Transkript
FORTBILDUNG
Die Erfahrung muss dringend wieder aufgebaut werden
Interview mit Dr. Dan Georgescu, Psychiatrische Dienste Aargau AG
Menschen mit geistiger Behinderung haben ein erhöhtes Risiko, an einer psychischen Störung oder Verhaltensauffälligkeit zu leiden. Um diese zu managen, braucht das medizinische, psychologische und pflegerische Personal fachliche Kompetenz. Das haben nur sehr wenige. Denn in jüngerer Vergangenheit wurden Menschen mit geistiger Behinderung aus der Spitalversorgung ausgegliedert und «entpsychiatrisiert», mit der Folge, dass die Erfahrung mit dieser Patientengruppe in psychiatrischen Kliniken allmählich verloren ging. Was für eine bessere Versorgung nötig ist und wie der Stand der Aufbauarbeit in diesem Bereich ist, skizzierte Dr. Dan Georgescu, Klinikleiter und Chefarzt der Psychiatrischen Dienste Aargau AG, im Interview.
Abkürzungen: DSM: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
ICD: International Classification of Diseases
ICF: International Classification of Functioning, Disability and Health
WHO: World Health Organization
Wie wird geistige Behinderung definiert (nach ICD/DSM)? Sind diese Definitionen ausreichend und zeitgemäss? Dr. Dan Georgescu: Begriffe wie geistige Behinderung, Intelligenzminderung oder mentale Retardierung sind in der medizinischen Fachsprache überholt. Im 2013 erschienenen DSM-5 der American Psychiatric Association wurde der Begriff mentale Retardierung durch intellektuelle Beeinträchtigung ersetzt. Mit Blick auf die erwartete ICD-11-Terminologie wurde der Begriff intellektuelle Entwicklungsstörung in Klammern ergänzt. Tatsächlich entschied sich die WHO für den Begriff Störungen der intellektuellen Entwicklung. Definiert werden diese als eine Gruppe von ätiologisch mannigfachen Gesundheitszuständen, die während der Entwicklungsperiode entstehen und durch ein signifikant unterdurchschnittliches und – wichtig! – zuverlässig erhobenes intellektuelles Funktionsniveau sowie adaptives Verhalten charakterisiert sind. Hervorzuheben ist, dass die intellektuelle Entwicklungsstörung als eine Funktionsbeeinträchtigung im Sinne einer Behinderung gemäss der WHO-ICF aufgefasst wird und zugleich als Gesundheitsstörung im ICD-11 im Kapitel Psychische, Verhaltens- oder Neuroentwicklungsstörungen weiterhin aufgeführt wird. Die Tatsache, dass die WHO in der ICF das medizinische Modell mit dem gesellschaftlichen Modell integriert, bedeutet, dass nicht nur die individuelle Störung behandelt werden sollte, sondern dass auch die Gesellschaft Anpassungen vornehmen müsste, zum Beispiel die Barrierefreiheit gewährleisten. Jedoch soll das Verbleiben im ICD sicherstellen, dass die medizinischen Wissenschaften und die Gesundheitsversorgung das Thema nicht ignorieren und dass der Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung bestehen bleibt.
Was ist in der Versorgung von geistig behinderten Menschen mit psychiatrischer Erkrankung besonders herausfordernd oder auch anders? Können Sie ein oder zwei Beispiele nennen?
Foto: zVg
Dan Georgescu
Georgescu: Die Kombination aus Störungen in verschiedenen Bereichen wie Intelligenzminderung, Psychose, Epilepsie, Autismus oder Demenz erfordert sowohl in der Diagnostik als auch in der Behandlung die Zusammenarbeit von Spezialisten aus verschiedenen medizinischen und psychologischen Fachdisziplinen wie Psychiatrie, Psychotherapie, Neurologie, innere Medizin und Neuropsychologie sowie aus Pflege und Sozialpädagogik, aber auch den Einbezug verschiedener Therapiemethoden. Als Beispiele zu nennen sind Ergotherapie, Musiktherapie und Bewegungstherapie. Neben der Bestimmung des allgemeinen Intelligenzniveaus ist die Kenntnis des emotionalen Entwicklungsstandes sehr wichtig, um Bedürfnisse, Fähigkeiten, Antrieb und Verhalten zu verstehen. Die Diskrepanz zwischen der emotionalen und der kognitiven Entwicklung erhöht das Risiko für das Auftreten von Problemverhalten und psychischen Störungen stark. Auch die Kommunikation setzt eine entsprechende Ausbildung des Fachpersonals voraus, denn Diagnostik, Therapie und Betreuung lassen sich nur mit spezifischen Skills, Methoden und Manualen durchführen. Schliesslich müssen Behandlungsrahmen und Umgebung den Bedürfnissen angepasst werden. Die Kliniken und Spitäler beschränken sich auf Anpassungen der Zugänge für Rollstuhlfahrer und haben kein Konzept für Menschen mit weiteren besonderen Bedürfnissen.
12 4/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Wie sieht es derzeit in der Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung in der Schweiz aus? Was ist gut, wo gibt es Mängel? Georgescu: Es ist sehr gut, dass in den letzten Jahren die Problematik der Gesundheitsversorgung der Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen noch stärker ins Bewusstsein der Fachleute getreten ist. Sehr gut ist auch, dass unsere ursprünglich ärztliche Fachgesellschaft sich für Spezialisten aus anderen Professionen geöffnet hat. Wenn man die Angebote für andere Anspruchsgruppen betrachtet und vergleicht, dann muss man leider feststellen, dass noch sehr viel getan werden muss. Auch der Vergleich mit anderen Ländern mit einem hoch entwickelten Gesundheitswesen ist nicht vorteilhaft. Nicht die Angebote der pädagogisch geführten Langzeiteinrichtungen sind das Problem, sondern die der Gesundheitsversorger. Sehr grosse Mängel bestehen bei der Aus- und Weiterbildung der Fachleute aus Medizin, Pflege und Psychologie, aber auch die Behandlungsangebote der Kliniken sind absolut ungenügend. Deren Infrastruktur ist ungeeignet, die Passung mit den anderen Patienten ist schlecht, und es bestehen oft Abstimmungsprobleme bei der Zusammenarbeit mit den Betreuungseinrichtungen. Es müsste viel mehr getan werden, um die Gleichstellung zu erreichen.
Ist dieser Mangel geschichtlich begründet? Wie hat sich die Langzeitbetreuung im Lauf der Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte geändert? Georgescu: Dieser Mangel ist sowohl geschichtlich als auch politisch begründet. Die Ausgliederung aus der Spitalversorgung und damit die Entpsychiatrisierung der Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung war notwendig, um neben einer angemesseneren strukturellen Versorgung den inhaltlichen Anforderungen – Normalisierung, Partizipation und Selbstbestimmung – nachkommen zu können. Allerdings ging in den psychiatrischen Kliniken die Erfahrung mit Menschen mit geistiger Behinderung allmählich verloren. Ärzte und Pflegende sind heutzutage mit deren Behandlung und Betreuung häufig überfordert. Ausserdem ist durch die zunehmende Spezialisierung der psychiatrischen Stationen eine Inklusion kaum mehr möglich. Patienten mit Intelligenzminderung werden aus den einzelnen Elementen der Behandlungsangebote ausgeschlossen und von anderen Patienten und auch vom Personal aktiv ausgegrenzt. Darüber hinaus sind auf Stationen mit einem breiten und gemischten Spektrum Behandlungsangebote, die über eine kurze Krisenintervention hinausgehen, wie zum Beispiel störungsspezifische Gruppen oder spezialisierte Therapien, in organisatorischer und fachlicher Hinsicht kaum umsetzbar.
Was braucht es in Zukunft für eine bessere Versorgung? In einem Beitrag haben Sie geschrieben, dass die Schweiz noch einen langen Weg vor sich hat, wenn es darum geht, ein nationales, spezialisiertes und professionelles Gesundheitssystem für Menschen mit geistiger Behinderung, die psychiatrischer Betreuung bedürfen, aufzubauen. Werden die Änderungen wieder auf Initiative Einzelner basieren? Sehen Sie bereits Initiativen? Georgescu: Einige Initiativen geben Anlass zur Hoffnung, aber es wird noch etliche Jahre dauern, bis die lokalen Entwicklungen alle Versorgungsregionen errei-
chen. Im Demenzbereich war es vor 20 Jahren nicht besser. Seither hat es aber immense Fortschritte gegeben, die meistens von lokalen Initiativen und Fachgesellschaften ausgegangen sind. Die Nationale Demenzstrategie des Bundes hat die Entwicklung zusätzlich gefördert. Ich denke, dass auch für die Gesundheit der Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen eine Strategie des Bundes sehr hilfreich sein könnte. Am meisten erwarte ich aktuell von der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheit bei Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen (SGGIE), die Standards für die Diagnosestellung und die Behandlung erarbeitet. Später werden auch Standards für Architektur und Umgebungsgestaltung sowie ein interdisziplinäres Weiterbildungscurriculum entwickelt. Auch mit ethischen und rechtlichen Fragen müssen wir uns im interprofessionellen Rahmen näher befassen.
Wo hat es bis anhin die besten Versorgungsstrukturen in der Schweiz, und sind diese wiederum historisch bedingt? Georgescu: Es gibt mehr oder weniger entwickelte Strukturen zum Beispiel in den Kantonen Aargau, Bern, Genf, Luzern, St. Gallen und Zürich. Meistens waren dort früher Langzeitinstitutionen, zum Beispiel psychiatrische Anstalten oder Epilepsiekliniken, in denen Menschen mit geistiger Behinderung behandelt und betreut wurden. Vermutlich haben wir von den Psychiatrischen Diensten Aargau AG (PDAG) derzeit die am stärksten ausgebauten Angebote.
Was zeichnet die PDAG in Brugg-Windisch aus?
Georgescu: Bei den PDAG arbeiten spezialisierte Fach-
leute aus allen relevanten Berufsgruppen und Diszipli-
nen. Die PDAG bieten eine möglichst vollständige
Behandlungskette innerhalb unserer eigenen Organi-
sation an. Ein besonderes Augenmerk galt bei der Pla-
nung der Übergänge von einer Versorgungsform in eine
andere, denn gerade diese Schnittstellen sind beson-
ders anfällig für Koordinationsprobleme. Wir verfügen
über ein verhältnismässig grosses Ambulatorium mit
spezialisierten Sprechstunden, über einen spezialisier-
ten konsiliarpsychiatrischen Dienst für die Einrichtun-
gen im Kanton Aargau, zunehmend auch für ausser-
kantonale Einrichtungen, sowie sehr bald auch über
eine interdisziplinäre neuropsychiatrische Abklärungs-
stelle, die komplexe multidimensionale und multimo-
dale Beurteilungen vornimmt. Ausserdem haben wir
seit 2018 eine eigene spezialisierte und nach modernen
Standards gestaltete Akutstation, die aufgrund der gros-
sen Nachfrage um eine zweite Station erweitert wird.
Last but not least: Unser Team ist jung und hoch moti-
viert!
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Dan Georgescu
Klinikleiter und Chefarzt
Mitglied der Geschäftsleitung
Psychiatrische Dienste Aargau AG
Klinik für Konsiliar-, Alters- und Neuropsychiatrie
Königsfelderstrasse 1
5210 Windisch
E-mail: dan.georgescu@pdag.ch
Das Interview führte Annegret Czernotta.
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE