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Verzweiflung und Suizidalität
FORTBILDUNG
Suizide gehören in der Psychiatrie zu den häufigen Todesursachen (1, 2). Diese tragischen Ereignisse haben nicht nur Auswirkungen auf die Angehörigen der Opfer, sondern stellen auch für die Mitarbeitenden eine grosse Belastung dar. Zwei im Beitrag dargestellte Modelle helfen, die Ursache und den Ablauf eines Suizids besser zu verstehen und Suizidale zu erkennen. Zudem können die Modelle Therapeuten darin unterstützen, einen besseren Zugang zu den Patienten zu finden.
Thomas Reisch
von Thomas Reisch
S uizid ist der Super-GAU im Fachgebiet Psychiatrie. Durch keine andere Situation verlieren wir mehr Menschen, durch keine andere Handlung werden mehr Therapeuten traumatisiert. In der Regel leiden 4 bis 8 enge Angehörige über viele Jahre unter den Auswirkungen eines Suizids. Suizid ist ein tabuisiertes Thema. Sowohl der betroffene Patient als auch die Angehörigen und leider oft auch die Profis vermeiden dieses Gesprächsthema. Dabei ist klar, dass das Reden über Suizidalität von den Patienten als hilfreich erlebt wird. Die Angst, man könne «schlafende Hunde» wecken und den Patienten erst auf die Idee zum Suizid bringen, wurde in zahlreichen Studien widerlegt. Für das Gespräch über Suizidalität ist es wichtig, diese zu verstehen. Genau hierzu soll dieser Artikel beitragen.
sogenannten Armeereform XXI wurde 2003 die Armee verkleinert und wurden die Wiederholungskurse verkürzt. Durch diese Massnahmen waren Schusswaffen für Männer zwischen 19 und 43 Jahren deutlich weniger zugänglich. In den Folgejahren sank die Suizidrate in der Schweiz (4). Diese Verringerung war ausschliesslich bedingt durch eine Reduktion von Suiziden mit Armeewaffen (5) und beschränkte sich auf Männer und die entsprechende Altersgruppe. Wechselten die Männer aber nicht einfach auf eine andere Suizidmethode, weil die Waffe nicht mehr verfügbar war? Die Studie von Reisch et al. 2013 (4) erlaubte erstmals, diese Frage zum «Methodenswitch» verlässlich quantitativ zu beantworten: Es zeigte sich, dass 22 Prozent eine andere Methode wählten. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass in 78 Prozent tatsächlich ein Leben allein aufgrund der Reduktion der Verfügbarkeit gerettet werden konnte.
Kann man Suizide überhaupt verhindern? Zwei Studien belegen das: 1. Gerettete Menschen sterben nur zu 5 Prozent
an einem erneuten Suizidversuch Die Effekte des Zurückhaltens vom Suizidsprung von der Golden Gate Bridge wurden bereits 1979 von Seiden (3) untersucht. Er beforschte die Langzeitentwicklung von 515 Menschen, die im letzten Moment vom Sprung von der Golden Gate Bridge zurückgehalten wurden. Seiden konnte zeigen, dass nach 26 Jahren sich gerade einmal 4,8 Prozent das Leben genommen hatten. Ein Suizidversuch ist folglich ein vorübergehender Zustand, überlebt man diesen, hat man grosse Chancen, um zum Leben zurückzufinden – so wie das 95 Prozent der Personen aus Seidens Studie gelang.
2. Die Reduktion der Armeewaffen senkt die Suizidrate
In der Schweiz ist Erschiessen mit der (ehemaligen) Armeewaffe eine der häufigsten Suizidmethoden. In der
Modelle zur Erklärung von Suizidalität Mit einer Reduktion der Verfügbarkeit wird man nicht alle Suizide verhindern können. Häufiger könnten Suizide wahrscheinlich durch geeignete klinische Massnahmen verhütet werden. In einem ersten Schritt gilt es zu verstehen, wie es zu Suizidalität kommt: Was passiert in Menschen, die versuchen, sich das Leben zu nehmen? Hierzu sollen zwei Suizidmodelle betrachtet werden. Eines fokussiert auf die Verhaltensebene, das zweite auf die psychologische Ebene.
Suizidmodell Joiner Joiner (6) hat ein verblüffend einfaches Modell entworfen, das hilft, die Psycho-Logik des Suizids zu verstehen (Kasten 1). Als Erstes geht er davon aus, dass nicht alle Menschen sich suizidieren können. Tatsächlich sehen wir in der Klinik immer wieder Patienten, die hoch depressiv sind, aber glaubhaft jede Suizidalität verneinen. Einige Menschen haben somit die Fähigkeit, sich das Leben zu nehmen, andere nicht. Doch das ist keines-
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wegs ein Fixum, das unverrückbar ist. Wir wissen, dass gewisse Ereignisse, wie zum Beispiel Traumata, die Schwelle zur Suizidhandlung senken können. Zusammenfassend bezeichnet Joiner das als «erworbene Fähigkeit zum Suizid», die eine Grundvoraussetzung für einen Suizid darstellt. Laut entsprechenden Studienergebnissen muss man davon ausgehen, dass etwa 50 Prozent der Bevölkerung sich prinzipiell das Leben nehmen können, mit sehr individuellen Schwellen für die Ausführung der Suizidhandlung.
Kasten 1:
Psychologisches Modell nach Joiner 2005 (6)
Zwei Faktoren entscheidend Für den eigentlichen Suizidversuch sind dann zwei psychologische Faktoren zentral. Der erste wird etwas sperrig mit «verhinderte Zugehörigkeit» oder Einsamkeit betitelt. Menschen sind soziale Wesen, werden sie aus sozialen Kontexten herausgeworfen oder verlieren sie Bezugspersonen, führt das zu grossem Leid, häufig als Mental Pain bezeichnet. Untersucht man post mortem die Gründe für einen Suizid, so findet man, dass interpersonelle Probleme eine zentrale Rolle spielen. Die Inhalte sind zumeist altersspezifisch: Bei Jugendlichen ist es zum Beispiel der Ausschluss aus einer Peer-Gruppe oder der Verlust der ersten grossen Liebe. Das Fremdgehen des Partners wird in vielen Altersbereichen gefunden. Im hohen Alter ist der Verlust des Ehepartners durch Tod von Bedeutung. Aber auch der Arbeitsplatzverlust ist ein Beispiel für eine verhinderte Dazugehörigkeit. Der zweite Faktor ist die erlebte Last für sich und andere. Hierunter subsumiert Joiner sowohl die psychiatrischen Symptome (selbst zu tragende Last) als auch das Gefühl, anderen zur Last zu fallen. Nicht selten hören wir in der Klinik zum Beispiel die Worte: «Es wäre besser für alle, wenn ich tot wäre.» Joiners Modell hilft in verblüffend einfacher Weise, suizidale Menschen zu erkennen und ihr Handeln nachzuvollziehen (Kasten 1).
6-Phasen-Modell nach Reisch (2012, 7) Präsuizidale Phase In sogenannten psychologischen Autopsiestudien wurde wiederholt gezeigt, dass der allergrösste Teil von denjenigen, die sich suizidieren, eine psychiatrische Symptomatik hatten. Wenn man genauer hinsieht, finden sich hierunter im Grunde alle psychiatrischen Störungen. Selbstverständlich sind nicht alle Störungen gleich häufig vertreten. Am häufigsten (relativ gesehen) und damit am gefährlichsten scheinen Depressionen im Rahmen einer bipolaren Störung zu sein. Bei den Persönlichkeitsstörungen werden die narzisstische und die Borderline-Persönlichkeitsstörung am häufigsten gefunden. Aufgrund der grossen Prävalenz ist die Depression im Rahmen einer Major Depression (depressive Episode) in absoluten Zahlen am häufigsten. Doch bei den Suizidenten finden sich nicht selten auch Anpassungsstörungen oder auch subklinische Zustände. Auch diese werden dann in einigen Studien als psychiatrische Problematik klassifiziert. Streng genommen, könnte man aber darüber streiten, ob das Label «psychiatrische Störung» hier wirklich gerechtfertigt ist. Zusammenfassend kann man dennoch sagen, dass die meisten Menschen, die einen Suizidversuch begehen, eine klinische oder zumindest subklinische Problematik aufweisen, bevor die Kaskade der Suizidhandlung be-
Kasten 2:
Phasenmodell nach Reisch (2012, 7):
1. Präsuizidale Phase 2. Mental-Pain-Phase 3. Suizidhandlungsphase 4. Finale Ambivalenzphase 5. Finale Handlungsphase 6. Aufwachphase
ginnt. Das ist somit die Grundvoraussetzung oder Phase 1 im 6-Phasen-Modell (Kasten 2).
Mental-Pain-Phase In dieser geschwächten Situation kommt es dann zu einer Mental-Pain-Situation, wie sie oben im Joiner-Modell schon beschrieben wurde. Das kann external bedingt sein (z. B. Verlust des Partners) oder auch internale Ursachen haben (z. B. die Kognitionen «Diese Niedergeschlagenheit halte ich nicht mehr aus»). In dieser Mental-Pain-Phase ist der Mensch im Hier und Jetzt gefangen. Er sieht nicht mehr, dass es wieder besser kommen könnte. Er kann auch nicht zurückblicken und von den früheren guten Momenten des Lebens zehren. Angehörige werden nicht mehr wahrgenommen (selbst wenn sie in der Realität da sind und gern Hilfe leisten möchten). Hier erkennt man die von Joiner beschriebene verhinderte Dazugehörigkeit und die erlebte Last für sich selbst wieder. In dieser Phase der Verzweiflung braucht es keine psychopathologische Ausbildung, um zu erkennen, dass diese Menschen leiden. Ihr einziges Ziel ist es, den seelischen Schmerz loszuwerden. In zeitlicher Folge manifestiert sich also schrittweise der Gedanke: «Ich nehme mir das Leben, das ist die Lösung des Problems.»
Suizidhandlungsphase Die eigentliche suizidale Handlung wird in die Tat umgesetzt. Da aus der Patientensicht die Lösung für das Problem nun gefunden ist, kommt es zu einer subjektiven Entlastung. In Phase 3 ist der Patient also prototypisch entlastet und kann deshalb von aussen nicht mehr so leicht als suizidal erkannt werden. Nicht selten sagt zum Beispiel die Pflegekraft, die einen Patienten die Station verlassen sah, welcher sich später suizidierte:
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Kasten 3:
Video zum Thema Verzweiflung und Suizid
Das Video veranschaulicht die innere Verzweiflung eines suizidalen Menschen und den «autopilotartigen» Zustand (partielle Dissoziation), in dem die Suizidhandlung ausgeführt wird: Die Betroffene bewegt sich weder besonders schnell, um der Polizei zu entkommen, noch demonstrativ langsam. Es zeigt ferner, wie durch Zivilcourage die Betroffene im letzten Moment gerettet wird. Die Betroffene selbst hat dieses Video auf Youtube gestellt. Sie bereute ihre Tat und war äusserst dankbar für die Rettung (Phase 6: Aufwachen). Kein Hinweis findet sich in diesem Beispiel für die Phase 3 (finale Ambivalenz). Link: Video T. Zahn: https://www.youtube.com/watch?v=PyuKLU8ChFc
Kasten 4:
6-Phasen-Modell des Suizidversuchs und Zitate aus einem Patienteninterview
Quelle: K. Heynes: übersetzter Auszug aus einem Interview mit L. Firestone, der einen Sturz von der Golden Gate Bridge überlebte
1. Präsuizidale Phase: «Ich leide an einer bipolaren Störung.» 2. Mental-Pain-Phase: «Es war unerträglich, ich sah keine Zukunft mehr. Meine An-
gehörigen waren wie weg, obwohl sie mich und ich sie immer gern gehabt habe. Ich hielt es nicht mehr aus, ich hatte das Gefühl, dass ich einfach weg muss, mein Leben beenden muss.» 3. Suizidhandlungsphase: «Ich ging zur Brücke.» 4. Finale Ambivalenzphase: «Ich lief noch eine Zeit lang auf der Brücke auf und ab.» 5. Finale Suizidhandlung: «Plötzlich war es endgültig klar, jetzt mache ich es, hier beende ich mein Leben. Ich nahm Anlauf und gab niemanden mehr die Chance, etwas zu tun.» 6. Aufwachphase: «In dem Moment, als ich im freien Fall war, wurde klar: Mein Gott, was habe ich getan? Ich bin tot, aber ich habe doch eigentlich ein gutes Leben gehabt.»
«Komisch, er wirkte so entspannt, ich hätte nie gedacht, dass er sich das Leben nimmt.» Bei genauer Betrachtung finden sich in dieser Phase nicht selten kleine und leicht zu verpassende Auffälligkeiten. Um die Suizidhandlung durchführen zu können, befindet sich der Patient oft in einem dissoziationsähnlichen Zustand, einer Art «Autopilot». In diesem Stadium führt der Patient problemlos Small Talk, ein richtiges Gespräch über zukunftsgerichtete Inhalte wird aber vermieden oder ist auffallend unverbindlich. Der Blickkontakt und Kontakte zu anderen werden vermieden. Der Patient ist im Vergleich zur nahen Vergangenheit auffällig entspannt. In uns sollten somit die Alarmglocken läuten, wenn ein zuvor hoch suizidaler Patient plötzlich deutlich gebessert scheint und entspannt wirkt (Kasten 3).
Finale Ambivalenzphase Interessant ist, dass wahrscheinlich etwa die Hälfte der Suizidenten vor der endgültigen Handlung noch einmal innehält. So kann beobachtet werden, wie Menschen zum Beispiel auf der Brücke stehen und vor dem Sprung zögern oder am Bahngleis stehen und den ersten Zug durchfahren lassen. In dieser Phase findet sich erneut seelischer Schmerz. Menschen in dieser Phase können relativ leicht erkannt werden. Der Überlebenswille gewinnt noch einmal kurz die Oberhand. Viele werden in
dieser Phase von unbeteiligten Dritten gerettet, häufig von Passanten. Anzunehmen, dass diese Menschen nicht springen wollten, sondern demonstrativ gerettet werden wollten, ist in den allermeisten Fällen eine Fehlannahme, beruhend auf dem Nichtverständnis der Psycho-Logik eines suizidalen Menschen. Auch wenn nur ein Teil der Menschen diese Phase durchlebt, ist sie von zentraler Bedeutung, da hier ein Menschenleben gerettet werden kann. Das erfordert jedoch Zivilcourage: Man muss den Mut haben, einen unbekannten Menschen anzusprechen. Besondere Fähigkeiten braucht es dafür hingegen nicht. Es reicht, ganz natürlich auf Gefährdete zuzugehen und – sich vorsichtig aufdrängend – ein Gespräch zu beginnen. Suizid ist ein Tabu. Oft wird der Suizidale in dieser Situation die Suizidgefahr zunächst leugnen. Zumeist benötigt man Zeit und damit Geduld, um eine minimale Beziehung aufzubauen und so den Suizidalen überzeugen zu können, die gefährliche Situation zu verlassen.
Finale Suizidhandlung Nach der Zeit der Ambivalenz, die ohne Intervention von aussen oft nur Sekunden oder wenige Minuten dauert, läuft die eigentlich geplante Suizidhandlung wieder an. Nun wird die Methode ausgeführt, zum Beispiel werden die Tabletten geschluckt, oder der Sprung wird vollzogen.
Aufwachphase Wir wissen, dass die allermeisten Patienten die Suizidhandlung jedoch schon sehr bald bereuen und sich wieder dem Leben zuwenden. Bei einem Sprung von der Brücke bereuen die meisten ihre Suizidhandlung bereits während des Sprungs. Demzufolge ist es eine Frage der gewählten Methode, ob die Handlung noch umgekehrt, abgebrochen oder deren Folgen verhindert werden können. Bei Sprung, Erschiessen und Erhängen ist das zumeist nicht möglich, bei Schneiden oder Vergiftungen hingegen schon. Suizidenten verständigen nicht selten kurz nach dem Suizidversuch Angehörige oder kommen zum Notfall, weil sie unmittelbar nach der Suizidhandlung «aufwachen». Das Aufwachen wird gelegentlich aber erst nach Tagen oder Wochen beobachtet (Kasten 4).
Möglichkeiten der Suizidprävention Die Behandlung einer zugrunde liegenden Grunderkrankung durch Medikamente und Psychotherapie verhindert den Übergang von Phase 1 (präsuizidale Phase) zur Mental-Pain-Phase (Phase 2). Die äusserst wirksame Einschränkung von Suizidmethoden be- oder verhindert den Übergang von der finalen Ambivalenz (Phase 3) zur finalen Suizidhandlung (Phase 4). Hierzu zählen zum Beispiel die Sicherung von Brücken und Bahnhöfen oder die Beschränkung von Schusswaffen und die Einhaltung von Medienguidelines zur Berichterstattung über Suizide. Kampagnen wie «Reden kann retten» (8) fördern unter anderem die Zivilcourage und verhindern häufig sehr nachhaltig die finale Handlungsphase (Phase 4).
Genderspezifische Unterschiede Das Thema Suizidalität zeigt einige genderspezifische Unterschiede. Eine Studie von Rasmussen et al. (9) fasst
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das gut zusammen. Die Autoren untersuchten in einer psychologischen Autopsiestudie mittels Angehörigenbefragungen und Analyse der Abschiedsbriefe diese Frage. Sie fanden, dass Männer häufiger als Frauen Probleme haben, über Gefühle zu sprechen, sodass als Folge das Tabuthema Suizidalität mit sich selbst ausgemacht wird: Niemand darf es wissen, und Gefühle dürfen nicht gezeigt werden. Im Sinne des Erhalts des
Merkpunkte:
● In Anbetracht, dass Suizidalität ein Tabuthema ist, muss es aktiv von Ärzten und Psychotherapeuten angesprochen werden. Nichtansprechen muss als Kunstfehler gewertet werden.
● Eine suizidale Krise ist ein vorübergehender Zustand, überlebt man diesen, sind die Chancen hoch, in ein gutes Leben zurückzufinden.
● Ein Methodenswitch zeigte sich in der Armeewaffenstudie bei lediglich 22 Prozent.
● Neben der Fähigkeit, sich selbst zu töten, sind nach Joiner zwei Faktoren zentral: der empfundene soziale Ausschluss und die Last für sich selbst und für andere. Daraus entsteht der Mental Pain, der unerträglich ist.
● Der Patient will oft gar nicht sterben. Er will nur den unerträglichen Mental-Pain-Zustand beenden. Hierfür scheint der Tod die einzige Möglichkeit.
● Seien Sie vorsichtig, wenn ein zuvor hoch suizidaler Patient plötzlich deutlich gebessert scheint und entspannt wirkt.
● Passanten verhindern Suizide, indem sie den Mut aufbringen, fremde Menschen anzusprechen, und sich vorsichtig aufdrängen.
● Männern fällt es häufiger schwer, über Probleme und Gefühle zu sprechen, sodass als Folge das Tabuthema Suizidalität mit sich selbst ausgemacht wird.
Selbstbildes wollen die Männer (im Mittel) auch beim
Suizid «Heroes» sein und wählen deshalb Methoden,
die zeigen, dass sie mutig waren. In diesem Sinne spielt
erlittener Schmerz im Suizid eine eher positive Rolle.
Diese Ergebnisse können auch die unterschiedliche Me-
thodenwahl der Geschlechter erklären: Frauen wählen
häufiger softe Methoden, während Männer auf gewalt-
tätige Weisen zurückgreifen. Sie machen ferner
verständlich, warum Männer durch Suizidpräventions-
kampagnen schlechter erreicht werden und seltener
psychiatrische Hilfe aufsuchen.
Insgesamt ist es verständlich, warum ein Suizid als psy-
chologischer Unfall bezeichnet wird. Es ist ein durch
äussere (oder innere) Bedingungen erzeugter Ausnah-
mezustand mit ausgeprägter Verzweiflung und führt
zur Gefährdung oder zur Beendigung des Lebens. Ob
Psychiater, Psychotherapeut, Hausarzt oder Mitbürger,
aktive Hilfe von aussen ist häufig nötig, um diesen Aus-
nahmezustand zu überwinden.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Thomas Reisch
Ärztlicher Direktor/Chefarzt KDA
PZM Psychiatriezentrum Münsingen AG
Hunzigenallee 1
3110 Münsingen
E-Mail: thomas.reisch@pzmag.ch
Literatur:
1. Neuner T, Hübner-Liebermann B, Hausner H et al.: Kleine Zahlen, grosse Ergebnisse: «Suizidhochburg» Weiden? Psychiat Prax 2011; 38: 253–255.
2. Neuner T, Mehlsteibl D, Hübner-Liebermann B et al.: Risikoprofile für den Kliniksuizid schizophrener und depressiver Patienten – eine psychologische Autopsiestudie. Psychiat Prax 2010; 37: 119–126.
3. Seiden RH: Where are they now? A follow-up study of suicide attempters from the Golden Gate Bridge. Suicide and Life? Threatening Behavior 1978; 8(4): 203–216.
4. Reisch T, Steffen T, Habenstein A, Tschacher W: Change in suicide rates in Switzerland before and after firearm restriction resulting from the 2003 «Army XXI» reform. Am J Psychiatry 2013; 170(9): 977–984.
5. Thoeni N, Reisch T, Hemmer A, Bartsch C: Suicide by firearm in Switzerland: who uses the army weapon? Results from the national survey between 2000 and 2010. Swiss Med Wkly 2018;148: w14646.
6. Joiner T: Why people die by suicide. Harvard University Press 2007.
7. Reisch T: Wo kann Suizidprävention ansetzen? Vorschlag eines 6-Phasen-Modells suizidaler Krisen. Psychiat Prax 2012; 39(06): 257–258.
8. Bundesamt für Gesundheit BAG. Reden-kann-retten. Abgerufen 11. März 2020, von https://www.reden-kann-retten.ch/
9. Rasmussen ML, Haavind H, Dieserud G: Young men, masculinities, and suicide. Arch Suicide Res 2018; 22(2): 327–343.
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