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ECTRIMS 2019
Die Prognose von Patienten mit Multipler Sklerose hat sich verändert
Zum Auftakt des 35. Kongresses des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) wurde in einer Hot-Topic-Session aufgezeigt, inwiefern sich die Langzeitprognose von Patienten mit schubförmiger MS verändert hat und welche Gründe sich dahinter verbergen.
«W ir haben die letzten 25 Jahre damit verbracht, unsere MS-Patienten davon zu überzeugen, eine krankheitsmodifizierende Therapie zu beginnen und diese auch beizubehalten», erklärte Dr. med. Ilya Kister (New York/USA). Die Frage sei nun, ob über die Zeit gesehen intensiv behandelte Patienten tatsächlich weniger stark behindert seien als weniger intensiv behandelte oder unbehandelte Patienten.
Veränderung der Behinderung über die Jahre erfassen Wie er weiter erläuterte, könnte der MultipleSclerosis-Severity-Score (MSSS [1]) dazu herangezogen werden, um verschiedene Populationen miteinander zu vergleichen. «Denn der MSSS stellt ein Mass für die Behinderung eines MS-Patienten im Vergleich zu anderen Patienten mit einer vergleichbaren Erkrankungsdauer innerhalb einer Referenzpopulation dar», erläuterte Ilya Kister. Anhand von Daten aus dem New-York-State-MS-Consortium (n = 6238, 1996–2007) und aus MSBase (n = 11 108, 1996–2010), einem internationalen Onlineregister für Neurologen, die sich wissenschaftlich mit MS beschäftigen, haben Dr. Kister und Mitarbeitende untersucht, ob sich innerhalb der Ära der krankheitsmodifizierenden Therapien (DMT) ein Trend zu einer Abnahme der Behinderung der MS-Patienten in Abhängigkeit vom Jahr ihres Einschlusses in das Register nachweisen lässt (2). «Dabei konnten wir bei Patienten, die später in die Kohorten eingeschlossen wurden, einen Trend zu einem niedrigeren MSSS feststellen, dies unabhängig von der Erkrankungsdauer», schilderte Dr. Kister. Dieser Trend blieb auch dann bestehen, wenn bei der Analyse das Alter bei Einschluss, das Geschlecht, die Herkunft, die Krankheitsdauer und die diagnostische Verzögerung mitberücksichtigt wurden. So wiesen MSPatienten, die 1996 eingeschlossen worden waren, einen medianen MSSS von 5,04 im Vergleich zu Patienten mit einem medianen MSSS
von 3,78 auf, die 2006 aufgenommen worden waren. «Wir konnten also zeigen, dass es über die Jahre zu einer bedeutenden Verlagerung hin zu einem tieferen MSSS gekommen ist», erklärte er und betonte, dass dieses Resultat doch sehr ermutigend sei. Um das Ausmass der Veränderung veranschaulichen zu können, untersuchte er anhand der MSBase-Daten, in welchem Alter MS-Patienten bestimmte Behinderungsmeilensteine erreichten (3). Dabei zeigte sich, dass beispielsweise Patienten mit einem Wert von 3,0 bis 3,5 auf der Expanded-Disability-Status-Skala (EDSS) im Durchschnitt 3,6 Jahre älter waren, wenn sie am Ende der Einschlussperiode aufgenommen wurden, dies im Vergleich zu den Patienten, die zu Beginn einschlossen wurden (bei EDSS von 6/6,5: 4,9 Jahre älter). «Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass es in diesen beiden grossen Registern etwa innerhalb der ersten 10 Jahre der Verfügbarkeit von DMT zu einem signifikanten Trend hin zu einer milderen Behinderung und zu einem höheren Alter beim Erreichen bestimmter Behinderungsendpunkte kam. Diese Resultate passen gut zu unserer Hypothese, dass der Einsatz einer DMT früh im Krankheitsverlauf einen positiven Effekt auf den Langzeitverlauf aufweist. Ein Beweis dafür sind sie jedoch nicht», kommentierte Dr. Kister.
Effekt wohl nur zum Teil therapiebedingt Anhand von Untersuchungsresultaten aus verschiedenen MS-Kohorten veranschaulichte Dr. Kister anschliessend die Konsistenz dieser Resultate. In einer retrospektiven Arbeit aus Kanada wurde die Zeit bis zu einem EDSS-Wert von 6 vor der Einführung der DMT und danach verglichen (4). Dieser Vergleich ergab schliesslich, dass MS-Patienten seit der Einführung der DMT einen EDSS-Wert von 6 etwa 4 Jahre später erreichen. «Das korreliert relativ gut mit unseren Resultaten», sagte der Redner. Eine Untersuchung aus Italien mit 1324 Patienten
ergab, dass das Alter, in dem 50 Prozent der Patienten einen EDSS-Wert von 6 erreicht hatten, 1990 bei 55 Jahren und 2010 bei 63 Jahren lag (5). Auch eine populationsbasierte Kohortenstudie aus Schweden fand, dass sich das Risiko, bestimmte Behinderungsmeilensteine zu erreichen, bei Patienten mit schubförmiger MS in den letzten 10 Jahren stark reduziert hat (6). Da die Autoren der Studie dies bei Patienten mit progredienter MS nicht beobachten konnten und hier – im Gegensatz zur schubförmigen MS – keine wirksamen DMT verfügbar waren, kamen sie zu dem Schluss, dass die beobachtete Risikoreduktion auf den Einsatz wirksamerer DMT zurückzuführen sein könnte. «In der Tat liegen uns verschiedene Daten dazu vor, dass die Verlangsamung der Behinderung, zumindest zu einem Teil, auf das Konto der DMT geht», hielt Dr. Kister fest. Er untermauerte dies unter anderem mit einer Arbeit, in der die Langzeitwirksamkeit von Beta-Interferonen und Glatirameracetat untersucht wurde (7). Der Vergleich einer behandelten mit einer unbehandelten Gruppe ergab auch hier eine Verzögerung von 4 Jahren bis zum Erreichen eines EDSS-Werts von 6 in der behandelten Gruppe. Eine weitere Untersuchung mit fast 6000 Patienten und einem Follow-up von bis zu 28 Jahren zeigte zudem, dass die Behandlung mit Beta-Interferonen (> 3 Jahre) das Mortalitätsrisiko um 32 Prozent reduzierte (8). «Wir scheinen also etwas zu feiern zu haben», so der Redner. «Jedoch müssen wir uns auch bewusst sein, dass wir mit den heutigen diagnostischen Möglichkeiten bereits Patienten mit einer viel milderen Erkrankung erkennen können.» Dies trage sicherlich auch zu dem Trend hin zu einer geringeren Behinderung bei. «Die Gesamtlast der MS auf die Gesellschaft bleibt jedoch weiterhin hoch», schloss Dr. Kister.
Unterschiedliche Studienpopulationen Die Epidemiologin Prof. Dr. Helen Tremlett (Vancouver/CAN) beleuchtete im Anschluss weitere behandlungsunabhängige Faktoren, die dazu beitragen könnten, dass heute die Behinderung bei MS-Patienten langsamer voranzuschreiten scheint als früher. «So gibt es beispielsweise verschiedene Faktoren, die einen Einfluss auf die Zusammensetzung von Studienpopulationen haben», meinte sie. «Noch 1985 gab es in der renommierten Zeit-
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schrift Lancet eine Debatte dazu, ob man als Arzt einem Patienten mitteilen solle, dass er an MS leide. Im British Medical Journal wurde 1989 empfohlen, bei einem Verdacht auf MS nur dann weitere Abklärungen zu treffen, wenn es auch für den Patienten klar sei, dass etwas abgeklärt werden müsse.» Prof. Tremlett ist daher der Meinung, dass MS – und dabei insbesondere die weniger schweren Fälle – damals unterdiagnostiziert war. «Vor 1990 waren die Studienkohorten also vermutlich eher mit rasch progredienten Patienten angereichert», führte sie weiter aus. Im Weiteren habe es Geschlechterungleichheiten hinsichtlich des Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen gegeben. «In vielen Ländern hatten lange Zeit nur berufstätige Männer eine Krankenversicherung. Frauen konnten sich das nicht leisten und gingen deshalb gar nicht erst zum Arzt. Es ist also wahrscheinlich, dass Frauen mit MS unterdiagnostiziert waren. Bedenkt man zudem, dass die Erkrankung bei Frauen meist langsamer voranschreitet, könnte der unterschiedliche Zu-
gang zu Gesundheitsdienstleistungen eben-
falls zu den Veränderungen in der Progressions-
geschwindigkeit beigetragen haben», erläu-
terte sie.
Schliesslich machte die Rednerin deutlich, dass
es Unterschiede zwischen den MS-Patienten
gebe, die eine Klinik aufsuchten und Patienten,
die anderweitig betreut würden: «Studien zei-
gen, dass die Patienten in den Kliniken jünger
und rascher progredient sind.» Gerade die Zu-
sammensetzung der Patientenpopulation in
Kliniken beeinflusse aber auch die Zusammen-
setzung von Studienpopulationen. Zusam-
menfassend sagte sie: «Vieles weist darauf hin,
dass Patienten mit einer rascher voranschrei-
tenden MS in älteren Studien überrepräsentiert
waren. Es könnte also sein, dass sich die MS
selbst nicht verändert hat, ihre Erfassung aber
höchstwahrscheinlich schon.»
G
Dr. Therese Schwender
Medizinjournalistin
Referenzen:
1. Roxburgh RH et al.: Multiple Sclerosis Severity Score: using disability and disease duration to rate disease severity. Neurology 2005; 64: 1144–1151.
2. Kister I et al.: Trend for decreasing Multiple Sclerosis Severity Scores (MSSS) with increasing calendar year of enrollment into the New York State Multiple Sclerosis Consortium. Mult Scler 2011; 17: 725–733.
3. Kister I et al.: Increasing age at disability milestones among MS patients in the MSBase Registry. J Neurol Sci 2012; 318: 94–99.
4. Veugelers PJ et al.: Disease progression among multiple sclerosis patients before and during a disease-modifying drug program: a longitudinal population-based evaluation. Mult Scler 2009; 15: 1286–1294.
5. Capra R et al.: Assessing long-term prognosis improvement as a consequence of treatment pattern changes in MS. Mult Scler 2017; 23: 1757–1761.
6. Beiki O et al.: Changes in the Risk of Reaching Multiple Sclerosis Disability Milestones In Recent Decades: A Nationwide Population-Based Cohort Study in Sweden. JAMA Neurol 2019; 76: 665–671.
7. Palace J et al.: Assessing the long-term effectiveness of interferon-beta and glatiramer acetate in multiple sclerosis: final 10-year results from the UK multiple sclerosis risk-sharing scheme. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2019; 90: 251–260.
8. Kingwell E et al.: Multiple sclerosis: effect of beta interferon treatment on survival. Brain 2019; 142: 1324–1333.
Quelle:
Hot Topic 1: «Is MS becoming a milder disease, and if so, why?». 35th Congress of the European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS), 11. bis 13. September 2019, Stockholm/S.
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