Transkript
FORTBILDUNG
Diagnostik und Behandlung von Kopfschmerz in verschiedenen Disziplinen
Kopfschmerz gehört zu den insgesamt häufigsten Schmerzbildern. So gut wie jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens einmal Kopfschmerzen. Einige Kopfschmerzpatienten tragen ihren Kopfschmerz seit Jahren oder sogar seit Jahrzehnten mit grosser Auftretenshäufigkeit mit sich herum. Trotzdem sind Diagnostik und Behandlung von Kopfschmerzen komplex. Im Interview geben Experten aus den Bereichen Psychiatrie, Reproduktionsendokrinologie und HNO Auskunft darüber, wie sie in der Praxis Kopfschmerz diagnostizieren, welche Schwierigkeiten dabei auftreten können und wie wichtig die fächerübergreifende Zusammenarbeit ist.
Prof. Dr. med. Gabriele Susanne Merki-Feld ist Leiterin der Abteilung für Kontrazeption und Adoleszenz in der Klinik für Reproduktions-Endokrinologie am Universitätsspital Zürich. Zudem leitet sie die schweizweit einzige Sprechstunde für hormonabhängige Migräne.
Dr. med. Sven Brockmüller leitet die psychiatrisch-psychologische Schmerztherapie im Zentrum für Schmerzmedizin am Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil.
Dr. med. Christoph Schlegel-Wagner ist Co-Chefarzt der Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenund Gesichtschirurgie am Luzerner Kantonsspital.
Wie klären Sie Kopfschmerzen in Ihrem jeweiligen Fachbereich ab? Woran denken Sie zuerst? Prof. Dr. med. Gabriele Susanne Merki-Feld: Zuerst einmal gilt es, zwischen Kopfschmerz und Migräne zu unterscheiden. In der Gynäkologie sind beispielsweise häufig Hormone die Ursache für eine Migräne. Eine gute Anamnese ist dann für die Ursachenfindung entscheidend. Denn sie gibt Auskunft darüber, welche Hormone eingenommen wurden, ob sich an der Einnahme etwas geändert hat, eine Schwangerschaft vorliegt oder die Pille danach eingenommen wurde. Viele unserer Patientinnen haben Kopfschmerzen und Migräne in Zusammenhang mit der Menstruation. Das kann im natürlichen Zyklus, aber auch unter Anwendung hormonaler Verhütungsmittel oder einer Hormonersatztherapie sein. Deshalb finde ich es sehr wichtig, dass Frauen ein Menstruationstagebuch über drei Monate führen, damit ich sehe, wie viele Migräne- oder Kopfschmerztage die betreffende Frau hat. Zudem sehe ich, wann diese auftreten, ob diese im Zusammenhang mit dem Zyklus stehen und wie stark sie sind. Durch das Kopfschmerztagebuch habe ich auch einen Eindruck davon, wie viele Schmerzmittel eingenommen wurden und was sonstige Migränetrigger sein könnten.
Dr. med. Sven Brockmüller: In Nottwil klären wir Kopfschmerz sowohl von neurologischer als auch psychologisch-psychiatrischer Seite her ab, gegebenenfalls kommen weitere Disziplinen hinzu. Die Überweisung der Patienten erfolgt an uns meist auf schriftlichem Weg von einem Hausarzt oder einem Spital. Wir triagieren diese Patienten dann ins entsprechende Krankheitsbild und senden einen Schmerzfragebogen nach Hause. Dieser beinhaltet sowohl soziale als auch psychische Fragen wie das eigene Stresserleben usw. Bevor der Patient bei uns in der Sprechstunde vorgestellt wird, muss
34 3/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
er diesen Fragebogen ausgefüllt retournieren. Danach entscheiden wir, ob wir den Patienten als Klient für eine Einzelfachdisziplin sehen – Kopfschmerzpatienten sind in der Regel neurologische Patienten –, optimalerweise findet aber eine Teamaufnahme statt. Das bedeutet, dass der Patient an einem Vormittag von drei verschiedenen Fachdisziplinen gesehen wird: der Neurologie, der Physiotherapie und dann der Psychologie oder der Psychiatrie. Im Rahmen der psychiatrischen und psychologischen Abklärung geht es darum, eine Sozialanamnese zu erheben, psychosoziale Belastungsfaktoren zu eruieren, psychiatrische Begleiterkrankungen und Suchterkrankungen zu entdecken und vor allem zu wissen, wie der Patient mit seinem Schmerz umgeht und welche funktionalen Bewältigungsstrategien bereits vorliegen. Ungünstig wäre es beispielsweise, wenn sich der Betroffene bei Schmerzen zurückzieht und passiv ist. Vorteilhaft ist es hingegen, wenn bereits Entspannungsverfahren bekannt sind und auch angewandt werden können. Von der neurologischen Abklärung her arbeiten wir nach ICD-10, Kopfschmerzspezialisten arbeiten zusätzlich mit ICHD-3, der internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen, die deutlich mehr Differenzialdiagnosen zulässt, wobei der Spannungskopfschmerz und die Migräne am häufigsten sind. Unterscheiden müssen wir auch primäre von sekundären Kopfschmerzen.
zur Abklärung von chronischen Kopfschmerzen. In vielen Fällen leuchtet als Zufallsbefund eine Schleimhautschwellung in den Nasennebenhöhlen auf, sodass sich dann im Radiologiebericht die Diagnose einer chronischen Sinusitis findet. Patient und Hausarzt sind erleichtert, da man endlich die Ursache für die chronischen Kopfschmerzen bildlich greifbar machen und diagnostizieren konnte. In den meisten dieser Fälle zeigen aber die HNO-ärztlichen Abklärungen mit Nasenendoskopie, dass die Nasenschleimhäute nicht betroffen sind und es sich nicht um eine rhinogene Ursache für die Kopfschmerzen handelt. Die Bildgebung ist für uns HNOSpezialisten deswegen primär nicht massgeblich, sondern es sind die Symptome und die klinische Untersuchung.
Brockmüller: In der Regel ist es meist nicht so schwierig, eine Diagnose zu stellen. Diese ergibt sich sehr häufig schon aufgrund der ausführlichen Anamnese. Schwierig kann es manchmal sein, wenn die Patienten primär Nackenschmerzen haben, beispielsweise bei Patienten mit einem Schleudertrauma oder degenerativen Erkrankungen der Halswirbelsäule, und gleichzeitig auch noch Kopfschmerzen. Dann ist herauszufinden, ob die Kopfschmerzen als zusätzliches Krankheitsbild zu interpretieren sind oder in der Primärproblematik aufgehen, also im Sinne eines vom Nacken ausstrahlenden Schmerzes.
Dr. med. Christoph Schlegel-Wagner: Wichtig ist, neben der genauen klinischen Untersuchung im Fachbereich inklusive Nasenendoskopie, die Erhebung einer umfassenden Schmerz- und HNO-Anamnese gleich zu Beginn, um Schmerzen oder Ursachen aus dem Bereich HNO von Kopfschmerzen abgrenzen zu können. Beispielsweise gibt es akute Schmerzen, die einem Kopfschmerz ähneln können, wie die akute Rhinosinusitis, die Arteriitis temporalis oder, viel seltener, das Schmerzgeschehen bei einer chronischen Nebenhöhlenentzündung wie einer Sinusitis sphenoidalis als Ursache für den Kopfschmerz.
Merki-Feld: Gynäkologen sind in der Diagnostik nicht ganz so gut geschult wie Neurologen. Wenn Kopfschmerzen ähnlich sind oder einzelne Bezüge aufweisen, die sonst zur Migräne gehören, kann die klare Diagnose schwierig sein. Deshalb sollte bei unklaren Kopfschmerzen ein Neurologe die Abklärung durchführen, obwohl es gut wäre, wenn auch Gynäkologen die einzelnen Kriterien für Kopfschmerz und Migräne kennen würden. Beim geringsten Verdacht auf neu auftretende Migräne unter hormonaler Verhütung sollte man das Hormon sofort absetzen. Eine Migräne unter der Einnahme von kombinierten Pillen führt zu einem deut-
Was macht es in Ihrem Bereich schwierig, den Kopfschmerz von anderen Erkrankungen differenzialdiagnostisch abzugrenzen? Schlegel-Wagner: Bifrontale Stirnkopfschmerzen sind meistens ohne rhinogene Ursache. Schwierig wird es dann, wenn die Schmerzen unilateral auftreten, da das auch bei der Migräne häufig der Fall ist. Zum Teil können bei der Migräne auch Augensymptome auftreten und diese mit Schwindel einhergehen, weshalb eine Verwechselung mit Erkrankungen aus dem HNO-Bereich möglich sind. Weitere Differenzialdiagnosen sind eine Arteriitis temporalis, eine Erythroprosopalgie, auch Clusterkopfschmerz genannt. Die Betroffenen haben insbesondere nachts sehr starke und intensive Schmerzen, teilweise gehen sie auch mit einem geröteten Auge einher. Allerdings wird der Clusterkopfschmerz in den letzten Jahren immer häufiger von Neurologen korrekt diagnostiziert. Dann muss bei der Diagnostik unter anderem an Tumoren oder verborgene Karzinome in den Speicheldrüsen gedacht werden. Nicht in der Bedeutung zu unterschätzen sind auch Zufallsbefunde in den Nasennebenhöhlen bei bildgebenden Verfahren
«Ich habe den Eindruck, wenn man das Problem
der hormonellen Migräne mehr bekannt machen
würde, wäre es für Ärzte eher möglich,
zu diagnostizieren und die Patientinnen einer
»Behandlung beim Spezialisten zuzuführen.
Prof. Dr. med. Gabriele Susanne Merki-Feld
lich erhöhten Hirninfarktrisiko. Wir müssen auch sehr gut zuhören, wenn eine Frau mit bekannter Migräne berichtet, sie habe eine neu verschriebene Pille. Sind die Attacken mehr geworden oder treten neu Aurasymptome auf, soll sich diese Frau sofort melden. Denn dann muss auf eine andere Verhütungsmethode umgestellt werden. Wir sehen in unserer Sprechstunde häufiger Patientinnen mit einer solchen Entwicklung. Durch eine Umstellung der Hormone kann dann viel erreicht werden. Zudem gilt: Je länger die Migräne besteht und je häufiger die Attacken sind, umso komplexer ist das Vorgehen. Wichtig ist es, dass auch
3/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
35
FORTBILDUNG
Gynäkologen eine gute Anamnese bezüglich einer eventuell vorhandenen Migräne erheben. So können Probleme im Zusammenhang mit jeder Art von Hormontherapie verhindert werden. Leider sind wir die einzige spezialisierte Sprechstunde in der Schweiz für hormonell bedingte Kopfschmerzen und Migräne. Ich habe den Eindruck, wenn man das Problem der hormonellen Migräne mehr bekannt machen würde, wäre es für Ärzte eher möglich, zu diagnostizieren und die Patientinnen einer Behandlung beim Spezialisten zuzuführen.
Was sind die häufigsten Pitfalls? Schlegel-Wagner: Schwierig wird es bei bifrontalem Kopfschmerz und beispielsweise gleichzeitig vorliegenden Nasenpolypen. Oft denken die Betroffenen, das sei der Grund, obwohl ein Spannungskopfschmerz die Ursache ist. Das zu erklären und Patienten zu überzeugen, ist schwierig. Das betrifft auch zum Teil Hausärzte, die ein wenig in der Diagnose vorgespurt sind. Oft wird dann vom Patienten auf eine Operation wegen der Nasenpolypen gedrängt. Mitunter bessert sich die Situation nach dem Eingriff, aber meist ist nach wenigen Monaten der Kopfschmerz doch wieder da. Deshalb ist es sehr wichtig, den Spannungskopfschmerz gut abzuklären. Das braucht seine Zeit, ist aber wichtig, weil diese Patienten sonst von Arzt zu Arzt weitergereicht werden.
Brockmüller: Sekundäre Kopfschmerzen gehören beispielsweise dazu. Sie sagen, grob ausgedrückt, dass etwas im Kopf passiert ist. Das heisst, eine andere Erkrankung ist für den Kopfschmerz ursächlich. Das kann in besonders schlimmen Fällen ein Hirntumor sein, eine Hirnblutung, eine Durchblutungsstörung, traumatische Ereignisse oder eine Entzündung wie eine Meningitis oder Enzephalitis. In der Abklärung geht es dann darum, zu erkennen, ob die Kopfschmerzen als Folge einer solchen Grundproblematik oder eben aus dem «Nichts» aufgetreten sind, ohne auslösende primäre Erkrankung. Dann sprechen wir von primären Kopfschmerzerkrankungen wie Migräne, Spannungskopfschmerz und
und die obere Zahnreihe gepresst wird. Die körperliche Untersuchung dient insbesondere dazu, sekundäre Ursachen auszuschliessen. Bei klassischen Spannungskopfschmerz- und Migränepatienten ist die körperliche Untersuchung in der Regel völlig unauffällig, ebenso alle apparativen Untersuchungen. Eingangs hatte ich gesagt, dass die Patienten den Schmerzfragebogen ausfüllen, bei den Kopfschmerzpatienten gehört noch das Kopfschmerztagebuch dazu. Wurde das noch nicht geführt, kann es dem Patienten dabei helfen, selbst zu erkennen, wie häufig die Kopfschmerzen sind und was beispielsweise geholfen hat. Oft sind die Patienten überrascht über die Ergebnisse. Beispielsweise wird von den Patienten die Häufigkeit der Einnahme von Medikamenten unterschätzt. Eine weitere Pitfall ist dann auch der Medikamentenübergebrauchskopfschmerz. Wird an mehr als 15 Tagen im Monat Ibuprofen, Paracetamol usw. eingenommen, entwickelt sich neben dem ursprünglichen Kopfschmerz ein Kopfschmerz aufgrund des Übergebrauchs von Schmerzmedikamenten, der klassischerweise fast jeden Tag da ist. Bei der Migräne kann es bereits nach 10 Tagen pro Monat, an denen Triptane eingenommen werden, zu einem Medikamentenübergebrauchskopfschmerz kommen. Das sehen wir leider immer wieder.
Merki-Feld: Dazu zählen für mich zwei Punkte: keine gute und exakte Anamnese zu erheben und die Migräne zu übersehen. Zudem sind nicht alle Gynäkologen geschult und ausgebildet für die Therapie der menstruellen Migräne im Zyklus und unter Hormontherapie. Viele Patientinnen, die ich sehe, haben eine jahrelange Vorgeschichte, bevor sie uns zugewiesen werden. Leider ist es noch immer so, dass die hormonell bedingte Form der Migräne zu wenig an Kongressen besprochen wird. In den Richtlinien geben wir Empfehlungen, trotzdem wissen Gynäkologen eher noch zu wenig über diese Thematik. Die Neurologen sind besser geschult, nehmen aber auch nicht immer den Zusammenhang mit einer Hormontherapie wahr.
«In unserer westlichen Welt gehen viele
Patienten davon aus, dass ein Medikament oder eine
»Spritze die ganze Behandlung sind.
Dr. med. Sven Brockmüller
Clusterkopfschmerz, die in der Regel einen chronischen Verlauf haben. Die Diagnose ergibt sich gerade hier im Prinzip zu 90 Prozent aus der Anamnese und einem unauffälligen körperlichen-neurologischen Befund. Apparative Untersuchungen werden nur dann notwendig, wenn Unsicherheiten bezüglich der Diagnose bestehen oder der Patient zum ersten Fall abgeklärt wird. In der Regel ist das eine Magnetresonanztomografie, seltener ein Elektroenzephalogramm, gegebenenfalls kommen noch Laboruntersuchungen hinzu. Wir untersuchen das Kiefergelenk, die Zunge, die Nackenmuskulatur. Manchmal sehen wir eine sogenannte Girlandenzunge bei den Patienten. Diese entsteht, wenn die Zunge vor allem nachts mit hohem Druck gegen den Gaumen
Wie vermitteln Sie dem Patienten die Diagnose? Brockmüller: Die meisten Patienten sind froh, wenn sie überhaupt einmal eine (Kopfschmerz-)Diagnose bekommen und wissen, woran sie sind und kein Tumor usw. dahintersteckt. Schwierig ist es dann, zu vermitteln, was getan werden muss oder kann. In unserer westlichen Welt gehen viele Patienten davon aus, dass ein Medikament oder eine Spritze die ganze Behandlung sind. Dann zu vermitteln, dass sie selbst etwas tun müssen, zum Beispiel ihren Lifestyle ändern oder Entspannungstechniken lernen müssen, das ist eher schwierig.
Schlegel-Wagner: Viele Patienten hatten bereits bildgebende Verfahren zur Abgrenzung. In diesen wurden dann zugeschwollene Nasennebenhöhlen gesehen, die meist nicht die Ursache vom Kopfschmerz sind. Hilfreich kann es dann sein, wenn der Patient bei der Nasenendoskopie zuschaut und sieht, dass die Nase in Ordnung ist und tatsächlich ein chronischer Kopfschmerz vorliegt. Es lohnt sich auf jeden Fall, sich genügend Zeit für ein Beratungsgespräch zu nehmen.
36 3/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Merki-Feld: In meiner Sprechstunde geht es darum, ob ich hormonell etwas gegen die Migräne tun kann. Manche Frauen sehen beispielsweise nicht den Sinn darin, länger als 4 Wochen ein Kopfschmerztagebuch zu führen, aber die Fluktuationen sind wirklich gross, und man kann aus dem Tagebuch sehr gut ersehen, ob und welche Trigger es gibt. Man sieht, wie die Patientinnen auf die Schmerzmittel ansprechen und wann die Migräne im Tagesverlauf startet: typischerweise sehr früh. Zudem sieht man den Zusammenhang mit der monatlichen Blutung. Ich sehe viele Frauen mit chronischer Migräne, deren Migräne sich bessert, wenn sie mit einem Gelbkörperhormon behandelt werden, das den Eisprung hemmt und kontinuierlich eingenommen wird. Das ist bei Desogestrel beispielsweise der Fall. Ein wichtiger Vorteil der Gelbkörperhormone ist auch, dass sie das Thrombose- und Hirninfarktrisiko nicht erhöhen.
Wäre es hilfreich, wenn die Zusammenarbeit inter- oder multidisziplinär wäre? Schlegel-Wagner: Auf jeden Fall, die multidisziplinäre Abklärung ist bei komplexen, langjährigen Beschwerden und Patienten, die von Spezialist zu Spezialist weitergereicht wurden, sehr wichtig. Bei Kopfschmerzen haben die Betroffenen oft Angst, dass mehr dahinterstecken könnte, und jede weitere Überweisung und jedes weitere MRI verstärkt diese Angst. Ist direkt eine multidisziplinäre Sprechstunde für ausgewählte Patienten vorhanden, schauen sich verschiedene Spezialisten den Patienten gleichzeitig an. Dann ist es einfacher, die Diagnose zu finden und diese zu kommunizieren.
Brockmüller: Wir sind ein Zentrum, das sich auf die Fahne geschrieben hat, multimodal interdisziplinär zu arbeiten. Die einzelnen Fachrichtungen und Fachdisziplinen sind eng miteinander verknüpft. Einige Kopfschmerzpatienten tragen ihren Kopfschmerz seit Jahren oder sogar seit Jahrzehnten mit grosser Auftretenshäufigkeit – zum Teil täglich – mit sich herum. Das oberste Ziel ist dann eigentlich nicht mehr die Schmerzfreiheit,
die wir bei solchen chronischen Kopfschmerzen häufig nicht mehr erreichen. Dann brauchen wir einen multimodalen Ansatz im Sinne des biopsychosozialen Schmerzmodells. Bei den psychischen Faktoren geht es neben den oben genannten Faktoren unter anderem um Komorbiditäten wie Depressivität, Angsterkrankungen und Schlafstörungen. Schmerzpatienten haben zu 60 bis 80 Prozent Schlafstörungen.
«Auf jeden Fall, die multidisziplinäre Abklärung ist
bei komplexen, langjährigen Beschwerden und Patienten, die von Spezialist zu Spezialist
»weitergereicht wurden, sehr wichtig.
Dr. med. Christoph Schlegel-Wagner
Diese Faktoren beeinflussen sehr stark den Verlauf und die Prognose von chronischem Kopfschmerz. Deshalb ist diese Frage nur mit einem klaren Ja zu beantworten. Und es ist das, was wir hier täglich tun.
Merki-Feld: Im akademischen Bereich ist die Zusam-
menarbeit bereits gut. Wir tauschen uns im Vorstand der
Kopfschmerzgesellschaft aus, um all die verschiedenen
Formen der Kopfschmerzen besprechen zu können.
Patientinnen mit Migräne sehen aber häufig viele Ärzte,
bis sie zu einem Spezialisten gelangen. Manche haben
eine lange Odyssee hinter sich. Ich denke, die hormo-
nell bedingte Migräne müsste noch mehr in das Be-
wusstsein von Hausärzten und auch Gynäkologen
treten.
G
Das Interview führte Annegret Czernotta. Wir danken den Experten für das Interview.
Für weitere Informationen und Fragen wenden Sie sich bitte an: info@rosenfluh.ch
3/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
37