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Die Pathophysiologie des Delirs
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Delir ist ein ätiologisch unspezifisches, hirnorganisches Syndrom multifaktorieller Genese und kommt am häufigsten im späteren Lebensalter und in Kombination von kognitiven Störungen wie DemenzErkrankungen vor. Die pathologische Grundlage des Delirs wird zunehmend besser verstanden. Eine Reihe von Neurotransmitter-Veränderungen auf der Basis von erhöhter neuronaler Vulnerabilität in Kombination mit neuroinflammatorischen Veränderungen, Störungen der Stress-Achse und der zirkadianen Regulation sowie oxidativer Stress führen zum klinischen Bild des Delirs. Das Verständnis der Entstehungsmechanismen des Delirs ist wichtig für die Entwicklung von spezifischeren Therapieverfahren und diagnostischen Markern.
Egemen Savaskan
von Egemen Savaskan
D elir ist ein akutes oder subakutes neuropsychiatrisches Syndrom, welches sich als Störung des Bewusstseins, der Aufmerksamkeit, der kognitiven Funktionen, der Wahrnehmung, der exekutiven Funktionen, der Psychomotorik und des zirkadianen Rhythmus manifestiert (1–3). Delir ist ein Zustand der zerebralen Dysfunktion, welcher aufgrund von sehr unterschiedlichen Faktoren entstehen kann. Es tritt typischerweise innerhalb von Stunden oder Tagen auf und sistiert sehr schnell, wenn die Ursache gefunden und behoben ist. Die Symptome fluktuieren im Tagesverlauf, was die Diagnose und Ursachenfindung erschweren kann. Die Pathogenese des Delirs ist in der Regel multifaktoriell und das Ergebnis von komplexen Interaktionen zwischen prädisponierenden Faktoren und akut einwirkenden Noxen (1–4). Unspezifische pathophysiologische Veränderungen im zentralen Nervensystem, die verschiedene Neurotransmitter- und neuroendokrine Systeme betreffen, führen zum klinischen Bild des Delirs. Alter und kognitive Störungen im Rahmen von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer-Demenz (AD) sind die wichtigsten Risikofaktoren für die Entstehung eines Delirs. Altersbedingte Prozesse reduzieren die physiologische Reserve und machen das neuronale Substrat anfällig für physischen Stress (3). Veränderungen in stress-regulierenden Neurotransmittern und in der intrazellulären Signal-Transduktion, Reduktion der zerebralen Blutperfusion und Verlust der Nervenzellen bilden die Basis dieser Vulnerabilität. Neben Alter und kognitiven Störungen können folgende Risikofaktoren Delir begünstigen: männliches Geschlecht, Depression, Multimobidität (mehr als drei
Begleiterkrankungen), Polypharmazie (mehr als drei Medikamente zeitgleich), Infektionen, Elektrolytstörungen, Dehydratation, Seh- und Hörminderung, Schweregrad der vorliegenden Erkrankung, Mangelernährung, chronische Krankheiten, Traumata, metabolische Störungen, Katheter, Schmerz, Harnverhalt, Herzinsuffizienz, Hypotonie, Lungenembolie, chirurgische Eingriffe, Intoxikation und Medikamente, vor allem Psychopharmaka wie z. B. Benzodiazepine oder alle Substanzen mit anticholinergem Wirkmechanismus (1–3). Diese Liste ist nur eine Auswahl der wichtigsten Risikofaktoren und ist nicht abschliessend. Insbesondere bei älteren Personen kommen zusätzliche Faktoren dazu, die in dieser vulnerablen Patientengruppe delirogen wirken können.
Neurotransmitter-Veränderungen Die wichtigsten Neurotransmitter-Veränderungen, die in der Entstehung der Delir-Symptomatik eine Rolle spielen, sind die Abnahme von Acetylcholin (Ach), die Zunahme von Dopamin (DA), Norepinephrin (NE) und Glutamat (GLU) sowie die Schwankungen (Ab- oder Zunahme) von Serotonin (5HT), Histamin (H1&2) und Gamma-Aminobuttersäure (GABA) (1–4). Ach- und DA-Veränderungen erklären die wichtigsten Delir-Symptome. Während Ach-Abnahme zu Regulationsstörungen des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit sowie des REM-Schlafes führt, ist der DA-Anstieg verantwortlich für Symptome wie Agitation, Irritabilität, Aufmerksamkeitsstörungen, Wahn und Halluzinationen (4). Die Erhöhung des DA ist also wesentlich mit dem hyperaktiven Subtyp des Delirs verbunden. Da DA auch eine wichtige Rolle bei der Regulation des Blutdrucks spielt und vasokonstriktiv wirkt, kommt es bei Delir zu Herz-Kreislauf-Störungen. GABA ist das wichtigste hemmende Neurotransmittersystem im zentralen Nervensystem und ist involviert in
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der Regulation von Stressreaktionen und neuronaler Erregung (4). GLU wirkt eher exzitatorisch auf Neuronen und wird aktiviert bei Immunreaktionen. Eine Überaktivität von GLU kann zu neuronaler Apoptosis führen. Da GLU zu GABA metabolisiert wird, sind die Mengen dieser beiden Neurotransmitter entscheidend, ob beim Delir eher der hypoaktive oder der hyperaktive Subtyp sich klinisch manifestiert. 5HT kann im Rahmen von Delir erhöht oder reduziert sein, und erhöhte 5HT-Mengen verändern DA im Gehirn (4). Diese Wirkung ist vor allem assoziiert mit hypoaktivem Delir. NE ist wichtig in der Regulation des Schlafs und der Konzentration. Da NE durch Umwandlung des DA entsteht, sind die beiden Neurotransmitter in ihrer Wirkung eng miteinander verknüpft. Bei Betroffenen mit physischem Stress (Trauma, Infektion, Operation usw.) kann der Anstieg von NE das Risiko für Delir erhöhen.
Neuroinflammation Die sogenannte «Neuroinflammationshypothese des Delirs» besagt, dass das Delir die Konsequenz einer systemischen, neuroinflammatorischen Reaktion ist, die die Blut-Hirn-Schranke überwindet und im zentralen Nervensystem zu Veränderungen führt (3, 5). Periphere inflammatorische Prozesse, z. B. infolge von Infektionen oder chirurgischen Eingriffen, führen zu einem Anstieg von pro-inflammatorischen Zytokinen, insbesondere TNF-alpha (Tumornekrosefaktor-alpha), IL-1 (Interleukin1) und IL-6 (Interleukin-6). Diese können über ihre Wirkung auf die afferenten Nerven wie Vagus oder Trigeminus indirekt, oder durch die Überwindung der Blut-Hirn-Schranke direkt die Parenchym-Zellen im Gehirn, die Mikroglia, aktivieren und so zu einer Neuroinflammation führen. Die Aktivierung der Mikroglia im Gehirn führt dann ihrerseits zur Produktion von pro-inflammatorischen Zytokinen TNF-alpha, IL-1 und IL-6 sowie von MCP-1 (Monocyte chemoattractant protein-1) an Ort und Stelle (3, 5). Das Letztere zieht periphere zirkulierende Monozyten an, und es kommt zu einer dauerhaften neuroinflammatorischen Reaktion. Dieser inflammatorische Prozess beeinträchtigt lokal die neuronalen und synaptischen Funktionen und führt auf diese Weise zum klinischen Bild des Delirs. Unter normalen Umständen versucht ein zentraler, neuronaler Mechanismus via paraventrikulärem Nukleus, Locus Coeruleus und dorsalem Motor-Nucleus, die Homöostasis wiederherzustellen. Bei fortgestrittenem Alter und neurodegenerativen Erkrankungen versagt dieser Mechanismus und es kommt zu einer anhaltenden Aktivierung der pro-inflammorischen Zytokine. Hinzu kommt, dass bei einer anhaltenden Inflammation die Leukozyten sich an die Endothelzellen der Blut-Hirn-Schranke binden und die Permeabilität schädigen können. Dadurch wird das zentrale Nervensystem anfälliger für periphere pro-inflammatorische Einflüsse.
Oxidativer Stress Die «Oxidativer Stress-Hypothese (OSH)» legt nahe, dass das Delir das klinische Bild einer zerebralen metabolischen Störung ist, die zu kognitiven Defiziten führt (3, 6). Der reduzierte oxidative Metabolismus im Gehirn führt zu Neurotransmitter-Veränderungen und zerebraler Dysfunktion, bedingt durch eine Zunahme der freien
Radikale und durch eine Abnahme der anti-oxidativen Kompensationsmechanismen. Die OSH ist eng mit der Hypothese der Neurotransmitter-Veränderungen verknüpft, weil es durch die Defizite des oxidativen Metabolismus in den Zellen zu einem Ausfall der Adenosin-Triphosphatase-Pumpen kommt, was den Anstieg der Neurotransmitter DA und GLU begünstigt. GLU-Freisetzung potenziert dieses Störungsbild nachhaltig. Da die Umwandlung von DA in NE ebenfalls sauerstoffabhängig ist, kommt es beim oxidativen Stress zu einer zusätzlichen Erhöhung von DA. Schliesslich führt Hypoxie auch zu einer Reduktion der Ach-Synthese und -freisetzung. Diese Veränderungen decken sich gut mit den pathologischen Defiziten bei Delir.
Stresshormone Die Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenrindenAchse (HPA) oder Stressachse wird bei Stress aktiviert und führt zur Freisetzung des Cortikotropin-ReleasingHormons (CRH) im paraventrikulären Nukleus des Hypothalamus. CRH wirkt auf die Hypophyse und regt dort die Freisetzung des adrenocortikotropen Hormons (ACTH) an. ACTH wirkt dann auf die Nebennierenrinde, in der Glukokortikoide (GC) wie Kortisol freigesetzt werden. Dieser Mechanismus hilft dem Körper, mehr Energieressourcen zu aktivieren und unterdrückt nicht lebensnotwendige Funktionen. Physiologische Prozesse nach der Stressreaktion reduzieren GC zu normalen Plasmaspiegeln. Eine anhaltende Dysregulation der HPA führt zu einer chronischen Aktivierung der GC-Rezeptoren im zentralen Nervensystem, aber vor allem im Hippocampus, und verursacht strukturelle Schäden. Die «Neuroendokrin- oder Glukokortikoid-Hypothese» besagt, dass das Delir eine physiologische Reaktion auf erhöhte GC-Werte bei akutem oder chronischem Stress darstellt (3). GC modulieren im Gehirn Gentranskription, zelluläre Signalkaskaden, synaptische Strukturen, Transmission, Gliazellen und dadurch indirekt das Verhalten (7). Anhaltend erhöhte GC reduziert die Überlebenschancen von Neuronen nach metabolischen Störungen und erhöht die Vulnerabilität (3). Es ist nachgewiesen worden, dass ältere Personen mit kognitiven Störungen, vor allem nach Operationen und zerebrovaskulären Ereignissen, erhöhtes Kortisol und eine Dysregulation der HPA aufweisen und dies sie anfällig auf die Entwicklung eines Delirs macht. Auch die systematische Einnahme von Kortikosteroiden erhöht das Risiko für ein Delir und kann zur kognitiven Verschlechterung beitragen.
Zirkadiane Schlaf-Wach-Störungen und Delir Melatonin ist ein körpereigenes Hormon, welches in der Zirbeldrüse (Corpus Pineale) in Abhängigkeit von äusseren Lichtverhältnissen produziert wird und physiologische Funktionen wie Organisation der zirkadianen Rhythmen, Körpertemperatur, antioxidative Mechanismen, Immunreaktionen, Hämostase und GlukoseMetabolismus reguliert. Die «Zirkadianer-RhythmusDysregulation-Hypothese» führt die Entwicklung des Delirs auf eine Störung der Schlafarchitektur zurück, bedingt durch eine Dysregulation der zirkadianen Rhythmen und Veränderungen in der Wahrnehmung vom Licht (3). Es ist bekannt, dass chronische Schlafstörungen als Stressfaktoren über Anstieg der proinflammato-
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Merkpunkte:
● Die pathologische Grundlage des Delirs wird zunehmend besser verstanden. ● Die wichtigsten Neurotransmitter-Veränderungen, die in der Entstehung der
Delir-Symptomatik eine Rolle spielen, sind die Abnahme von Acetylcholin, die Zunahme von Dopamin, Norepinephrin und Glutamat sowie die Schwankungen (Ab- oder Zunahme) von Serotonin (5HT), Histamin (H1&2) und Gamma-Aminobuttersäure. ● Die sogenannte «Neuroinflammationshypothese des Delirs» besagt, dass das Delir die Konsequenz einer systemischen, neuroinflammatorischen Reaktion ist. ● Die «Oxidativer Stress-Hypothese» legt nahe, dass das Delir das klinische Bild einer zerebralen metabolischen Störung ist, die zu kognitiven Defiziten führt. ● Eine anhaltende Dysregulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse führt zu einer chronischen Aktivierung der Glukokortikoid-Rezeptoren im zentralen Nervensystem, aber vor allem im Hippocampus, und verursacht strukturelle Schäden. ● Die «Zirkadianer-Rhythmus-Dysregulation-Hypothese» führt die Entwicklung des Delirs auf eine Störung der Schlafarchitektur zurück.
rischen Zytokine, erhöhtem sympathischen und reduziertem parasympathischen Tonus sowie erhöhtem Blutdruck, Kortisol, Glukose und Insulin, Delir und kognitive Störungen begünstigen (8). Dabei gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem zur Verfügung stehendem Melatonin und der Anfälligkeit für Delir (3). Während der Dauer eines hyperaktiven Delirs kommt es zu einer Reduktion der Melatonin-Metaboliten während diese bei hypoaktivem Delir erhöht sind (9). Die Verabreichung von Melatonin verbessert die zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus-Störungen und reduziert die Inzidenz des Delirs (10). Die Metaanalyse der kontrollierten Studien zeigt deutlich, dass die Melatonin-Einnahme präventiv bei multimorbiden älteren Personen wirkt und die Inzidenz des Delirs senkt (11). Die Vielfalt der involvierten Mechanismen in der Ätiologie des Delirs legt nahe, dass eine Störung in der Integration verschie-
dener Systeme vorliegt. Die sogenannte SIFH (System
Integration Failure Hypothesis) führt das Delir auf die
Neurotransmitter-Veränderungen in Kombination mit
einer Störung der koordinierten Arbeitsweise der neu-
ronalen Systeme zurück (3). Dabei können verschiedene
Risikofaktoren als Auslöser für das Delir in Frage kom-
men. Eine vorbestehende neuronale Vulnerabilität und
ein akutes Ereignis als auslösender Faktor bilden die Basis
auf der das Delir sich entwickeln kann.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Egemen Savaskan
Klinik für Alterspsychiatrie
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Minervastrasse 145
8032 Zürich
E-Mail: egemen.savaskan@puk.zh.ch
Literatur:
1. Savaskan E & Wolfgang H (Hrsg.): Leitlinie Delir: Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie des Delirs im Alter. Hogrefe Verlag, 2017.
2. Savaskan E, Baumgartner M, Georgescu D et al.: Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie des Delirs im Alter. Praxis, 2016; 105(16):941–952.
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