchte 202 Frauen prospektiv über eine Periode von 3 Monaten bezüglich der Häufigkeit und des Schweregrads von Stimmungsschwankungen im Zusammenhang mit einer kombinierten hormonellen Kontrazeption (KHK) (13). Die Stimmungsschwankungen wurden anhand des Daily-Record-ofSeverity-of-Problems-Formulars (DRS) von den Teilnehmerinnen dokumentiert. Alle Teilnehmerinnen füllten täglich während eines Zyklus ohne Kontrazeption (Baseline) und anschliessend nach 3 Monaten ein DRS-Formular aus. Die untersuchte Pille enthielt 1,5 mg Estradiol und 2,5 mg Nomegestrolacetat (Zoely®). Die Baseline-Charakteristika der Frauen zu Beginn der Studie waren ähnlich, insbesondere bezüglich depressiver Störung, 8,8 Prozent in der Pillengruppe und 5 Prozent in der Plazebogruppe. Die Resultate zeigten eine leichte, aber signifikante Zunahme an Angstzuständen (0,22; 95%-CI; 0,07–0,37; p = 0,003), Reizbarkeit (0,23; 95%-KI: 0,07–0,38; p = 0,012) und Stimmungsschwankungen (0,15; 95%-KI: 0,00–0,31; p = 0,047) in der intermenstruellen Phase in der Pillengruppe. Dieselbe Studie zeigte aber auch eine signifikante Verbesserung von prämenstruellen depressiven Stimmungen in der Pillengruppe (-0,33; 95%-KI: -0,62 bis -0,05; p = 0,049). Eine weitere randomisiert kontrollierte Studie von 2007 untersuchte die Nebenwirkungen, inklusive psychischer Nebenwirkungen, einer kombinierten Pille, die aufgrund von Dysmenorrhö verschrieben wurde (14). 37 Mädchen erhielten eine kombinierte Pille mit
20 µg (EE) Ethinylestradiol und 100 mg LNG (Levonorgestrel) und 37 ein Plazebo. Die depressive Stimmung wurde mittels der Center for Epidemiologic Studies Depression Scale (CES-D) zu Beginn der Studie und nach 3 Monaten evaluiert. In der CES-D wurden 20 Parameter mit einem Score von 0 bis 3 von den Mädchen bewertet. Ein Score von > 16 wurde als Indikator für eine Depression definiert. Zu Beginn der Studie lag der durchschnittliche CES-D-Wert in der KHK-Gruppe bei 16,3 und in der Plazebogruppe bei 17,3. Nach 3 Monaten zeigte sich in beiden Gruppen keine Verschlechterung dieses Scores.
Reine Gestagenpräparate Gestagenpille Es ist wichtig, zwischen der nicht ovulationshemmenden Pille mit Levonorgestrel und der ovulationshemmenden Pille mit Desogestrel zu unterscheiden. Eine prospektive, randomisierte, kontrollierte Studie von 1995 untersuchte 150 gesunde Frauen, die entweder eine kombinierte Pille (30 µg EE + 150 µg LNG), eine Levonorgestrel-Gestagenpille (LNG-POP) (30 µg) oder ein Plazebo erhalten hatten [15]. Die Stimmung wurde zu Beginn der Studie und nach 3 Monaten anhand des Beck Depression Inventory (BDI) untersucht. Der Depressions-Score nach 3 Monaten war in der POPGruppe tiefer als in den anderen Gruppen (p < 0,05). Trotz der kleinen Gruppen deutet diese Studie darauf hin, dass eine niedrige orale Gestagendosis (LNG) auch mit einer Stimmungsverbesserung assoziiert sein kann. Die LNG-POP gibt es in der Schweiz nicht mehr. In der Skovlund-Studie von 2016 wurden drei verschiedene POP untersucht: Norethisteron, LNG und Desogestrel (11). Die Untersuchung zeigte kein erhöhtes Risiko für die Neudiagnose einer Depression unter einer POP, jedoch ein leicht erhöhtes Risiko für die Erstverschreibung von Antidepressiva mit einer Rate Ratio von 1,2 (95%-KI: 1,06–1,42). Die Zahl der POP-Anwenderinnen war jedoch deutlich kleiner als die Zahl der Anwenderinnen von kombinierten Methoden, was auch hier die Aussagekraft des Ergebnisses einschränkt.
Medroxyprogesteronacetat Depot i.m./s.c. Einige Studien haben gezeigt, dass Frauen mit DMPA (Depotinjektion) ein höheres Risiko für die Entwicklung von depressiven Symptomen haben (16, 17). Eine multivariate longitudinale Analyse untersuchte den Verlauf der Stimmung bei 183 Frauen mit DMPA und 274 Frauen ohne HC mit einem verkürzten CES-D-Fragebogen (16). Der Cut-off-Wert im CES-D-Fragebogen für depressive Verstimmung/Depression lag definitonsgemäss bei 10. Der Fragebogen wurde zu Beginn der Behandlung und anschliessend 6 monatlich über 3 Jahre erfasst. Die Rate an depressiven Symptomen zu Beginn der Studie lag bei 28,3 Prozent bei den DMPA-Anwenderinnen und bei 17,5 Prozent bei Nicht-Anwenderinnen. 36,4 Prozent der Frauen, die DMPA vor Studienende abgesetzt hatten, gaben depressive Symptome als Grund für den Stopp an (Odds Ratio [OR]: 2,30; 95%-KI: 1,42– 3,70). Sechs Monate nach Absetzen ging es den meisten Frauen wieder gut. Das zeigt, dass sich hormonell induzierte depressive Symptome nach Absetzen der Hormone wieder auflösen können. Es ist aber auch zu
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sagen, dass diese Frauen nicht unter einer MDD litten. Bei den Frauen, die eine DMPA weiter benutzten, war die Anzahl depressiver Symptome bei längerer Anwendung sogar rückläufig (28,3% zu Beginn und 8,1% nach 3 Jahren), was gegen einen Zusammenhang zwischen DMPA und depressiven Symptomen spricht. Eine longitudinale Studie untersuchte Menstruationsbeschwerden und psychologische Beschwerden bei Frauen (n = 608) 6-monatlich über 2 Jahre anhand des BDI-Fragebogens (18). Die Frauen konnten nach Wahl eine kombinierte Pille mit 0,15 mg Desogestrel und 20 µg EE (n = 218), DMPA (n = 219) oder eine hormonfreie Kontrazeption (Abstinenz, Sterilisation oder Kondome) (n = 171) verwenden. Die Baseline-Charakteristiken waren bezüglich Depression nicht signifikant unterschiedlich in den drei Gruppen. Frauen mit der kombinierten Pille und mit DMPA berichteten seltener über Stimmungsschwankungen. Frauen mit DMPA hatten seltener Depressionen nach 24 Monaten (18). Pagano et al. berichteten in einem Review, dass es nicht mehr psychiatrische Hospitalisationen aufgrund einer Depression bei Frauen mit bestehender bipolarer Störung unter DMPA im Vergleich mit einer Kontrollgruppe von Frauen ohne DMPA gebe (4). Insofern kann man erwägen, DMPA als Kontrazeptivum bei bestehender Depression einzusetzen.
Implantat Es gibt keine Studien, welche die Depressionsrate bei Anwenderinnen des Etonogestrel-Implantats untersuchen.
Levonorgestrel-Intrauterinsystem (LNG-IUS) Das LNG-IUS enthält 52 mg LNG und wirkt für eine Dauer von 5 Jahren. Ein Teil des Gestagens wird systemisch aufgenommen. Studien zeigten, dass auch diese niedrige Dosis zu systemischen Nebenwirkungen, einschliesslich psychischer Verstimmungen, führen kann (19–21). Eine prospektive Studie von 2011 verglich 30 bis 54 Jahre alte Frauen mit LNG-IUS zur Verhütung (n = 212) mit einer Kontrollgruppe ohne Antikonzeption (n = 1688) (22). Psychisches Wohlbefinden und depressive Symptome wurden anhand von 2 Fragebogen evaluiert (BDI und General Health Questionnaire-12, GHQ-12). Die Daten zeigten weder einen Einfluss des LNG-IUS auf Wohlbefinden oder Stimmung, noch eine Korrelation zwischen der LNG-IUS-Anwendung und einer psychiatrischen Diagnose, unabhängig von der Liegedauer. Eine kontrollierte Studie von 2007 untersuchte die Rate an depressiven Symptomen als Ursache der Entfernung eines LNG-IUS zur Therapie von Menorrhagien (23). 236 Frauen wurden in zwei Gruppen randomisiert: LNS-IUS und Hysterektomie. Die Indikation für das LNG-IUS war somit die Menorrhagie und nicht die Kontrazeption. Der BDI-Score zur Erhebung depressiver Symptome wurde zu Studienbeginn und nach 6 und 12 Monaten erhoben. In der LNG-IUS-Gruppe zeigte sich ein Abfall des BDI-Scores von 5,2 auf 3,7 nach 6 Monaten. 37 Prozent der Frauen hatten ein Score entsprechend einer milden Depression am Anfang der Studie, nach 6 Monaten waren es jedoch nur noch 27 Prozent. Trotzdem entwickelte eine Untergruppe von Frauen depressive Verstimmungen nach 6 Monaten, die Anlass zur IUS-Ent-
fernung gaben (OR: 3,70; CI-95%: 1,55–8,82). Eine weitere Beobachtungsstudie von 2014, die das LNG-IUS zur Therapie von Menorrhagien untersuchte, konnte keinen Unterschied im BDI-Score zu Beginn der Studie und nach 6 Monaten zwischen der LNG-IUS-Gruppe und der Kontrollgruppe zeigen (24). Insgesamt ist deshalb die Wahrscheinlichkeit, dass das LNG-IUS eine Depression verursacht, als sehr klein anzusehen.
Weitere Aspekte Kontrazeption bei Frauen mit bekannter Depression Bei Frauen mit bekannter Depression ist es komplexer eine geeignete hormonelle Kontrazeption (HC) zu finden, unter anderem, weil Frauen so ein unterschiedliches Reaktionsspektrum auf das gleiche Hormon entwickeln können. Zu diesem Thema findet sich wenig Literatur. Die Literatur, die es gibt, zeigt aber, dass eine HC den Verlauf der Grunderkrankung, wenn, dann nur selten verschlechtert (4). Gute Beratung und kurzfristiges Follow-up sind erforderlich, um schnell reagieren zu können, wenn eine Stimmungsverschlechterung bei Frauen mit diagnostizierter Depression auftritt. Zu beachten ist, dass einige Antidepressiva, Anxiolytika und Antipsychotika zu Interaktionen mit HC führen können. HC können den Metabolismus des Antidepressivums ändern, im Sinne einer Inhibition des Metabolismus durch Cytochrom-P450 (CYP450), was die Wirkung des Antidepressivums verstärken kann. Dies trifft vor allem auf trizyklische Antidepressiva zu, wobei dann auch gleichzeitig die Toxizität erhöht sein kann. Diese Interaktionen am CYP450-System betreffen die kombinierte Pille, ebenso wie den Vaginalring, das Pflaster und Gestagenpräparate (POK). Johanniskrautextrakte sind auch Cytochrom-P450 3A4 (CYP3A4) Induktoren und können somit die Wirksamkeit von HC vermindern.
Assoziation hormonaler Kontrazeption mit Suizid (12) Die Studie von Skovlund et al. von 2018 führte zu vielen Diskussionen in den Medien und soll deshalb hier ausführlicher behandelt werden. Es handelt sich um eine prospektive Kohortenstudie, die auf Daten aus dänischen Krankheitsregistern basiert. Daten aus dem National Prescription Register und aus dem Psychiatric Central Research Register wurden zusammengeführt und ausgewertet. Frauen, die während der Studiendauer (1995–2013) das 15. Lebensjahr erreicht hatten und neu eine Kontrazeption verschrieben bekamen oder in den letzten 6 Monaten die Kontrazeption abgesetzt hatten, wurden eingeschlossen. Frauen mit früheren Selbstmordversuchen, antidepressiver Therapie, psychiatrischen Diagnosen, Krebskrankheit und venöser Thrombose wurden ausgeschlossen. Aus dem Register sammelte man Daten von 475 802 Frauen, insgesamt 3 920 818 Frauenjahre. Das mittlere Alter der Frauen war 21 Jahre; die Dauer des Follow-ups betrug durchschnittlich 8,3 Jahre. In dieser Zeit gab es 6999 Suizidversuche und 71 Suizide. In der HC-Gruppe kam es zu 3898 Suizidversuchen in 2 127 374 FJ und zu 42 Suiziden in 2 154 887 FJ. In der Nicht-HC-Gruppe ereigneten sich 2 049 Suizidversuche in 1 387 917 FJ und 8 Suizide in 1 393 940 FJ, was einem relativen Risiko von 1,97 (95%-KI: 1,85–2,10) für einen Suizidversuch und 3,08
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(95%-KI: 1,34–7,08) für einen Suizid in der HC-Gruppe entspricht. Für den Suizidversuch lag das relative Risiko für die kombinierte Pille bei 1,91 (95%-KI: 1,79–2,03), für den Vaginalring bei 2,58 (95%-KI: 2,06–3,22), für den transdermalen Patch bei 3,28 (95%-KI: 2,08–5,16) und für die POP mit Desogestrel bei 2,29 (95%-KI: 1,77–2,95). Die Assoziation zwischen HC (KHK und POP) und Suizidversuch war am höchsten 2 Monate nach Neustart und sank nach einem Jahr, blieb jedoch 30 Prozent höher als bei Frauen ohne Kontrazeption. Ein Problem bei dieser Studie ist, dass viele Faktoren, die aus anderen Gründen zu psychischen Problemen führen können, nicht in Betracht gezogen wurden. Es fehlen jegliche Informationen über die Lebenssituation und die Partnerschaft der Frauen (mit und ohne HC). Wir wissen nicht, ob die Frauen ohne Kontrazeption sexuell aktiv waren. Der Beziehungsstatus (stabile Beziehung oder wechselnde Partner) ist unbekannt. Das Jugendalter ist eine schwierige Zeit für einige junge Frauen, die ihre erste Beziehung und den ersten Geschlechtsverkehr erleben. Eine schwierige erste Erfahrung oder das Ende einer Beziehung könnte sich auf die Suizidrate auswirken. Frauen, die die KHK schon nach 3 Monaten absetzten, wurden als HC-Anwenderinnen weitergeführt. Die Familienanamnese für eine Depression ist unbekannt, obwohl sie einen grossen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit hat, eine Depression zu erleiden. Auch in der Skovlund-Studie von 2016, welche die gleiche Datenbank benutzte und die Assoziation zwischen Antikonzeption und Depression untersuchte, gibt es diverse Limitationen (11). Es fehlen die Angaben zur Indikation der Verschreibung von Antidepressiva. Diese werden bekanntlich nicht nur bei Depression verschrieben, sondern auch bei anderen Indikationen wie Angststörung, Neurose, Essstörungen und weiteren psychischen Erkrankungen. Die Studie von Skovlund et al. ist eine wich-
Merkpunkte
Kontrazeption bei Frauen mit bekannter Depression ● Alle Kontrazeptiva sind grundsätzlich möglich. Eine gute Beratung und Aufklä-
rung sind wichtig. ● Die Frau muss instruiert werden, sich bei Verschlechterung der Depression oder
Entwicklung von neuen Symptomen kurzfristig beim Verschreiber vorzustellen und beraten zu lassen. ● Kupfer-Intrauterinpessare haben keinen Einfluss auf die Stimmung. ● Auf Wechselwirkungen von Kombinationspräparaten mit trizyklischen Antidepressiva wegen der Interaktion mit CYP450 muss geachtet werden.
Kontrazeption bei Frauen ohne Depression ● Eine hormonelle Kontrazeption und das Intrauterinpessar (IUP) lösen sehr selten
eine Depression (MDD) aus. Es ist wichtig, diese seltenen Fälle zu erkennen. Häufiger beobachtet man leichtere depressive Symptome oder Stimmungsschwankungen, wie sie auch prämenstruell natürlich im Zyklus vorkommen. ● Beschwerden wie Stimmungsschwankungen oder depressive Stimmung müssen ernst genommen werden. Falls es in der Anamnese keinen Grund für die negativen Stimmungen gibt, muss ein Wechsel der Antikonzeptionsmethode diskutiert werden. ● Klinische Erfahrungen zeigen, dass bei frühzeitigem Absetzen der hormonellen Kontrazeption depressive Symptome in der Regel innerhalb von 2 bis 4 Wochen zurückgehen [16].
tige Studie, da es die erste ist, die das Thema HC und Suizid direkt untersucht (12). Sie muss jedoch unter Beachtung der Limitationen diskutiert werden. Die Konklusion, dass KHK die Suizidrate erhöhen, ist aufgrund dieser Studie nicht zulässig.
Zusammenfassung
Eine der Schwierigkeiten bei der Untersuchung der As-
soziation von HC und Depression ist, dass es viele äus-
sere Faktoren gibt, die die Stimmung beeinflussen
können. Zudem existieren zu wenig prospektive Stu-
dien und vor allem zu wenig longitudinale Studien. Wei-
tere häufige Limitationen in der Methodik sind fehlende
Kontrollgruppen, die Verwendung von Stimmungs-
scores, die nicht der MDD-Diagnose durch einen Psych-
iater entsprechen, ein zu kleines Patientinnenkollektiv
und eine zu kurze Studiendauer – 3 bis 6 Monate in der
Regel.
Die Datenlage zum Thema HC und MDD ist klein. Bisher
konnte keine klare generelle Assoziation zwischen HC
und Depression gezeigt werden. Es ist wichtig, bei der
Kontrazeptionsberatung einen Unterschied zwischen
Frauen mit und ohne bekannte Depression zu machen.
Bei Frauen mit bekannter Depression können grund-
sätzlich alle Kontrazeptiva verschrieben werden, jedoch
mit Vorsicht und engmaschigem Follow-up. Es ist wich-
tig, die Patientin beim Beratungsgespräch gut darüber
zu informieren, dass Hormone einen Einfluss auf ihre
Grunderkrankung haben können, sodass die Frau sich
jederzeit melden kann, falls sich die Stimmung ver-
schlechtert.
Die Reaktionen auf eine HC sind sehr individuell und
nicht vorhersagbar. Somit ist es vor der Verschreibung
unmöglich zu sagen, ob eine Methode besser ist als
eine andere. Eine genaue Anamnese, inklusive psychia-
trischer Anamnese, ist bei der Erstverschreibung essen-
ziell. Die Anwenderinnen müssen ausführlich darüber
aufgeklärt werden, dass eine HC Nebenwirkungen wie
Stimmungsschwankungen und depressive Verstim-
mung, aber nur selten eine MDD verursachen kann.
Jede Frau, die nach dem Neustart mit HC depressive
Symptome entwickelt, sollte sich sofort bei ihrem be-
handelnden Arzt vorstellen, damit ein Wechsel der Anti-
konzeptionsmethode überlegt werden kann. Die
klinische Erfahrung zeigt, dass nach Absetzen der HC die
depressiven Symptome in der Regel innerhalb von 2 bis
4 Wochen verschwinden (16).
Generell lässt sich sagen, dass das Kupfer-Intrauterinpes-
sar (Kupfer-IUP) im Vergleich zu hormonellen Methoden
neutral ist und eine Alternative mit hoher Verhütungs-
sicherheit darstellt, wenn Bedenken bestehen, Hor-
mone zu verschreiben.
l
Korrespondenzadresse:
Mylène Dietiker-Ginier, Assistenzärztin
Dr. Angela Niggli
Prof. Dr. med. Gabriele Susanne Merki-Feld
Klinik für Reproduktions-Endokrinologie
UniversitätsSpital Zürich
Frauenklinikstrasse 10
8091 Zürich
mylene.dietiker-ginier@usz.ch
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