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E D I T O R I A L Unser Ziel: Gleichstellung!
I n vielen Bereichen der schweizerischen Gesundheitsversorgung wurden in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht. Für Menschen mit geistiger Behinderung (oder intellektueller Entwicklungsstörung gemäss aktueller ICD-Terminologie) sind aber nur sehr wenige spezialisierte medizinische Angebote entstanden. Dabei hielt die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) schon 2008 in ihren medizinisch-ethischen Richtlinien fest, dass es bei Menschen mit Behinderung «spezielle Kenntnisse braucht, um eine Diagnose zu stellen und die Behandlung durchzuführen. Insbesondere sind Probleme der Kommunikation und der Kognition aufgrund einer Behinderung zu erkennen und ein adäquates therapeutisches Setting zusammen mit dem Patienten und seinen Angehörigen und Betreuenden aufzubauen.» Ein Meilenstein auf dem Weg zur Gleichstellung war der am 15. April 2014 erfolgte Beitritt der Schweiz zum Übereinkommen der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das am 13. Dezember 2006 in New York von der Generalversammlung der UNO verabschiedet wurde. Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention stipuliert nämlich, dass «die Vertragsparteien Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung [stellen] wie anderen Menschen.» Diese Ziele sind nicht unerreichbar. Dafür müssen Standards für die Diagnosestellung, die Behandlung und die Betreuung, die Aus- und Weiterbildung
und die Architektur und die Gestaltung entwickelt
werden. Zuständig für diese Qualitätsstandards ist
die Schweizerische Gesellschaft für Gesundheit bei
Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörun-
gen (SGGIE), die Vereinigung der in der Gesund-
heitsversorgung von Menschen mit intellektueller
Entwicklungsstörung tätigen Spezialisten aus ver-
schiedenen Berufen und Disziplinen. Die Entwick-
lung der Standards wird einige Jahre in Anspruch
nehmen, deren Bekanntmachung und Umsetzung
in der ganzen Schweiz ebenso.
Aber auch die Kliniken und Spitäler müssen Kon-
zepte entwickeln, wie eine adäquate und zeitge-
mässe Behandlung sichergestellt werden kann. Nur
einige unter ihnen verfügen über ein genügend
grosses Einzugsgebiet, um eigene spezialisierte An-
gebote aufbauen zu können. Es wird nötig sein,
grössere Versorgungsregionen zu definieren und
Kooperationen mit den spezialisierten Zentren
einzugehen. Und schliesslich wird die Politik auf-
gefordert sein, Modelle zu entwickeln, um die
Finanzierung der neuen Angebote für Menschen
mit intellektuellen Entwicklungsstörungen sicher-
zustellen.
Ziel ist die Gleichstellung, und zwar für alle Men-
schen – mit oder ohne Behinderung!
l
Dr. med. Dan Georgescu Klinikleiter und Chefarzt – Klinik für Konsiliar-,
Alters- und Neuropsychiatrie, Psychiatrische Dienste Aargau AG Präsident – Schweizerische Gesellschaft für Gesundheit bei Menschen mit intellektuellen
Entwicklungsstörungen
Foto: zVg
Dan Georgescu
4/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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