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FORTBILDUNG
Autismusdiagnostik bei erwachsenen Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung: «More than an academic exercise!»
Grund für die psychiatrische Zuweisung von Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung sind oft herausfordernde Verhaltensweisen wie Selbst-, Fremd- oder Sachaggression. Diese können Ausdruck einer psychischen Erkrankung im engeren Sinne sein, jedoch auch ursächlich mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) in Zusammenhang gebracht werden. Trotz hoher Prävalenz in dieser Gruppe bleiben ASS jedoch oft bis ins Erwachsenenalter unerkannt. Um Fehldiagnosen zu vermeiden und eine ursachenspezifische Behandlung und Unterstützung zu gewährleisten, ist eine umfassende Diagnostik notwendig. Dieser Beitrag bietet eine State-of-the-Art-Übersicht über diagnostische Möglichkeiten bei erwachsenen Menschen mit Autismusverdacht und schlägt ein multiprofessionelles diagnostisches Prozedere vor.
Foto: zVg
Thomas Bergmann
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von Thomas Bergmann
Einleitung
A utismus-Spektrum-Störungen (ASS) zeigen sich nach den gängigen Diagnosemanualen ICD-10 und DSM-5 auf Verhaltensebene durch qualitative Veränderungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie durch stereotype und repetitivrestriktive Verhaltensweisen und Interessen. Neurokognitive Erklärungsmodelle für diese Verhaltensweisen sind Defizite in der Handlungsplanung (Exekutivfunktionen), ein bevorzugter detailorientierter Verarbeitungsstil (schwache zentrale Kohärenz) und eine eingeschränkte Fähigkeit, Gedanken und Absichten anderer zu erkennen (theory of mind). Hinzu kommen sensorische Besonderheiten mit Über- oder Unterempfindlichkeit gegenüber bestimmten Reizen (z. B. Hyperakusis, herabgesetztes Schmerzempfinden) und eine durch die Nahsinne geprägte Reizhierarchie (z. B. ausgeprägtes Befühlen und Abtasten von Objekten). Häufig finden sich auch Einschränkungen der motorischen Koordinationsfähigkeit, die als Kriterien für das Asperger-Syndrom gelten, aber auch als Kernsymptome über das gesamte Autismus-Spektrum diskutiert werden. Die Störung beginnt im frühen Entwicklungsalter, wobei die Symptomatik erst dann offensichtlich wird, wenn die sozialen Anforderungen die eingeschränkten Fähigkeiten übersteigen. Die Ursachen einer ASS sind nicht abschliessend geklärt, wobei neben einer starken genetischen Komponente auch Umwelteinflüsse und frühe Erkrankungen des zentralen Nervensystems eine Rolle spielen. Die Symptomatik weist eine hohe Stabilität über die Lebensspanne auf und geht oft mit eingeschränkten Teilhabemöglichkeiten und einem erhöhten Hilfe- und Unterstützungsbedarf einher.
Die Prävalenz von ASS in der Allgemeinbevölkerung wird auf zirka 1 Prozent geschätzt, wobei diese bei Menschen mit einer intellektuellen Entwicklungsstörung mit 20 Prozent deutlich erhöht ist. Da eine zusätzliche ASS in dieser Gruppe mit stärker ausgeprägten herausfordernden Verhaltensweisen assoziiert ist, besteht ein erhöhter psychiatrisch-psychotherapeutischer und pädagogischer Handlungsbedarf. Zielführende und hilfreiche Interventionen sind jedoch vom Verständnis der betroffenen Person mit ihrem kontextbezogenen Verhalten und damit von einer korrekten Diagnose abhängig.
Differenzialdiagnostik Abgrenzung zur intellektuellen Entwicklungsstörung Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung sind mit zunehmendem Schweregrad in ihrer sozialen Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt, und es sind oft stereotype und selbst stimulierende Verhaltensweisen zu beobachten. Diese symptomatische Überschneidung mit einer ASS kann dazu führen, bei Menschen aus dem Autismusspektrum eine intellektuelle Entwicklungsstörung zu diagnostizieren (diagnostic substitution) oder umgekehrt, eine zusätzliche ASS bei Menschen auf niedrigem Funktionsniveau nicht zu erkennen und die Symptomatik der intellektuellen Entwicklungsstörung zuzuschreiben (diagnostic overshadowing). Zusammen mit Lern-, Anpassungs- und Reifungsprozessen über die Lebensspanne kann das die Ursache dafür sein, dass eine zusätzliche ASS bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung oft bis ins Erwachsenenalter unerkannt bleibt. Für die Diagnose einer ASS muss Folgendes berücksichtigt werden: a. eine über die im Rahmen der intellektuellen Ent-
wicklungsstörung aufgetretene Beeinträchtigung der relevanten Verhaltensweisen b. die spezifische Qualität dieser Verhaltensweisen
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Fallbeispiel:
Herr H. ist Mitte 30, spricht in Einzelworten und wird aufgrund raptusartiger Erregungszustände mit ungerichteter Aggression, die zum Verlust seines geschützten Arbeitsplatzes geführt haben, psychiatrisch vorgestellt. Im stationären Setting läuft er umher, führt Selbstgespräche, macht bizarr anmutende Handbewegungen und reagiert kaum auf Kontaktangebote. Zunächst wird eine Neurolepsie vor dem Hintergrund einer psychotisch anmutenden Symptomatik erwogen. In weiteren Gesprächen mit dem betreuenden Team seiner Wohneinrichtung wird von der Berentung seines Bezugsbetreuers und personeller Fluktuation in seinem Arbeitsbereich berichtet, was in zeitlichem Zusammenhang mit seinen Verhaltensauffälligkeiten gestanden habe. Das wird als Verlust an Struktur und Vorhersehbarkeit gedeutet, was aufgrund erhöhter Vulnerabilität bei einer möglichen ASS zu einer psychischen Dekompensation geführt haben könnte. Im Rahmen der umfassenden Autismusdiagnostik berichten die Eltern im Interview mit der Psychologin (ADI-R) von ähnlichen «Ausrastern» in der Kindheit bei sozialer Überforderung, von seinem Einzelgängertum, vom Wedeln der Hände bei Aufregung, von eingeschränktem Interesse auf Kisten und Schnüre und panischer Angst vor dem Schneiden der Fingernägel. Eine strukturierte Verhaltensbeobachtung im Stationsalltag (DiBAS-R), ein Interview mit einem WG-Betreuer zum aktuellen Verhalten (SEAS-M) und seine Interaktion mit dem Untersucher in einem strukturierten nonverbal-musikbasierten Setting (MUSAD) bestätigen eindeutig das Vorliegen einer ASS. Die Edukation des betreuenden Teams hinsichtlich ASS-spezifischem Umgang, ein persönlicher Tagesund Wochenplan mit Piktogrammen, die Reduktion sozialer Anforderungen und ein Arbeitsplatzwechsel in eine Kleingruppe mit einem auf Menschen mit ASS spezialisierten Förderbereich waren mittelfristig stabilisierend, sodass Risperidon zur Reizabschirmung wieder abgesetzt wurde.
(z. B. starrer, unflexibler Blickkontakt, Wedeln der Hände als spezifischer Manierismus) c. eine mögliche regressive Entwicklung mit zusätzlichen komorbiden Störungen aufgrund erhöhter Vulnerabilität und Stressanfälligkeit.
Abgrenzung zu genetischen Syndromen Im Autismusspektrum wird bei etwa 10 Prozent der Fälle von einem syndromalen Autismus ausgegangen, das heisst, die ASS ist im Gegensatz zum idiopathischen Autismus auf eine umschriebene Grunderkrankung zurückzuführen. Gleichzeitig sind jedoch genetische Syndrome differenzialdiagnostisch von einer ASS abzugrenzen, wenn die Symptomatik nicht dem Vollbild einer ASS entspricht und in Qualität und Quantität nicht über die syndromtypischen Verhaltensweisen hinausgeht. Das setzt die Kenntnis der verschiedenen Verhaltensphänotypen voraus. Bei der tuberösen Sklerose sind, insbesondere beim Typ 2, Interaktion und Kommunikation sowie Aufmerksamkeit und Aktivitätssteuerung gestört, während sich ritualisierte und stereotype Verhaltensweisen seltener zeigen. Beim Fragilen-X-Syndrom zeigen viele der überwiegend männlichen Betroffenen motorische Hyperaktivität, eine Störung der Aufmerksamkeit und der Selbstregulation sowie repetitive Verhaltensweisen. Soziale Ängstlichkeit kann auf den ersten Blick eine ASS vortäuschen, wobei ein grundsätzliches soziales Interesse meist vorhanden ist. Beim Rett-Syndrom gehen nach zunächst normaler Entwicklung im ersten Lebensjahr zunehmend Kompetenzen verloren, bei ausgeprägten Handstereotypien, Sprachverlust und einem starren, wenig modulierten Blickkontakt sind die meist weibli-
chen Betroffenen aber weiterhin an sozialem Kontakt interessiert. Diese Beispiele zeigen, dass insbesondere die Qualität der sozialen Reziprozität dazu geeignet ist, um bei symptomatischer Überlappung differenzialdiagnostische Abgrenzungen vorzunehmen.
Abgrenzung zu psychischen Störungen Autismus als extreme Selbstbezogenheit ist im BleulerSinn ein Kernsymptom der Schizophrenie, eine ASS als Neuroentwicklungsstörung mit frühem Beginn ist jedoch von einer Störung aus dem schizophrenen Formenkreis abzugrenzen. Echolalie und stereotyper Sprachgebrauch, ein situationsinadäquater Affekt, bizarr anmutende Gedankensprünge und Bewegungsstereotypien können eine Psychose vortäuschen. Wenn diese Verhaltensweisen jedoch schon aus der Kindheit bekannt sind, ist eher von einer ASS auszugehen. Das macht deutlich, wie wichtig neben der derzeitigen Beobachtung des aktuellen Verhaltens eine sorgfältige biografische Anamnese ist. Bei der differenzialdiagnostischen Abgrenzung sind auch Angststörungen und Depressionen in Betracht zu ziehen, da diese meist mit sozialem Rückzug verbunden sind. Bei Zwangsstörungen leiden Betroffene unter rigiden und repetitiven Verhaltensweisen, was bei Personen aus dem Autismusspektrum in der Regel nicht der Fall ist. Tic-Störungen sind mit motorischen Stereotypien assoziiert, hier gibt es aber keine grundsätzliche Einschränkung der sozialen Interaktionsfähigkeit. Erschwert wird die differenzialdiagnostische Abklärung dadurch, dass alle genannten psychischen Störungen auch komorbid auftreten können. So sollte die ASS-Diagnostik erst nach Abklingen einer akuten psychischen Erkrankung erfolgen und die Betrachtung im Längsschnitt einbeziehen.
Abgrenzung zu Deprivation und Sinnesbeeinträchtigung Deprivation und frühe Hospitalisierung sind bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung häufig. Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung wie sozialer Rückzug, Ängstlichkeit bei Veränderungen und stereotype Beschäftigung mit dem eigenen Körper können zentrale ASS-Kriterien erfüllen. Hier können die sorgfältige Verlaufsbeurteilung und die biografische Betrachtung Hinweise für die Ursache des Verhaltens liefern und die differenzialdiagnostische Abgrenzung unterstützen. Auch schwere Sinnesbehinderungen wie Blindheit oder Gehörlosigkeit können autismusähnliche Erscheinungsbilder hervorrufen, dennoch ist hier das Sozialverhalten unter Berücksichtigung der vorhandenen sensorischen Defizite angemessen. Zusammen mit eingeschränkter Selbstauskunft, lückenhaften Angaben zur frühkindlichen Entwicklung durch fehlenden Kontakt zur Ursprungsfamilie und Anpassungsleistungen über die Lebensspanne stellt die Autismusdiagnostik bei erwachsenen Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung eine grosse Herausforderung dar. Das ist jedoch «more than an academic exercise» (1), da es sich um eine vulnerable Gruppe handelt, die laut der UN-Behindertenrechtskonvention und der durch die Europäische Union angenommenen Charta für Menschen mit Autismus ein Recht auf diagnostische Klärung hat, um in ihrer Lebenswelt verstan-
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den zu werden und adäquate therapeutische Hilfe und Unterstützung zu erhalten.
Diagnoseinstrumente* und diagnostisches Prozedere Bezüglich des Zwecks und der Güte ist zwischen Screeningskalen und aufwendigeren diagnostischen Instrumenten zu unterscheiden. Für das ASS-Screening sind ökonomische Fremdbeurteilungsskalen sinnvoll, da Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung nur sehr eingeschränkt in der Lage sind, ohne fremde Unterstützung Fragebögen auszufüllen. Laut der aktuellen AWMF-S3-Leitlinie (2) sollen nur zwei der vor allem im Kinderbereich zahlreich vorhandenen Screeningverfahren zur ASS-Diagnostik auch bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung eingesetzt werden: der Fragebogen zur sozialen Kommunikation (FSK; [3]) und die Skala zur Erfassung von ASS bei Minderbegabten (SEAS-M; [4]). Der FSK ist ein 40 Items umfassender Fremdbeurteilungsbogen, der für Kinder und Jugendliche entwickelt wurde. In zwei Versionen wird entweder das aktuelle Verhalten oder das Verhalten über die Lebenszeit erfasst. Angepasst an die Lebenswelt von erwachsenen Menschen mit IM, wird von Derks et al. (5) eine auf 24 Items gekürzte Version (SCQ-AID) mit einem für diese Gruppe angepassten Grenzwert vorgeschlagen. Als Alternative ist mittlerweile der Diagnostische Beobachtungsbogen für ASS – revidiert (DiBAS-R; 6) verfügbar, ein spezifisch für Angehörige und Betreuer von Erwachsenen mit IM und Autismusverdacht entwickelter, ICD-10/DSM-5-basierter Fremdbeurteilungsbogen. Die Skala umfasst 19 Items und gewichtet in ihrem Auswertungsalgorithmus Auffälligkeiten in den Subskalen soziale Kommunikation und Interaktion mit stereotyprestriktiven Verhaltensmustern inklusive sensorischer Auffälligkeiten. Die Fragen sind leicht verständlich formuliert, sodass kein spezifisches Wissen über Autismus bei der beurteilenden Person notwendig ist. Zusätzlich zum DiBAS-R ist eine auf den Forschungskriterien der ICD-10 basierende Autismus-Checkliste (ACL) erhältlich, die von Ärzten oder Psychologen im Rahmen einer ärztlichen Visite oder eines psychologischen Erstgesprächs eingesetzt werden kann. Die Kombination beider ökonomischen Skalen verbessert die richtige diagnostische Klassifizierung (7). Die SEAS-M ist ein speziell für Menschen mit IM entwickelter strukturierter Interviewleitfaden, der autismustypische Verhaltensweisen auf Grundlage von Alltagsbeobachtungen durch professionelle Bezugspersonen beurteilt. Die SEAS-M nimmt damit die Stelle zwischen einem Screeninginstrument und einem diagnostischen Untersuchungsverfahren ein. Für den Kinder- und Jugendbereich repräsentieren das Diagnostische Interview für Autismus – revidiert (ADI-R; [8]) und die Diagnostische Beobachtungsskala für autistische Störungen – 2 (ADOS-2; [9]) den diagnostischen Goldstandard, für den Erwachsenenbereich wird nach internationalen Leitlinien hingegen die klinische Diagnose als entscheidend betrachtet (10). Beide Verfahren benötigen mindestens 90 Minuten und eine entsprechende Schulung zur korrekten Durchführung und Auswertung. Eine Studie mit 79 Teilnehmern legt
* Hier wird auf die in deutscher Sprache vorliegenden Instrumente eingegangen.
Abbildung: Prozedere zur ASS-Diagnostik
nahe, dass sie grundsätzlich auch bei erwachsenen Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung anwendbar sind (11). Das ADI-R ist ein umfangreiches Elterninterview zur frühkindlichen Entwicklung und differenzierte gut zwischen erwachsenen Menschen mit und ohne ASS (Sensitivität 88%, Spezifität 80%), war aber nur in 37 Prozent der Fälle durchführbar. Die spielund interviewbasierte ADOS wurde in direktem Kontakt mit der Testperson durchgeführt und war mit 68 Prozent besser durchführbar, zeigte jedoch eine falsch positive Tendenz, indem zu 100 Prozent ASS identifiziert wurde, jedoch nur 45 Prozent der Personen mit IM ohne zusätzliche ASS korrekt erkannt wurden. Eine Alternative oder Ergänzung zur ADOS stellt die Musikbasierte Skala zur Autismusdiagnostik (MUSAD; [12]) dar. Dieses strukturierte Verfahren wurde speziell für erwachsene Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung entwickelt und nutzt musikalische Interaktion zur Erfassung autistischer Verhaltensmerkmale (z. B. soziale Reziprozität, geteilte Freude und motorische Koordination beim dialogischen Trommeln). Musikalische Vorbildung des Durchführenden ist nicht erforderlich, eine Schulung wird jedoch empfohlen. Durch die nonverbal-interaktive Qualität des Mediums Musik ist die MUSAD auch für Menschen mit eingeschränkter Sprache angemessen, das mit entsprechend hoher Durchführbarkeit von 95 Prozent (13). Zusätzlich kann als pädagogische Ergänzung die Erhebung des Entwicklungs- und Verhaltensprofil für Jugendliche und Erwachsene (AAPEP; [14]) sinnvoll sein, um neben einer psychiatrischen Diagnostik konkrete Anhaltspunkte für eine ASS-spezifische individuelle Förderplanung zu erhalten. Laut internationalen Leitlinien (2, 10) wird ein mehrperspektivisches, teambasiertes Vorgehen vorgeschlagen. So können im klinischen Rahmen in einer multiprofessionellen Fallkonferenz von verschiedenen Berufsgruppen Informationen und durch diagnostische Skalen operationalisierte Beobachtungen zusammengetragen werden. Aus ökonomischen Gründen bietet sich ein 3stufiges Vorgehen mit (a) Screening, (b) umfangreicher Diagnostik und (c) Transfer der Ergebnisse ins komplementäre System im Rahmen einer abschliessenden Helferkonferenz an (Abbildung). Neben der Vermittlung des Befundes sollten hier die Konsequenzen für die Behandlung, die Förderung und den Umgang mit der betroffenen Person erörtert werden. Durch eine multiprofessionelle ASS-Konsensuskonferenz lässt sich die
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Merkpunkte:
● Eine komorbide Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung häufig, bleibt jedoch oft bis ins Erwachsenenalter unerkannt.
● Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung und ASS zeigen oft herausfordernde Verhaltensweisen, die eine ursachenspezifische Behandlung und Förderung nötig machen.
● Die ASS-Diagnostik bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung ist aufgrund hoher Symptomüberlappung herausfordernd, es stehen jedoch spezifische Skalen und Verfahren zur Verfügung.
● Eine umfassende ASS-Diagnostik sollte mehrperspektivisch sein und teambasiert erfolgen.
Qualität der diagnostischen Entscheidungsfindung ver-
bessern, gleichzeitig aber auch die ASS-Kompetenz
eines gesamten Behandlungsteams, um Menschen mit
intellektueller Entwicklungsstörung und zusätzlicher
ASS besser zu verstehen und sie adäquat zu unterstüt-
zen (15).
G
Korrespondenzadresse:
Dr. phil. Thomas Bergmann
Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge
Herzbergstrasse 79
D-10365 Berlin
E-Mail: t.bergmann@keh-berlin.de
Literatur:
1. Matson JL et al.: Intellectual disability and its relationship to autism spectrum disorders. Res Dev Disabil 2009; 30: 1107–1114.
2. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter: Teil 1: Diagnostik: AWMF; 2016 (Stand: 05.01.2019). https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-018.html. Letzter Zugriff: 25.8.20
3. Bölte S et al.: Fragebogen zur sozialen Kommunikation (FSK): German version of the Social Communication Questionnaire (SCQ) by Michael Rutter, Anthony Bailey and Catherine Lord; Manual. Bern: Huber; 2006.
4. Kraijer DW et al.: Skala zur Erfassung von Autismusspektrumsstörungen bei Minderbegabten (Manual). Leiden: PITS; 2003.
5. Derks O et al.: The social communication questionnaire for adults with intellectual disability: SCQ-AID. Autism Res 2017; 10: 1481–1490.
6. Sappok T et al.: Der diagnostische Beobachtungsbogen für AutismusSpektrum-Störung – Revidiert (DiBAS-R): Ein Screening-Instrument für Erwachsene mit Intelligenzminderung und Autismusverdacht; Manual. Bern: Huber; 2015.
7. Mutsaerts CG et al.: Screening for ASD in adults with ID-moving toward a standard using the DiBAS-R and the ACL. J Intellect Disabil Res 2016; 60: 512–522.
8. Bölte S et al.: Diagnostisches Interview für Autismus – revidiert (ADIR): German version of the Autism Diagnostic Interview – revised (ADIR) by Michael Rutter, Ann Le Couteur und Catherine Lord; Manual. Bern, Göttingen: Huber; Hogrefe; 2006.
9. Poustka L et al.: Diagnostische Beobachtungsskala für autistische Störungen – 2: ADOS-2; Manual. Bern: Huber; 2015.
10. National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE). Autism spectrum disorder in under 19s: Recognition, referral and diagnosis; 2011 (Stand: 11.01.2018). Verfügbar unter: https://www.nice.org.uk/guidance/cg128. Letzter Zugriff: 26.8.20
11. Sappok T et al.: Diagnosing autism in a clinical sample of adults with intellectual disabilities: How useful are the ADOS and the ADI-R? Res Dev Disabil 2013; 34: 1642–1655.
12. Bergmann T et al.: Musikbasierte Skala zur Autismus-Diagnostik (MUSAD): Ein diagnostisches Beobachtungsverfahren für erwachsene Menschen mit Intelligenzminderung und Verdacht auf eine AutismusSpektrum-Störung. Bern: Huber; 2020.
13. Bergmann T et al.: Music in diagnostics: using musical interactional settings for diagnosing autism in adults with intellectual developmental disabilities. Nordic Journal of Music Therapy 2015; 25(4): 319–351.
14. Mesibov G et al.: AAPEP: Entwicklungs- und Verhaltensprofil für Jugendliche und Erwachsene. 2., durchgesehene Aufl. Dortmund: Verlag modernes Lernen; 2016.
15. Bergmann T et al.: Perspektivenverschränkung: Multiprofessionelle Autismusdiagnostik bei erwachsenen Menschen mit Intelligenzminderung und Autismusverdacht. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie 2016; 64:257–267.
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