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FORTBILDUNG
Früherkennung und -intervention von Psychosen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen
Psychosen zählen zu den psychischen Erkrankungen mit besonderer Gefährdung der psychosozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Chronische Psychosen, wie z. B. die Schizophrenien, liegen trotz ihres seltenen Auftretens bereits bei 10- bis 14-jährigen Jungen an neunter Stelle der Ursachen für eine Behinderung. Das unterstreicht die Notwendigkeit einer frühzeitigen Erkennung und Behandlung von Psychosen auch und vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Im Beitrag werden die Früherkennung, die Prävention und die therapeutischen Möglichkeiten von Psychosen dargestellt.
Chantal Michel Martina Kasteler Rahel Flückiger
von Chantal Michel1, Martina Kasteler1 und Rahel Flückiger1
Früherkennung und Prävention von Psychosen
P sychosen stellen nicht zuletzt aufgrund der steigenden Prävalenzzahlen ein zunehmendes Gesundheitsproblem in Europa dar. So waren 2005 lediglich 3,7 Millionen Erwachsene betroffen, 2011 hingegen schon 5 Millionen (1, 2). Die Lebenszeitprävalenz von Psychosen liegt bei maximal 3 bis 4 Prozent, die Lebenszeitprävalenz schizophrener Psychosen beträgt rund 1 Prozent (3). Psychosen treten mit ihrem Vollbild meistens erstmals im frühen Erwachsenenalter auf, etwa 10 bis 33 Prozent sind jedoch sogenannte Earlyonset-Psychosen (EOP) mit Beginn vor dem 18. Lebensjahr. Nur etwa 1 Prozent der Gesamtprävalenz von Psychosen stellen sogenannte Very-early-onset-Psychosen dar. Sie beginnen vor dem 13. Lebensjahr (1, 4). Insbesondere schizophrene Psychosen weisen einen oft ungünstigen Verlauf mit langfristigen kognitiven und funktionellen Einbussen auf, auch bei Remission der Positivsymptomatik (Wahn, Halluzinationen, formale Denkstörungen) (5). Ein ungünstiger Verlauf wurde dabei wiederholt mit der Dauer der unbehandelten Psychose (DUP) bzw. Erkrankung (DUI) assoziiert (6, 7). DUI und DUP sind bei EOP meist deutlich verlängert (8–10) und tragen wahrscheinlich als Epiphänome massgeblich zu dem vielfach berichteten negativeren Verlauf von EOP im Vergleich zu Psychosen mit Beginn im Erwachsenenalter bei (8, 9). Diese Erkenntnis sowie die Tatsache, dass Schizophrenien trotz ihres seltenen Auftretens bereits bei 10- bis 14-jährigen Jungen an neunter Stelle der Ursachen für eine Behinderung liegen (11), unterstreichen die Notwendigkeit einer frühzeitigen Erkennung und Behandlung von Psychosen auch und vor allem bei Kindern und Jugendlichen (12, 13).
1 Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universität Bern, Bern, Schweiz
Präventionsmöglichkeiten und -arten Eine Früherkennung von Psychosen erfolgt heute zumeist mit einem indizierten Präventionsansatz, der sich anders als universelle oder selektive Ansätze nicht an beschwerdefreie Personen aus der Allgemeinbevölkerung ohne oder mit bestimmten Risikofaktoren (z. B. ein Angehöriger mit Psychose) wendet, sondern an Personen bzw. Patienten, die bereits erste Anzeichen der sich entwickelnden Störung aufweisen und für diese Beschwerden Hilfe suchen (14, 15). Dieser Präventionsansatz scheint für psychotische Störungen nicht nur wegen des meist schleichenden Beginns mit einer meist mehrjährigen Prodromalphase (16) ein vielversprechender Ansatz zu sein, sondern empfiehlt sich auch wegen der guten Abgrenzbarkeit der einzelnen Erkrankungsphasen, in denen erst das Auftreten psychotischer Positivsymptome den Übergang zur manifesten Erkrankung kennzeichnet (Abbildung).
Selektiver Personenkreis mit Risiken Zur Früherkennung eines solchen klinisch erhöhten Psychoserisikos (clinical high risk, CHR) bedient man sich derzeit hauptsächlich zweier alternativer Kriterienansätze (17, 18): G der UHR-Kriterien (UHR = ultra high risk) (19) und G der Basissymptomkriterien (20).
Beide wurden vorwiegend an hilfesuchenden erwachsenen Patientenstichproben entwickelt und validiert (18). Das Vorhandensein von Psychoserisikokriterien in der Allgemeinbevölkerung ist mit 2,4 Prozent relativ selten (21). Eine Metaanalyse der Übergangsraten der Einzelkriterien im Rahmen des Guidance-Projekts der Europäischen Psychiatrischen Vereinigung (EPA) hatte dabei für die UHR-Kriterien gemäss attenuierten psychotischen Symptomen und gemäss kurzen intermittierenden psychotischen Symptomen sowie für das Basissymptomkriterium «cognitive disturbances» ein signifikant erhöhtes Psychoserisiko und eine ausreichende Evidenzbasis in klinischen Stichproben ergeben und diese für die Definition eines CHR-Syndroms empfohlen (18).
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UHR-Kriterien Die UHR-Kriterien wurden ursprünglich für die Früherkennung einer Psychose in dem Jahr unmittelbar vor dem Übergang in die floride Phase definiert. Sie umfassen im Allgemeinen, trotz zum Teil unterschiedlicher Operationalisierungen, drei Kriterien (18): 1. Attenuierte Positivsymptome (APS), die neben hal-
luzinatorischen und wahnhaft anmutenden Phänomenen auch leichtere Störungen des formalen Gedankengangs, die noch auf Strukturierungshilfen ansprechen, umfassen, zudem positive Schizotypiemerkmale (Beziehungsideen, Argwohn oder paranoide Vorstellungen, seltsame Überzeugungen oder magische Denkinhalte, ungewöhnliche Wahrnehmungserfahrungen einschliesslich körperbezogener Illusionen sowie seltsame Denk- und Sprechweisen). APS sind in Studien das bei Weitem am häufigsten, von 80 Prozent oder mehr Patienten gezeigte UHRKriterium (17, 18). 2. Kurze spontan remittierende, intermittierende Positivsymptome (BIPS) ohne Einsichtsfähigkeit in wahnhafte Bezüge und ohne innere Distanzierung (aus der Irritation eines «Ich fühle mich, als ob ich verfolgt werde» ist die Evidenz des Verfolgtwerdens geworden – «Als-ob-Verlust»), die in ihrer Dauer und Häufigkeit noch nicht die diagnostischen Kriterien für eine spezifische psychotische Störung erfüllen – und in der ICD-10 daher lediglich als F28 «sonstige nicht organische psychotische Störung» oder F29 «nicht näher bezeichnete nicht organische Psychose» kodiert werden könnten. 3. Die Kombination eines genetischen Risikos (meist definiert als Vorliegen eines erstgradigen Angehörigen mit Psychose oder Vorliegen einer schizotypen Persönlichkeitsstörung) und signifikanter Funktionseinbussen (GRFD) sowie weiterer psychoseunspezifischer psychischer Beschwerden, z. B. depressive, Zwangs- oder Angstsymptomatik.
Zwei spezialisierte Erhebungsinstrumente für die UHRKriterien werden bislang am häufigsten verwendet: das australische «Comprehensive Assessment of At-Risk Mental States» (CAARMS) (22) und das nordamerikanische «Structured Interview for Psychosis-Risk Syndromes» (SIPS) (23), dessen für die UHR-Kriterien relevante Abschnitte auch ins Deutsche übersetzt wurden (24).
Basissymptomkriterien Aufgrund von Ergebnissen aus Langzeitstudien mit schizophren Erkrankten entwickelte Gerd Huber in den 1950er-Jahren das Basissymptomkonzept (25). Von den Betroffenen wurden retrospektiv Veränderungen berichtet, die schon Jahre oder Jahrzehnte vor der ersten psychotischen Episode auftraten. Das sind feine, subklinische, selbst wahrgenommene Störungen des Antriebs, der Stresstoleranz, des Affekts, der Denk- und Sprachprozesse, der Wahrnehmung und der Motorik, die bereits vor sowie während oder auch nach einer psychotischen Episode auftreten können (20, 26, 27). Huber fasste das als ersten bewusst erlebbaren Ausdruck der zugrunde liegenden somatischen Störung auf. Die subjektiven Beschwerden wurden von ihm als «Basis»-Symptome beschrieben (28). Bereits in den 1980er-Jahren wurden die Basissymptome mit der Per-
Prämorbide Phase
Potenzielle Risikofaktoren und frühe
Auffälligkeiten
Risiko- bzw. Prodromalphase «clinical high risk» für Psychosen
Frühe Psychose
Basissymptomkriterien (COPER und COGDIS)
GRFD-Kriterium des UHR-Ansatzes
APS-Kriterium des UHRAnsatzes
BIPS-Kriterium des UHRAnsatzes
Positivsymptome
Unspezifische Symptome/ schizotypische Traits
Attenuierte Positivsymptome
(APS)
Universelle Prävention
(in der Allgemeinbevölkerung)
Basissymptome
Indizierte Prävention
(bei Personen bzw. Patienten mit Risikokriterien)
Behandlung
Selektive Prävention
(bei Personen mit generell erhöhtem Risiko,
z.B. genetischer Belastung, Schizotypie)
Abbildung: Phasenmodell der frühen Stadien von Psychosen (modifiziert nach Schultze-Lutter et al. 2017)
spektive ihrer Nutzbarkeit für eine Früherkennung erstmals operationalisiert (29). Die prospektive Überprüfung der Basissymptome als möglichst spezifische Prädiktoren einer psychotischen Erstmanifestation erfolgte erstmals in der CologneEarly-Recognition-Studie (30, 31). Nach Prüfung der diagnostischen Güte der einzelnen Basissymptome ergaben sich zwei zum Teil überlappende Kriterienansätze mit unterschiedlichen Sensitivitäts-SpezifitätsRelationen: 1. das Risikokriterium kognitiv-perzeptive Basissym-
ptome (engl.: cognitive-perceptive basic symptoms, COPER) und 2. das Hochrisikokriterium kognitive Störungen (cognitive disturbances, COGDIS) (30).
Basissymptome lassen sich gut von APS oder manifesten Positivsymptomen differenzieren, da sie nicht wie eigenartige Denk- und Sprechweisen oder formale Denkstörungen von aussen beobachtbar sein müssen. Zudem werden Basissymptome vom Betroffenen selbst als Störung eigener Erlebnisweisen bzw. Funktionen erlebt und nicht als in der Aussenwelt stattfindend wahrgenommen, wie das bei ungewöhnlichen Wahrnehmungserlebnissen oder Halluzinationen der Fall ist. Basissymptome werden mit dem «Schizophrenia Proneness Instrument, Adult version» (SPI-A) (32) erfasst. Da entwicklungsbezogene Besonderheiten bei der Erhebung berücksichtigt werden sollten, wurde eine Kinder- und Jugendversion, das «Schizophrenia Proneness Instrument, Child and Youth version» (SPI-CY) (33), entwickelt.
EPA-Empfehlungen zur Früherkennung Klinische Empfehlungen der EPA-Guidance für eine Früherkennung für eine Psychose sind in Kasten 1 dargestellt (18) (übersetzt ins Deutsche von F. SchultzeLutter [12], online abrufbar unter QR-Code am Ende des Beitrags).
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Entwicklungsweg einer Psychose Der Entwicklungsweg der (schizophrenen) Psychose und die entsprechenden Interventionen zum Schutz der Patienten sind der Abbildung zu entnehmen. In der prämorbiden Phase finden sich potenzielle Risikofaktoren (z. B. Cannabiskonsum, traumatische Erlebnisse) und frühe Auffälligkeiten, die als unspezifische Konzentrationsstörungen oder Adynamie, ebenso wie schizotypische Besonderheiten bis in die akute Psychose hinein andauern können. Universelle Präventionsmassnahmen für gesunde Menschen (z. B. Stressprävention) und selektive präventive Interventionen bei Personen mit erhöhtem Psychoserisiko (z. B. Kinder von schizophrenen Eltern) kommen in dieser Phase bei Bedarf zur Anwendung. Die Prodromalphase wird auch als Clinical-High-RiskPhase für die Entwicklung einer Psychose bezeichnet. In dieser Phase können als klinische Phänomene die kognitiven Symptomkonstellationen COPER und COGDIS erfasst werden. Auch die symptomatischen UHR-Kriterien (APS und BIPS) markieren in dieser Phase den Übergang in eine floride Psychose. Basissymptomkriterien (COPER und COGDIS) gelten dabei als eher psychoseferne Risikozeichen, die UHR-Kriterien als tendenziell psychosenahe klinische Symptome. Signifikante Funktionseinbussen kennzeichnen die Prodromalphase insbesondere im sozialen Bereich und in den schulischen/beruflichen Leistungen. Entsprechende Patienten, die Hilfe suchen, können als Ausdruck einer indizierten Prävention behandelt werden. Die frühe Psychose ist oft durch Positivsymptome (z. B. Halluzinationen oder Wahnsyndrome) gekennzeichnet und bedarf der therapeutischen Intervention.
Übergangsraten in eine Psychose Unabhängig vom verwendeten Erhebungsinstrument und entgegen der ursprünglichen Erwartung eines besonderen Risikos für den Übergang in eine Psychose binnen eines Jahres zeigten sich im Erwachsenenalter bei den UHR-Kriterien in einer Metaanalyse (18) über die Zeit ansteigende Übergangsraten von knapp 10 und 15 Prozent nach sechs bzw. zwölf Monaten bis zu 25 und 37 Prozent bei Beobachtungsräumen von vier Jahren und mehr, wobei die vorliegenden Studien eine signifikante Heterogenität aufwiesen. Bei der Betrachtung der einzelnen UHR-Kriterien zeigte sich ein signifikanter Effekt für APS- und BIPS-Kriterien, wohingegen die Übergangsraten in reinen GRFD-Subgruppen nicht signifikant erhöht waren gegenüber Patienten ohne UHR-Kriterien. Patienten mit COPER zeigten in der gleichen Metaanalyse (18) nach dem Verlauf von einem und zwei Jahren den UHR-Kriterien vergleichbare gepoolte Übergangsraten von 15 und 21 Prozent. Für andere Messzeitpunkte lagen jeweils nur Daten aus einer Studie vor. Mehr Studien fanden sich zu COGDIS mit steigenden gepoolten Übergangsraten von 25 Prozent im ersten Jahr und von 61 Prozent nach mehr als vier Jahren (18), wobei die Übergangsraten in COGDIS-Stichproben ab dem dritten Beobachtungsjahr signifikant höher lagen als in UHRStichproben (18). In der Metaanalyse im Rahmen des Guidance-Projekts wurde einschränkend hervorgehoben, dass die Übergangsraten bei Kinder- und Jugendstichproben im
Vergleich zu reinen Erwachsenenstichproben und altersdurchmischten Stichproben signifikant geringer waren und damit die UHR-Stichproben im Kindes- und Jugendalter weniger psychoseprädiktiv zu sein scheinen (18). Im Falle von APS weisen dabei epidemiologische und klinische Befunde übereinstimmend auf einen differenziellen Altersschwellenwert hin: Sowohl bezüglich der Häufigkeit als auch der klinischen Wertigkeit von APS gilt der Altersübergang von der mittleren zur späteren Adoleszenz – etwa um das 16. Lebensjahr – als entscheidend (34, 35). In jüngeren Altersgruppen scheinen hierbei wahrnehmungsbezogene APS insgesamt eine geringe psychoseprädiktive Bedeutung zu besitzen (35). Alterseffekte, die vermutlich aufgrund von Hirnreifungsprozessen vorhanden sind, wurden auch für Basissymptome gefunden (36), die jedoch in neurobiologischen Studien noch bestätigt werden müssen.
Therapeutische Möglichkeiten Im Folgenden sollen unterschiedliche Interventionen zur Behandlung von Patienten mit Risikosymptomen vorgestellt werden, dabei werden besonders therapeutische Angebote aus der Schweiz dargestellt.
Psychologische Interventionen Psychosoziale Interventionsstrategien wurden in einer Reihe von Studien bei Individuen mit erhöhtem Psychoserisiko (CHR-Gruppen) angewendet (37):
Kognitive Verhaltenstherapie Zur Reduktion des festgestellten Psychoserisikos eines Übergangs oder zur Verzögerung des Übergangs in eine Psychose soll gemäss den EPA-Empfehlungen (38) Betroffenen mit einem erhöhten Psychoserisiko eine kognitive Verhaltenstherapie (KVT) angeboten werden. Das Früherkennungs- und Therapiezentrum für psychische Krisen, Bern» (FETZ Bern; www.upd.ch/fetz), orientiert sich hierfür am Manual «CBT for Those at Risk of a First Episode Psychosis: Evidence-based psychotherapy for people with an ‹At Risk Mental State›» von van der Gaag und Kollegen (39) und entwickelte daraus ein 13 Sitzungen umfassendes Einzeltherapieprogramm. Das Programm wird für Psychoserisikopatienten ab 13 Jahren angeboten und kann unter anderem als Add-onTherapie eingesetzt werden. Das Ziel ist die Reduktion des Distress, der in Zusammenhang mit dem Erleben von Risikosymptomen auftreten kann. Die Grundlage für die Behandlung bildet der Aufbau einer tragfähigen Beziehung. Der erste Teil des Programms sieht drei Sitzungen für eine intensive Psychoedukation vor. Im zweiten Teil, der drei Sitzungen umfasst, liegt der Fokus auf den zentralen Kognitionen bzw. auf den kognitiven Verzerrungen, die im Zusammenhang mit der Entstehung einer Psychose eine Rolle spielen können. Im Fokus stehen hierbei Wahrnehmungsverzerrungen, Erinnerungsverzerrungen und Verzerrungen im schlussfolgernden Denken, welche mithilfe metakognitiver Strategien bearbeitet werden. Danach wird gemeinsam ein individuelles Erklärungsmodell erarbeitet. Im dritten Teil wird in zirka sechs Sitzungen im Rahmen des Symptommanagements intensiv am Umgang mit den Risikosymptomen gearbeitet, z. B. Testen und Korrigieren von dysfunktionalen Annahmen mithilfe von Verhaltensexperimenten (u. a. Expositionsübungen). Um die
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erlernten Inhalte aufzufrischen wird etwa einen Monat nach Ende der aktiven Therapiephase eine Boostersitzung angeboten.
Therapieprogramm ROBIN Das in der Früherkennungssprechstunde der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP) in Zürich konzipierte und altersangepasste Therapieprogramm umfasst ein standardisiertes Manual für Therapeuten und eine Smartphone-App (Robin Z) für Jugendliche mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer Psychose (40). Mehr dazu im Beitrag auf Seite 23 ff.
Gruppenprogramm PLAN D Dieses störungsspezifische KVT-basierte Gruppenprogramm wird als komplementäre Therapieoption im FETZ Bern seit 2018 spezifisch für Jugendliche und junge Erwachsene mit Depersonalisations- und Derealisationserleben angeboten (41). Während es sich beim Derealisationserleben um ein spezifisches Basissymptom handelt, welches gemäss dem CHR-Ansatz in die Kriterien für COPER einfliesst (30), gilt ein Depersonalisationserleben als unspezifisch für ein Psychoserisiko. Eine Teilnahme an der Gruppe bedingt das Vorliegen von klinisch relevantem Derealisations- bzw. Depersonalisationserleben sowie ein Mindestalter von 13 Jahren. PLAN D umfasst acht 90-minütige Sitzungen, das folgende (namensgebende) Interventionselemente enthält: Psychoedukation (zwei Sitzungen), Lebensstilinterventionen (eine Sitzung), Akzeptanz und Achtsamkeit (eine Sitzung), Neue Denkmuster (kognitive Techniken; drei Sitzungen) sowie eine Abschlusssitzung. Die Gruppe umfasst vier bis sechs Teilnehmende und wird von zwei Ko-Therapeuten geleitet. Vor dem Hintergrund des derzeit verfolgten indizierten Präventionsansatzes bei Psychoserisiko (18), stellt dieses standardisierte Gruppenprogramm eine weitere vielversprechende psychologische (Früh-)Intervention dar, um den Verlauf und die Prognose von Derealisation und Depersonalisation günstig zu beeinflussen.
Pharmakotherapie Nicht selten wurden auch pharmakologische Interventionen allein oder in Kombination mit psychosozialen Massnahmen bei Patienten mit CHR-Syndromen angewendet. Dabei kamen vorwiegend Antipsychotika wie Aripiprazol, Ziprasidon, Risperidon und Olanzapin zum Einsatz – in Einzelfällen auch neuartige, experimentelle Substanzen wie D-Serin oder Omega-3-Fettsäuren. Die EPA empfiehlt ein Stufenmodell mit KVT als erster Wahl. Niedrig dosierte Antipsychotika der zweiten Generation sollten dann eingesetzt werden, wenn die KVT unwirksam bleibt und/oder eine ausgeprägte bzw. progressive attenuierte Positivsymptomatik vorliegt. Zur Stabilisierung dieser Symptomatik können Antipsychotika temporär zur Unterstützung eingesetzt werden. Die indizierte Prävention mit Massnahmen zur Behandlung von Patienten im Hochrisikostatus erscheint als die einzige aussichtsreiche Möglichkeit, die Dauer der unbehandelten Psychose – die ja mit einem ungünstigen Gesamtverlauf korreliert – zu reduzieren. Aktuelle Metaanalysen gehen zwar von einer Wirksamkeit der untersuchten Frühinterventionen aus, betonen aber, dass
keine der vielen unterschiedlichen Massnahmen sich als wirksamer als die anderen erwiesen hat (42, 43). Das soziale Funktionsniveau bei jungen Erwachsenen wird durch keine der Massnahmen deutlich verbessert (44).
EPA-Empfehlungen zur Frühbehandlung Klinische Empfehlungen der EPA-Guidance für eine Frühintervention für eine Psychose sind in Kasten 2 dargestellt (38) (übersetzt ins Deutsche von F. Schultze-Lutter [12], online abrufbar unter QR-Code am Ende des Beitrags).
Fazit für die Praxis
Psychosen zählen zu den psychischen Erkrankungen
mit besonderer Gefährdung der psychosozialen Ent-
wicklung von Kindern und Jugendlichen. Der Früh-
erkennung und Frühbehandlung soll deshalb besonde-
res Augenmerk geschenkt werden. Die Definition einer
klinischen Hochrisikogruppe (CHR) umfasst die Kriterien
der psychosenahen Symptombelastungen (UHR) und
die Basissymptomkriterien im Wahrnehmungs- und ko-
gnitiven Verarbeitungsbereich (COPER und COGDIS).
Die Interpretation der Empfehlungen der EPA macht
deutlich, dass der Vorhersagewert von Symptomkrite-
rien im frühen Jugendalter wenig aussagekräftig bezüg-
lich der Prognose eines Übergangs in eine Psychose ist.
Man sollte sich deshalb nicht von voreiligen Schlüssen
und Prophezeiungen in dieser Altersgruppe leiten las-
sen. Im späteren Jugendalter ab dem 16. Lebensjahr
scheinen die Vorhersagekriterien zunehmend Gültigkeit
zu besitzen.
Wenn Kinder und Jugendliche Hilfe suchen, muss ihnen
in angemessener Weise therapeutische Hilfe und Be-
gleitung angeboten werden, ohne dass zugleich die
Idee einer Psychoseverhinderung im Vordergrund ste-
hen sollte. Bei definierten Risikokriterien im klinischen
Bild sollten wegen der geringen Vorhersagekraft psy-
chotherapeutische Massnahmen und soziotherapeuti-
sche Interventionen zur Anwendung kommen, die sich
auf das Beschwerdebild einzelner Symptome (z. B. Ady-
namie oder Rückzug) konzentrieren. Nur wenn tatsäch-
lich psychotische Positivsymptome vorliegen, erscheint
eine medikamentöse Behandlung mit Antipsychotika
zur Stabilisierung indiziert. Die Behandlung von psycho-
sozialen Anpassungsproblemen und komorbiden Stö-
rungen sollte gemäss den Behandlungsleitlinien der
Kinder- und Jugendpsychiatrie erfolgen.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. phil. Chantal Michel
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie
Universität Bern
Bolligenstrasse 111, Haus A
3000 Bern 60
E-Mail: chantal.michel@upd.unibe.ch
Interessenkonflikt: Dr. Michel und Dr. Flückiger sowie Frau Kasteler (MSc) haben keinen Interessenkonflikt zu deklarieren.
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FORTBILDUNG
Kasten 1:
EPA-Empfehlungen zur Früherkennung einer Psychose
Empfehlung 1: Risikokriterien (basierend auf Metaanalyse) Die EPA empfiehlt, dass die folgenden 3 klinischen Risikokriterien alternativ für die Früherkennung einer Psychose verwendet werden sollten – nach Ausschluss einer derzeitigen oder früheren Psychose und einer körperlichen Ursache der Risikosymptomatik: (1) Mindestens ein attenuiertes psychotisches Symptom (APS), das die zusätzlichen Anforderungen des «Structured Interview for Psychosis-Risk Syndromes» (SIPS) oder des vor 2006 publizierten «Comprehensive Assessment of At-Risk Mental States» (CAARMS) erfüllt: ● ungewöhnliche Denkinhalte oder wahnhafte Ideen,
die nicht mit vollständiger Überzeugung gehalten werden (inkl. Beziehungsideen, die nicht sofort verworfen werden) ● Wahrnehmungsabweichungen oder Halluzinationen mit noch vorhandener Einsicht in ihre abnorme Natur ● desorganisierte Kommunikation oder Sprache, die noch inhaltlich verständlich ist und auf Strukturierungshilfen anspricht. (2) Mindestens 2 selbst wahrgenommene und berichtete kognitive Basissymptome (COGDIS), die dem Patienten nicht aus seiner «gesunden Zeit» bekannt sind und unabhängig vom klinischen Eindruck gemäss den Patientenangaben gewertet werden, innerhalb der letzten 3 Monate zumindest zeitweilig wöchentlich oder häufiger auftraten und nicht auf die Wirkung einer Substanz zurückführbar sind: ● Gedankeninterferenzen mit Einschiessen vollständig irrelevanter Bewusstseinsinhalte ● Gedankenblockaden, die nicht durch Konzentrations- oder Aufmerksamkeitsdefizite erklärbar sind ● Gedankenjagen, -drängen von thematisch unzusammenhängenden Gedanken ● Störung der rezeptiven Sprache bei Gebrauch der Muttersprache im Alltag ● Störung der expressiven Sprache bei Gebrauch der Muttersprache im Alltag ● Störung der Symbolerfassung im Sinne der gestörten oder verzögerten Erfassung und des Verständnisses von abstrakten, metaphorischen oder symbolischen Inhalten ● Eigenbeziehungstendenz, die sofort als irrig erkannt wird ● Unfähigkeit zur Spaltung der Aufmerksamkeit zwischen Aufgaben, die für sich genommen nicht die volle Aufmerksamkeit benötigen und primär unterschiedliche Sinne betreffen – z. B. ein Brot schmieren und eine Unterhaltung führen ● Fesselung der Aufmerksamkeit durch irrelevante Stimuli, was die willentliche Auslenkung der Aufmerksamkeit auf relevantere Reize behindert.
(3) Mindestens 1 transientes, spontan remittierendes psychotisches Symptom (BIPS), das die zusätzlichen Anforderungen der SIPS oder der vor 2006 publizierten CAARMS erfüllt: ● Wahn ● Halluzination ● formale Denkstörungen.
Empfehlung 2: Rolle des genetischen Risikos (basierend auf Metaanalyse) Die EPA empfiehlt, dass ein genetisch erhöhtes Psychoserisiko durch eine positive Familienanamnese für Psychosen bei einem erstgradigen biologischen Angehörigen nicht für sich allein genommen als klinisches Risikokriterium benutzt werden sollte, auch wenn es von Funktionseinbussen und psychischen Problemen begleitet ist. Vielmehr sollte es betrachtet werden als ein genereller Risikofaktor, der ein bereits vor der Risikoerhebung bestehendes erhöhtes Prätestrisiko für Psychosen anzeigt; als solcher sollte er bei Patienten mit klinisch erhöhtem Risiko gemäss einem der 3 Kriterien berücksichtigt werden. Patienten, die keines der 3 Risikokriterien erfüllen, aber ein genetisches Risiko und psychische Beschwerden haben, sollten jedoch zur Wiedervorstellung ermutigt werden, wenn sie das Auftreten von Risikosymptom-ähnlichen Beschwerden bemerken.
Empfehlung 3: Rolle der psychosozialen Funktionsdefizite (basierend auf Metaanalyse) Die allgemeinen Empfehlungen der EPA für die Prävention psychischer Störungen haben u. a. zum Ziel, den Erkrankungsausbruch und Einbussen in ökonomischer Produktivität und sozialem Funktionsniveau zu verhindern. Damit konform empfiehlt die EPA, dass ein signifikanter Einbruch im schulisch-beruflichen und/oder sozialen Funktionsniveau keine obligatorische Zusatzanforderung für ein klinisches Psychoserisiko gemäss den 3 genannten Kriterien darstellen sollte, da die Evidenz für eine Risikosteigerung durch diesen Zusatz fehlt. Eine deutliche Funktionseinbusse ist jedoch als ein Hinweis auf ein unmittelbar drohendes Übergangsrisiko in eine Psychose zu werten. Deshalb sollten Patienten mit einem klinischen Risiko und einem signifikanten Funktionseinbruch als hoch behandlungsbedürftig betrachtet werden.
Empfehlung 4: Zielpopulation (basierend auf Metaanalyse) Die EPA empfiehlt, dass die eingangs genannten klinischen Risikokriterien nur angewendet werden: ● auf Personen, die bereits unter psychischen Be-
schwerden leiden und hierfür Hilfe suchen ● sowie auf Personen, die wegen einer bekannten hö-
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FORTBILDUNG
heren Gefährdung, z. B. aufgrund einer positiven Familienanamnese für Psychosen, eine Abklärung ihres derzeitigen klinischen Risikostatus wünschen. Jegliches klinische Screening bei anderen Personen erscheint derzeit durch die wissenschaftliche Evidenzbasis nicht gerechtfertigt.
Empfehlung 5: Kinder und Jugendliche (basierend auf Metaanalyse) Die EPA empfiehlt, dass die eingangs genannten klinischen Risikokriterien nur mit äusserster Vorsicht bei Kindern und jüngeren Adoleszenten angewendet und kommuniziert werden sollten. Dennoch sollten sie aber bei diesen erhoben und im weiteren Verlauf beobachtet werden. In der späteren Adoleszenz hingegen scheinen die klinischen Risikokriterien bei Jugendlichen ähnlich gut wie bei Erwachsenen anwendbar zu sein.
Empfehlung 6: Benötigte Expertise (Expertenkonsens) Die EPA empfiehlt, dass ein trainierter Fachmann (Psychiater, klinischer Psychologe oder eine andere Fachkraft für psychische Gesundheit) mit ausreichender Erfahrung im Bereich des klinischen erhöhten Risikostatus für Psychosen die Erhebung durchführt. Wenn eine Zuweisung zu einem entsprechenden Spezialisten nicht möglich ist, sollte der verantwortliche Behandler einen Spezialisten beratend zu dem Fall konsultieren (etwa telefonisch); spezialisierte PsychoseFrüherkennungseinrichtungen sollten solche konsiliarischen Beratungen ermöglichen, z. B. im Rahmen telefonischer Sprechstunden. Fallbesprechungen mit einem Experten für die Früherkennung von Psychosen sind auch für Fachkräfte im Bereich psychischer Gesundheit ohne entsprechende Zusatzexpertise angeraten.
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FORTBILDUNG
Kasten 2:
EPA-Empfehlungen zur Frühintervention
Empfehlung 1: Behandlungsziele (Expertenkonsens) In Übereinstimmung mit den allgemeinen Richtlinien der EPA für die Prävention psychischer Störungen empfiehlt die EPA, dass eine Frühintervention bei Patienten mit einem klinischen Risikostadium für eine Psychose nicht nur auf die Verhinderung einer ersten Episode einer affektiven oder nicht affektiven psychotischen Störung, sondern auch auf die einer Entwicklung oder Persistenz funktionaler, d. h. sozialer, ausbildungsbezogener oder beruflicher Einbussen ausgerichtet sein sollte.
Empfehlung 2: Behandlungsbasis (Konsens aufgrund übereinstimmender Studienmerkmale) Die EPA empfiehlt, dass jegliche psychosepräventive Intervention voraussetzt, dass der klinische Risikostatus in voller Übereinstimmung mit den EPA-GuidanceEmpfehlungen für eine Früherkennung klinischer Risikostadien für eine Psychose (Schultze-Lutter et al., 2015b [18]) erhoben wurde.
Empfehlung 3: Wirksame Behandlungsarten (basierend auf Metaanalyse) Die EPA betrachtet psychologische, insbesondere kognitiv-behaviorale Psychotherapie sowie pharmakologische Interventionen als wirksam bei der Prävention oder zumindest dem Hinauszögern einer ersten psychotischen Episode bei erwachsenen Risikopatienten.
eine Symptomstabilisierung so weit zu erzielen, wie das für die effektive Durchführung einer Psychotherapie notwendig ist. Eine langfristige antipsychotische Medikation mit primär präventiver Ausrichtung wird nicht empfohlen.
Empfehlung 5: Komorbiditäten (Expertenkonsens) Die EPA empfiehlt, dass jegliche Intervention im Risikostadium ebenfalls die aktuellen individuellen Bedürfnisse berücksichtigen und die Behandlung anderer vorliegender psychischer Störungen (Komorbiditäten), insbesondere depressiver und Angststörungen, gemäss den jeweiligen Behandlungsleitlinien umfassen sollte. Komorbide Störungen sollten durch eine trainierte Fachperson (Psychiater, klinischer Psychologe oder eine andere Fachkraft für psychische Gesundheit) umfassend erhoben und regelmässig beobachtet werden.
Empfehlung 6: Kinder und Jugendliche (basierend auf Metaanalyse) Die EPA betrachtet die derzeitige Evidenz für die psychoseprädiktive Güte klinischer Risikokriterien (Schultze-Lutter et al., 2015b, [18]) und für die Wirksamkeit psychologischer und pharmakologischer Interventionen bei Kindern und jüngeren Adoleszenten als nicht ausreichend für die Rechtfertigung primär präventiver Behandlungen.
Empfehlung 4: Behandlung erster Wahl (Expertenkonsens) Die EPA empfiehlt ein Stufenmodell bei erwachsenen Risikopatienten mit dem am wenigsten restriktiven Ansatz, d. h. eine kognitive Verhaltenstherapie als Behandlungsoption erster Wahl. In Fällen, in denen psychologische Interventionen unwirksam bleiben, sollten ergänzend niedrig dosierte Antipsychotika der zweiten Generation zum Einsatz kommen, wenn eine ausgeprägte oder progressive Risikosymptomatik (APS mit nur geringer oder deutlich abnehmender Einsichtsfähigkeit oder BIPS in hoher oder zunehmender Häufigkeit) vorliegt. Diese sollte das primäre Ziel verfolgen,
Empfehlung 7: Behandlung von Kindern und Jugendlichen (Expertenkonsens) Die EPA empfiehlt, dass bei Kindern und Jugendlichen spezifische psychologische Interventionen zur Verbesserung des Funktionsniveaus als Teil des generellen Behandlungsplans angeboten werden und durch die Behandlung anderer psychosozialer Probleme und komorbider Störungen gemäss deren Behandlungsleitlinien ergänzt werden sollten. Risikosymptome sollten langfristig engmaschig beobachtet und hinsichtlich einer etwaigen Progression bewertet werden, wobei der Behandlungsplan an ihren Verlauf angepasst werden sollte.
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