Transkript
FORTBILDUNG
«Das ist aktuell wirklich Science-Fiction»
Prof. Lutz Jäncke ist Ordinarius für Neuropsychologie an der Universität Zürich. Wissenschaftlich beschäftigt er sich vor allem mit der funktionellen Plastizität des menschlichen Gehirns. Im Gespräch gibt er Auskunft darüber, welche Grundproblematik in der Psychiatrie besteht und in welche Richtung sich die Psychiatrie bewegen könnte.
Psychiatrie + Neurologie: Die psychiatrischen Schwerpunktbeiträge sind sehr unterschiedlich: einerseits zwei sehr wissenschaftliche Herangehensweisen an das Thema der neuropsychologischen Abklärung, beispielsweise bei Demenz, und andererseits eine theoretische Beschreibung, dass sich mentale Zustände kaum biologisch darlegen lassen. Zeigt das ein Grundproblem in der Psychiatrie auf? Prof. Lutz Jäncke: Meines Erachtens repräsentieren alle drei Arbeiten ein grundsätzliches Problem: Die Psychiatrie und die Neuropsychologie sind Disziplinen, die sich mit der 1. Person- (1PP) und der 3. Personperspektive (3PP) auseinandersetzen müssen. Die 1PP beschreibt den Standpunkt von der betroffenen Person aus. Aus dieser Perspektive empfindet die Person als Subjekt eigene Gefühle, erkennt die von ihr ausgelösten Verhaltensweisen und begreift auch, dass die bewussten Erfahrungen die Ursachen für ihr Verhalten sind. Im Rahmen der 3PP betrachtet ein Beobachter quasi von aussen das Verhalten einer anderen Person. Aus der 3PP können die Erfahrungen als neurophysiologische Prozesse erklärt werden. Das können dann neurophysiologische Erregungen und chemische Prozesse im Gehirn sein, aber auch physiologische Reaktionen des vegetativen Nervensystems, das Verhalten an sich, Augenbewegungen oder andere objektive Masse. Beide Betrachtungsweisen (1PP und 3PP) sind möglich und auch korrekt, aber sie sind komplementär, sich also gegenseitig ergänzend. Bewusste Erfahrungen auf der 1PP können Repräsentationen unterschiedlicher Bereiche sein, beispielsweise der externen Welt, des eigenen Körpers und des eigenen Denkens und Wahrnehmens. Auf der Ebene der 3PP sind diesen Repräsentationen bestimmte neuronale Erregungsmuster zugeordnet. Eine Farbwahrnehmung (1PP) ist zum Beispiel mit neuronaler Aktivität in den Farbarealen verbunden (3PP). Bestimmte neuronale Aktivierungen im Gesichtswahrnehmungsareal (3PP) erzeugen die Wahrnehmung von Gesichtern (1PP), oder neuronale Aktivierungen in den sekundären Hörarealen (3PP) erzwingen Musikwahrnehmungen (1PP). Wie bereits gesagt: Beide Ebenen sind korrekt, repräsentieren allerdings unterschiedliche Betrachtungs- und Untersuchungsebenen ähnlicher, miteinander verwo-
Lutz Jäncke
bener Abläufe. Die genauen Zusammenhänge zwischen beiden Ebenen sind bis heute noch weitgehend unverstanden. Wir wissen zwar, dass Zusammenhänge existieren. Diese sind sehr unterschiedlich: linear oder nicht linear, sich dynamisch ändernd oder für eine längere Zeit konstant.
Wird man vielleicht einmal in der Lage sein, mentale Zustände objektiv darstellen zu können? Oder lassen sich die kompliziertesten kognitiven Funktionen einmal mithilfe der Naturwissenschaft verstehen? Und wo ordnen wir dann die Emotionen und das Verhalten ein? Lutz Jäncke: Ich vermute schon. Wir müssen dazu (nur!?) die Sprache des Gehirns entziffern. Dann können wir wahrscheinlich auch die durch die neuronalen Erregungen erzeugten Bewusstseinszustände erklären. Wahrscheinlich können wir dann auch Bewusstseinszustände erzeugen und auch messen. Aber das ist aktuell wirklich Science-Fiction. Aber für unmöglich halte ich das nicht.
Welche Rolle nehmen in diesem Zusammenhang die Biomarker ein? Lutz Jäncke: Biomarker können sehr wichtig werden, denn das Problem ist, dass selbst Patienten, insbesondere psychiatrische, oft ihre eigenen Symptome missdeuten. Man muss im Übrigen noch bedenken, dass neben der Verhaltensuntersuchung auch sprachbasierte Untersuchungen traditionell sehr wichtig sind. Sprachbasierte Untersuchungen werden allerdings in der heutigen Zeit immer problematischer, denn wir
16 1/2020
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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haben es mit einer zunehmenden Anzahl von Migranten und internationalen Patienten zu tun. Insofern sind «sprachfreie» Tests, was ja Biomarker sind, unbedingt vonnöten. Hinzu kommt, dass die reine Erkundung der 1PP bei psychiatrischen Patienten, aber auch bei neuropsychologischen Patienten, nicht perfekt auf den wirklichen Zustand des Gehirns schliessen lässt. Letztlich ist ja wichtig, etwas über die Integrität des Gehirns zu erfahren.
Und welche Biomarker bräuchte es dann? Lutz Jäncke: Neben genetischen und molekularbiologischen Markern, die zum Beispiel immer wichtiger für die Diagnose von Demenzen werden, sind auch neuroanatomische und neurophysiologische Biomarker sehr wichtig. An Bedeutung werden vor allem Biomarker gewinnen, die recht einfach zu erheben sind. Bereits jetzt werden immer mehr Verfahren entwickelt, die internetbasiert arbeiten. Auch neuartige Apps können zur Erfassung von Biomarkern verwendet werden. Natürlich wirft all das auch ethische Fragen auf, die noch gelöst werden müssen.
Wären diese dann überhaupt finanzierbar? Lutz Jäncke: Ich bin sicher, dass die technische Entwicklung bezahlbare, aber dennoch objektive, reliable und valide Tests hervorbringen wird. Erste Ansätze hierzu existieren ja bereits.
In welche Richtung wird sich die moderne Psychiatrie
noch entwickeln?
Lutz Jäncke: Meines Erachtens wird sich die Psychiatrie
noch stärker als bis anhin in eine biologische und neu-
rowissenschaftliche Disziplin wandeln.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Lutz Jäncke
Universität Zürich
Institut für Psychologie
Abteilung Neuropsychologie/Kognitive Neurowissenschaften
Binzmühlestrasse 14, Postfach 25
8050 Zürich
E-Mail: lutz.jaencke@uzh.ch
Herr Prof. Jäncke, wir bedanken uns für das Gespräch. Das Interview wurde von Annegret Czernotta schriftlich geführt.