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FORTBILDUNG
Das Delir: Wenig beforscht trotz grosser Häufigkeit
Interview mit Prof. Luzius Steiner, Universitätsspital Basel
Das Delir ist eine häufige und akute Störung der zerebralen Funktion. Rund ein Drittel bis 80 Prozent der Intensivpatienten sind betroffen. Die genauen Ursachen und Auslöser sind nicht abschliessend bekannt. Auch die Therapie erfolgt bislang symptomatisch. Im Interview gibt Prof. Luzius Steiner, Chefarzt und Leiter Anästhesiologie am Universitätsspital Basel, Auskunft darüber, welche Massnahmen notwendig wären, um dieses Patientenkollektiv besser versorgen zu können. Dazu gehören beispielsweise auch Studienprojekte.
Welche Studienprojekte gibt es zurzeit in der Schweiz zum Thema Delir? Prof. Luzius Steiner: Auf der Website von Clinical Trials (https://clinicaltrials.gov) sind derzeit 18 Schweizer Studien zum Thema Delir gelistet. Die Mehrheit dieser Studien ist abgeschlossen, oder einige Studien sind als nicht weiterlaufend gemeldet. Insgesamt bleiben fünf Studien übrig, die zu diesem Thema in der Schweiz aktuell sind. Das zeigt deutlich, wie wenig beforscht das Delir trotz grosser Häufigkeit ist.
Warum ist das Interesse an Studien zum Delir gering? Steiner: Das Interesse ist schon vorhanden. Das Delir kommt häufig vor und ist in den verschiedensten Fachdisziplinen im Spital zu sehen. Auch die Finanzierung stellt an sich kein unlösbares Problem dar. Drittmittel können beispielsweise über den Schweizer Nationalfonds oder diverse Stiftungen angefragt werden. Komplex ist hingegen die Aufgleisung von Studien aufgrund verschiedener Aspekte: Die Rekrutierung ist erschwert, weil delirante Patienten ein sogenanntes vulnerables Kollektiv sind. Die Einwilligung, an einer Studie teilzunehmen, müsste vor dem Delir erfolgen, was oft schier unmöglich ist. Oder sie ist aufwändig, da der Patient nicht selbst einwilligen kann. Zudem ist das Kollektiv fast mehrheitlich über 70 Jahre alt, und damit sind oft auch die Angehörigen sehr alt. Weiter erschweren die kognitiven Einschränkungen die Rekrutierung. Zudem ist das Kollektiv auch sehr heterogen. In die Studien werden Patienten mit niedrigem und hohem Risiko eingeschlossen, das verwässert die Ergebnisse. Retrospektive Studien sind eher möglich, aber diese sind von der Wertigkeit her nicht so hoch angesehen.
Laufen von den fünf Studien auch welche am Universitätsspital Basel?
Foto: zVg
Luzius Steiner
Steiner: In Basel läuft derzeit eine Medikamentenstudie zum Einfluss von Dexmedetomidin oder Propofol auf den Verlauf eines Delirs auf der Intensivstation. In der Rekrutierungsphase befindet sich eine weitere Studie zu Melatonin und zu einem Prädiktionsmodell für das Delir nach einem kardiochirurgischen Eingriff. Bei dem letztgenannten Projekt soll ein Assessment-Tool untersucht werden, das zur Einteilung der Schweregrade Aufschluss geben soll. Insbesondere Veränderungen der kognitiven Fähigkeiten stehen dabei im Vordergrund.
In welchem Bereich sollte geforscht werden? Steiner: Bislang wird, grob zusammengefasst, nach Risikofaktoren für ein Delir geforscht und nach möglichen Therapien. Bei den Medikamenten haben wir das Problem, dass nach einem «magic bullet» geforscht wird. Aber das wird es nie geben, weil die Pathophysiologie des Delirs viel zu komplex ist. Deshalb entstand die Idee eines «Bundles», einer Kombination verschiedener Interventionen. Das macht es wiederum schwierig, das Massnahmen-Wirkungs-Verhältnis festzustellen. Die Risikofaktoren an sich sind ebenfalls wenig hilfreich. Interessanter wäre es, das Risiko für ein Delir frühzeitig zu
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erkennen. Ist beispielsweise ein 82-Jähriger mit Vorhofflimmern, aber ohne kognitive Einschränkung, aufgrund der Somatik eher gefährdet als ein 65-Jähriger mit Sinusrhythmus und bereits vorhandenen kognitiven Einbussen? Eine weitere spannende Frage bezieht sich auch auf die Langzeitdaten zum Verlauf eines Delirs. Wir wissen, dass die Patienten Langzeitfolgen wegen des Delirs haben, ob wir diese mit einer erfolgreichen Prophylaxe oder Therapie verhindern können, ist jedoch unklar. Biomarker im Gehirn, die uns anzeigen, dass das zentrale Nervensystem an seine Grenzen gelangt ist, haben wir nicht.
Sind denn bereits prophylaktische Massnahmen bekannt? Steiner: Es gibt einen breiten Konsens, dass pflegerische präventive Massnahmen erfolgreich sind. Interessant sind die hypothetischen Ansätze, dass z. B. präoperatives kognitives Training oder präoperative Physiotherapie einen Effekt haben könnten. Demenzstudien zeigen, dass die kognitive Reserve grösser ist, wenn sich jemand regelmässig körperlich bewegt. Auch die intellektuelle Aktivität kann die kognitive Reserve verbessern. Ein Beispiel, das beides vereint, wäre z. B. Klavier spielen. Anhand dieser Faktoren zeigt sich auch bereits, dass Delirforschung eng mit der Demenzforschung verknüpft ist. So wissen wir beispielsweise, dass bei einer demenziellen Erkrankung das Volumen des Hippocampus abnimmt, beim Delir ist die Datenlage viel weniger klar, solche Studien fehlen schlicht noch. Wir haben versucht, Veränderungen im Hippocampus bei leichteren kognitiven Einbussen, der sogenannten postoperativen kognitiven Dysfunktion, zu dokumentieren, und konnten keinen klaren Zusammenhang zwischen kognitiver Dysfunktion und Hippocampusvolumen finden. Wir können aber nicht sagen, warum das so ist. Vielleicht sehen wir nichts, weil die kognitive Dysfunktion im Prinzip reversibel ist, vielleicht haben wir an den falschen Orten gesucht.
Ist das Delir mehr ein psychiatrisches oder ein neurologisches Problem? Steiner: Es gibt Delirien, die ganz klar in die Hand des Geriaters, Neurologen oder Psychiaters gehören. Aber das Delir hält sich nicht immer an die Fachgrenzen. Problematisch ist beispielsweise die postoperative Phase. Patienten nach Herzchirurgie entwickeln zu rund 30 Prozent ein Delir. Ursache dafür ist ein vulnerables zentrales Nervensystem, zum Beispiel wegen Inflammation, aber wir wissen nicht, welche Gründe noch dazu führen. Derzeit läuft am Universitätsspital Basel auf der Orthopädie ein Schema zur Prävention eines Delirs bei Patienten mit Schenkelhalsfraktur. Eingeschlossen wird ein ganzes Bündel an Massnahmen, wie Ernährung, Mobilisation und Schmerztherapie
Was bringt Vorteile in der Prävention und Behandlung: eine ambulante oder stationäre Therapie? Steiner: Daten aus der Anästhesie zeigen, dass eine ambulante Therapie Vorteile für Patienten haben könnte.
Der Patient wird nicht aus dem gewohnten Setting gerissen, und die Mobilisation stellt möglicherweise einen Schlüsselfaktor dar, weil der Patient zu Hause aufstehen und mobil sein muss.
Wie wichtig ist beispielsweise die Versorgung durch die Spitex, und läuft das in der Schweiz bereits gut? Steiner: Bislang erfolgen am Universitätsspital Basel nur wenige Prozent aller Eingriffe ambulant. Diesbezüglich gibt es weltweit ganz andere Daten. In Kanada werden z. B. auch Hirntumoren ambulant operiert, was beim Patienten mehr Eigenverantwortung und ein anderes System der postoperativen Betreuung voraussetzt. Auch in Bezug auf die Schmerztherapie wird dort anders verfahren. Wir geben bei einer Skala von 1 bis 10 mit 10 als stärkstem Schmerz bereits bei 3 Schmerzmittel. In den USA wird aber meistens erst bei 5 behandelt, und auch mit Opiaten ist man neuerdings vorsichtiger. Deshalb wäre eine ambulante Therapie, soweit möglich, zu bevorzugen. Die Versorgung bei uns hinkt dem aber noch hinterher. Eine mögliche Lösung wären Advanced Nurse Practitioners, die zu den operierten Patienten nach Hause gehen und dort unter anderem die Schmerzbehandlung selbstständig anpassen können. Aufgrund der demografischen Entwicklung wäre das auch für die Schweiz ein denkbarer und möglicherweise notwendiger Weg.
Sie sagten einmal, es gebe keine Warteliste in der
Schweiz. Um präoperative Prophylaxe zu betreiben,
wäre diese aber von Vorteil. Durch Corona hatte es nun
eine solche Warteliste. Können Sie sich diesbezüglich be-
reits dazu äussern?
Steiner: Eine Warteliste hat es zumindest bei uns auch
durch Corona nicht wirklich gegeben. Idealerweise hät-
ten wir ein mehrwöchiges Zeitfenster, um die Patienten
präoperativ zu beurteilen und angepasst an ihre indivi-
duellen Bedürfnisse auf eine Operation vorzubereiten.
Das müsste im Moment allerdings im Rahmen von Stu-
dien erfolgen, da die Daten schlicht fehlen. Ein postope-
ratives Delir ist in der geriatrischen Anästhesie ein
alltägliches Problem. Viele unserer Patienten sind alt bis
uralt. Im Bereich des postoperativen Delirs sollten wir
den Fokus auf die Identifikation der Hochrisikopatienten
und auf eine gezielte möglicherweise sogar individuell
angepasste Prävention respektive auf ein perioperatives
Management legen.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Luzius Steiner, PhD
Chefarzt Anästhesiologie
Universitätsspital Basel
Spitalstrasse 21
4031 Basel
E-Mail: Luzius.Steiner@usb.ch
Sehr geehrter Herr Prof. Steiner, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Annegret Czernotta.
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