Transkript
FORTBILDUNG
Das Allostasemodell und die Hypnosetherapie bei der Migräneerkrankung
Die medizinische Hypnose und Anleitung zur Selbsthypnose ist eine zumindest teilweise evidenzbasierte Technik, die in der klinischen Praxis zur Behandlung von Migräne und anderen Kopfschmerzformen eingesetzt werden kann. In diesem Artikel wird der mögliche Nutzen der medizinischen Hypnose bei der Migräneerkrankung anhand des Modells der Allostase erläutert.
Sivan Schipper Peter Sandor
von Sivan Schipper und Peter Sandor*
D er Pathomechanismus der Migräne ist komplex und multifaktoriell, wobei davon ausgegangen wird, dass multiple neuronale Systeme abnormal funktionieren. Grundsätzlich bestehen eine erhöhte Sensitivität für homöostatische Fluktuationen, eine verminderte Adaptationsfähigkeit und das rezidivierende Kopfschmerzsyndrom, möglicherweise basierend auf einer generalisierten neuronalen Übererregbarkeit (1). Während eine gelegentliche, gut kontrollierbare Migräneattacke für die meisten Menschen ohne Krankheitswert ist, können heftige oder sehr häufige Anfälle die Lebensqualität auf invalidisierende Art und Weise beeinträchtigen.
Das Allostasemodell Das Allostasemodell (2) stellt die Migräne als Erkrankung der gestörten Stressadaptation dar. Nach diesem Modell reagiert ein Organismus auf sich ändernde Umweltbedingungen, sodass Stabilität, die sogenannte Allostase, erreicht wird. Diese Adaptation angesichts potenziell stressvoller Ereignisse beinhaltet eine Aktivierung neuronaler, neuroendokriner und neuro-endokrino-immunologischer Mechanismen (3), wobei hier insbesondere das autonome Nervensystem sowie eine Modifizierung von Verhaltensmustern von Bedeutung sind. Wenn Stressoren häufig und/oder ausgeprägt sind und/oder wenn die Adaptationsfähigkeit reduziert ist (wie es z. B. bei der Migräneerkrankung der Fall ist), kann es zu einer Zunahme der «allostatischen Ladung» kommen (2). Diese allostatische Ladung wiederum kann neuronale Netzwerke funktionell und strukturell verändern: Sie kann sich negativ auf neuronale Prozesse, das Verhalten und physiologische Reaktionen auswirken und in einen Circulus vitiosus münden.
Allostasemodell und Schulmedizin Die modellhafte Beschreibung kann zur publizierten pathophysiologischen Evidenz in Beziehung gesetzt wer-
* RehaClinic Group, Schweiz
den. Diese belegt, dass Migränepatienten eine erhöhte kortikale Erregbarkeit und eine Störung in der Reizadaptation aufweisen, was in einer metabolischen Mangelsituation resultieren kann. Durch mehrere Mechanismen kann eine Migräneattacke unter diesen pathophysiologischen Grundvoraussetzungen getriggert werden (4, 5). In der Terminologie des Allostasemodells sind Migränepatienten aufgrund erhöhter Reizantworten Stress ausgesetzt, haben eine verminderte Gegenregulationsfähigkeit und sind aufgrund ihrer verminderten Kapazität, repetitive Reize zu filtern, kontinuierlich Stressoren ausgesetzt, was wiederum dysfunktionale neuroplastische Reaktionen, wie zum Beispiel die zentrale Sensitisierung und/oder die Schmerzchronifizierung, zur Folge haben könnte (2).
Die medizinische Hypnose Die Definition der medizinischen Hypnose ist komplex und soll nur am Rande Gegenstand dieser Abhandlung sein. Grundlegend handelt es sich dabei um ein Verfahren, bei dem der Patient in eine sogenannte Trance geführt wird und vom medizinischen Hypnotiseur dazu angeleitet wird, auf Suggestionen zur Veränderung des subjektiven Erlebens und der Wahrnehmung, des Empfindens, des Denkens oder des Verhaltens zu reagieren (6). Die Trance gilt als wesentliche Voraussetzung der effektiven therapeutischen Intervention und ist eine Sammelbezeichnung für veränderte Bewusstseinszustände mit einem intensiven mentalen Erleben, wobei sie durch eine hoch fokussierte Konzentration auf einen Vorgang bei gleichzeitiger tiefer Entspannung bei Dämpfung des logischreflektierenden Verstandesanteils gekennzeichnet ist. Hypnose kann signifikante und sinnvolle Veränderungen des Denkens, der Emotionen, des Verhaltens und der Wahrnehmung bewirken und neuronale Netzwerke nachhaltig verändern. Die medizinische Hypnose kann gemäss der aktuellen Evidenzlage als effektive Behandlungsform gelten, die komplementär zu schulmedizinischen Verfahren eingesetzt werden kann und zunehmend Eingang auch in die universitäre Patientenversorgung findet, insbesondere in der
40 3/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Schmerzmedizin, im perioperativen sowie im onkologischen Kontext.
Medizinische Hypnose bei Migräne Die Wirksamkeit der Hypnose bei der Migräne von Erwachsenen und Kindern sowie bei anderen Erkrankungen des psychosomatischen und somatopsychischen Formenkreises wie z. B. bei Spannungskopfschmerzen, Tumorschmerzen und Colon irritabile ist gut belegt (7–10). Anhand des Allostasemodells der Migränekrankheit lässt sich die Wirksamkeit der Hypnosetherapie propädeutisch veranschaulichen: Die Hypnosetherapie kann unmittelbaren Einfluss auf die allostatische Ladung nehmen und dazu beitragen, Allostase herbeizuführen. Bildhaft gesprochen, könnte eine Migräneattacke vom Migräniker Rückzug und Reizabschirmung, Introspektion und Selbstzuwendung einfordern. Hierbei kann die hypnotische Trance dem Organismus die Gelegenheit vermitteln, die sonst als Schmerz vorgetragene Botschaft im Zustand tiefer neuronaler Entspannung konstruktiv zu formulieren und so deutlich zu machen, was notwendig ist, um zu gesunden. Je nach Situation können die Therapieziele der Migränepatienten, also Massnahmen, die eine allostatische Ladung verringern, stark variieren. Diese sind vor Beginn einer Hypnosetherapie zu evaluieren und im Rahmen der therapeutischen Beziehung festzulegen. Im Regelfall findet eine Reihe angeleiteter Hypnosesitzungen statt, wobei dem Erlernen von Selbsthypnose eine zentrale Bedeutung zukommt, mithilfe derer Patienten befähigt werden, die Methode unabhängig anzuwenden und längerfristig eigene therapeutische Ziele zu verfolgen. Festgelegte Ziele können sein: das Erlernen von Tiefenentspannung, eine Verringerung der Schmerzintensität in der Attacke sowie des assoziierten Unbehagens, das mit dem Schmerz einhergeht, eine «Umwandlung» schmerzhafter Sensationen in angenehmere Empfindungen und sogar die sogenannte hypnotische Anästhesie. Im Folgenden seien Beispiele von Prozessen genannt, die durch die Hypnosetrance suggeriert und intensiviert werden können, wobei hier der Reihenfolge keine Gewichtung beigemessen wird: G Schmerzreduktion, z. B. durch die Vermittlung heil-
samer Bilder einer wohltuenden Linderung von Schmerzen. G Metaphorische Beschreibung und dadurch «Greifbarmachung» des Schmerzes im Trancezustand, was den Schmerz innerhalb der Trance verform- und veränderbar macht. G Schmerzdissoziation durch Loslösung des Schmerzempfindens vom eigenen Ich, sodass der Schmerz als distanziert und weniger zur einzigen Realität gehörend wahrgenommen werden kann. G Reizabschirmung durch mentales Training, um das eigene Gehirn vor Überreizung zu schützen, z. B. durch systematische Lenkung der Aufmerksamkeit. G Selbst wirksam induzierte Entspannung – im Rahmen der hypnotischen Trance oft als Tiefenentspannung – kann neuronale Hyperaktivität reduzieren. G Verringerung der durchschnittlichen Sympathikusaktivität im Rahmen regelmässiger Selbsthypose. Eine hohe Sympathikusaktivität im Sinne einer chronischen Übererregung kann mit chronischen Schmerzen assoziiert sein.
G (Re-)Aktivierung körpereigener Plazebomechanismen und Stärkung der eigenen Ressourcen unter Verwendung von Metaphern und Geschichten.
G Bearbeitung und idealerweise Lösen emotioneller Blockaden und innerpsychischer Konflikte, die Anfälle als Stressoren triggern und zu anhaltend ausgeprägter Beeinträchtigung beitragen können. Emotionen, die zu Blockaden führen, können hierbei z. B. durch alternative Emotionen, die zur Lösung beitragen können, ersetzt werden.
G Reduktion negativer Emotionen wie z. B. Wut, Ärger, Angst oder Scham, die via sympathische Erregung Schmerzzustände verstärken oder gar auslösen können.
G Exploration existenzieller Defizite und Wünsche mit dem Ziel ihrer Bearbeitung und Einordnung. G Korrespondenzadresse: Dr. med. Sivan Schipper Stv. Leitender Arzt Facharzt Innere Medizin FMH Leiter Palliative Care Schmerzspezialist SPS Medizinische Klinik Spital Uster Brunnenstrasse 42 8610 Uster E-Mail: Sivan.Schipper@spitaluster.ch
Literatur: 1. Burstein R et al.: Migraine: Multiple Processes, Complex Pathophy-
siology. Journal of Neuroscience 2015; 35(17): 6619–6629. 2. Borsook D et al.: Understanding Migraine through the lens of Mal-
adaptive Stress Responses: A Model Disease of Allostatic Load. Neuron 2012, 26; 73(2): 219–234. 3. McEwen BS, Stellar E: Stress and the individual. Mechanisms leading to disease. Arch Intern Med 1993 Sep 27; 153(18): 2093–2101. 4. de Tommaso M et al.: Altered processing of sensory stimuli in patients with migraine. Nat Rev Neurol 2014 Mar; 10(3): 144–155. 5. Gross EC, Lisicki M, Fischer D, Sándor PS, Schoenen J: The metabolic face of migraine – from pathophysiology to treatment. Nat Rev Neurol 2019 Nov; 15(11): 627–643. 6. Jensen M: Hypnose bei chronischem Schmerz – Ein Behandlungsmanual. Carl Auer Verlag GmbH, 2012. 7. Tastan K et al.: A Comparison of the Efficacy of Acupuncture and Hypnotherapy in Patients With Migraine. Int J Clin Exp Hypn 2018 Oct–Dec; 66(4): 371–385. 8. Ardore M et al.: P014. Migraine and Hypnosis. J Headache and Pain 2015 Dec; 16(Suppl 1): A86. 9. Flynn N: Systematic Review of the Effectiveness of Hypnosis for the Management of Headache. Int J of Clinical and Experimental Hypnosis 2018; 66: 4, 343–352. 10. Hammond D: Review of the Efficacy of Clinical Hypnosis with Headaches and Migraines. Int J of Clinical and Experimental Hypnosis 2007; 55(2): 207–219.
Merkpunkte:
● Die medizinische Hypnose und Anleitung zur Selbsthypnose ist eine zumindest teilweise evidenzbasierte Technik, die in der klinischen Praxis zur Behandlung von Migräne und anderen Kopfschmerzformen eingesetzt werden kann.
● Metaphorisch formulierte Modelle wie das Allostasemodell können im therapeutischen Alltag als Übersetzungshilfe und als Anwendungswerkzeug dienen.
● In Ergänzung zur Pharmakotherapie und zu multimodalen Ansätzen kann die medizinische Hypnose dazu beitragen, dass auch in chronischen Patientensituationen mittels selbst wirksamer Ansätze eine Reduktion der krankheitsbedingten Beeinträchtigung erreicht werden kann.
3/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
41