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FORTBILDUNG
Suizid: Prävention – Intervention – Postvention
Suizid ist bei Kindern und Jugendlichen ein seltenes Ereignis, zählt aber neben den Unfällen zu den häufigsten Todesursachen in diesem Altersbereich und bedarf daher der anhaltenden Aufmerksamkeit der Fachleute und der gesamten Gesellschaft. Der Prävention, der Intervention und der Therapie nach einem Suizid (Postvention) kommt daher eine zentrale Rolle zu.
Hellmuth Braun-Scharm
von Hellmuth Braun–Scharm
N ehmen sich Kinder und Jugendliche das Leben, ist das immer ein erschütterndes, nahezu ungeheuerliches Ereignis für das gesamte Umfeld – besonders aber für die Familie und die engeren Freunde. Der therapeutische Umgang mit Suizidalität verteilt sich auf drei Schwerpunkte: G die Therapie vor einem möglichen Suizidversuch/
Suizid (Prävention) G die Therapie in der suizidalen Krise (Intervention) G die Therapie nach einem erfolgten Suizidversuch/
Suizid (Postvention).
Die Therapie der chronischen oder häufig rezidivierenden Suizidalität ist ein weiterer Baustein. Unter den verschiedenen Faktoren, die auf Häufigkeit, Ausprägung und Geschlechterverteilung grossen Einfluss haben, ist das Alter von entscheidender Bedeutung, denn jede Altersgruppe hat ihr eigenes Gepräge. Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen hat eine eigenständige Charakteristik dadurch, dass der grösste Teil des Lebens bevorsteht und der natürliche Tod in weiter Ferne liegt. Kinder und Jugendliche befinden sich in einer besonders rasanten Entwicklungsperiode, haben meist noch keinen gefestigten Lebensstil, wechseln öfter ihre Meinungen und Einstellungen, sind flexibler und impulsiver, und auch die Haltung zum Leben und zum Tod sowie die Fragen nach dem Sinn des Lebens müssen erst gefunden und beantwortet werden. Schwere, leidvolle, tendenziell zum Tode führende Krankheiten sind bei jungen Menschen noch selten. Das kontroverse Thema des assistierten Suizids spielt deshalb in dieser Altersgruppe noch keine (grosse) Rolle. Suizidalität manifestiert sich in folgenden Schweregraden: G suizidale Gedanken, Ideen und Gefühle G nicht tödliche suizidale Handlungen (Suizidversuche) G tödliche suizidale Handlungen (Suizide).
Nicht suizidales, selbstverletzendes Verhalten (NSSV/ NSSI) wird idealtypisch von Suizidalität unterschieden. Bei längerem Verlauf und weiteren komorbiden psychischen Störungen können nicht suizidale und suizidale Selbstverletzungen aber auch gemeinsam auftreten oder ineinander übergehen.
Aufgrund der unterschiedlichen Verteilung der Schweregrade in den verschiedenen Altersgruppen treffen wir bei Kindern und Jugendlichen auf folgende Verteilung: G Suizidale Handlungen im Kindesalter sind selten,
nehmen im Jugendalter etwas zu, suizidale Gedanken – in der Regel ohne konkrete Planung– sind im Kindesalter recht häufig und nehmen ebenfalls mit dem Alter zu.
Wie in den anderen Altersgruppen sind Suizide beim männlichen Geschlecht zwei- bis dreimal häufiger, während die Suizidversuche bei den Mädchen zwei- bis dreimal häufiger sind. Suizidversuche sind wesentlich häufiger als Suizide. Die Gesamtzahl der Suizide bis zum 18. Lebensjahr macht etwa 2 bis 3 Prozent der Gesamtsuizidzahl aus. Daraus folgt, dass im Kindes- und Jugendalter die leichteren Formen der Suizidalität dominieren, überwiegend in Form von Gedanken und Wünschen bei beiden Geschlechtern und von Suizidversuchen bei Mädchen.
Prävention Der Suizidprävention kommt im Kindes- und Jugendalter eine doppelte Funktion zu: G Erstens geht es darum, die Entwicklung von schwe-
ren Formen der Suizidalität in statu nascendi nach Möglichkeit zu verhindern. G Zweitens geht es aber vor allem darum, die Entwicklung längerfristiger suizidaler Verläufe in das Erwachsenenalter hinein so weit wie möglich zu bremsen.
Die Möglichkeiten der Suizidprävention sind vielfältig und unterschiedlich, aber noch lange nicht ausgeschöpft und weiterhin entwicklungsbedürftig (1). Die Basis der Suizidprävention und der Therapiemöglichkeiten bildet das grosse Netz bereits vorhandener und bestehender Kriseninterventions- und Therapiemöglichkeiten, das alle praktizierenden Psychiater, Psychotherapeuten, Beratungsstellen, Kliniken, Krisendienste und niedrigschwellige Angebote wie Telefonseelsorge und Internetdienste wie U25 umfasst (2). Hinzu kommen regionale Aktionen, Netzwerke und Fortbildungsmöglichkeiten. Eine weitere, anders geartete Methode der Suizidprävention ist die Einschränkung des Zugangs zu Mitteln und Methoden, die zur Durchführung suizidaler Handlungen geeignet sind (Methodenrestriktion). Diese beruht auf der empirisch gesicherten Tatsache, dass die
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Verfügbarkeit der Mittel und Methoden über deren Anwendungshäufigkeit entscheidet. Je leichter ein Mittel zugängig ist, desto häufiger wird es benützt. Die bekannteste und erfolgreiche Massnahme dieser Art war die Entgiftung des Haushaltsgases. Weitere erfolgreiche Massnahmen sind die Reduzierung der Verfügbarkeit von Pestiziden, die Sicherung von Brücken, hohen Gebäuden und psychiatrischen Kliniken, Waffenschutzgesetze und die Verkleinerung von Medikamentenpackungen. Insgesamt müssen die Massnahmen aber noch weiter ausgebaut werden. Eine besonders für Kinder und Jugendliche geeignete Form der Suizidprävention wäre beispielsweise die schulbasierte Suizidprävention, die in den Stundenplan eingebaut oder eingebettet ist und auf diese Weise viele Schüler erreicht.
Intervention Suizidale Symptome können – ähnlich wie andere psychische Störungen – auf drei unterschiedlichen Wegen beeinflusst werden: durch Psychotherapie, Medikation und die Beeinflussung sozialer Umstände. Psychotherapie: Grundsätzlich ist Suizidalität durch jede Art der Psychotherapie behandelbar. Das gilt vor allem für leichtere Formen, wie sie bei Kindern und Jugendlichen häufig vorkommen. Wichtig ist dabei vor allem, das Schweigen und die Aussichtslosigkeit vieler suizidaler Menschen aufzulockern und zu einer Verbalisierung der psychischen Probleme zu gelangen. Nimmt die Schwere der Suizidalität zu, sind komorbide psychische Störungen vorhanden oder werden konkrete Planungen geäussert, reichen bisweilen die allgemeinen psychotherapeutischen Verfahren nicht mehr aus und müssen durch Methoden ergänzt werden, deren antisuizidale Wirkung empirisch belegt ist, wie die Interpersonelle Psychotherapie (IPT) oder die DialektischBehaviorale Therapie (DBT) (3, 4), oder die Rahmenbedingungen müssen angepasst werden (Behandlung ambulant, teilstationär, stationär, geschlossen). Medikation: Antisuizidale Medikamente im engeren Sinne gibt es nicht. Erfolgt trotzdem eine medikamentöse Behandlung, werden meist antidepressive Mittel verwendet, weil Suizidalität häufig mit depressiven Verstimmungen verknüpft ist und Bestandteil depressiver Störungen sein kann. Diese Praxis ist durch Meldungen infrage gestellt worden, die von einer Erhöhung der Suizidalität bei Gabe von Antidepressiva im Kindes- und
Merkpunkte:
● Suizidale Handlungen im Kindesalter sind selten, nehmen im Jugendalter etwas zu.
● Suizidale Gedanken sind im Kindesalter recht häufig und nehmen ebenfalls mit dem Alter zu.
● Die Suizidprävention soll einerseits schwere Formen der Suizidalität verhindern, andererseits suizidale Verläufe im Erwachsenenalter bremsen.
● Die Psychotherapie, die Medikation und die Beeinflussung der sozialen Umstände sind Hauptpfeiler der Intervention.
● Nach einem Suizidversuch ist eine gründliche Aufarbeitung mit dem Suizidenten anzustreben.
● Nach Suizid sollten Angehörige und das soziale Umfeld so intensiv wie möglich nachbetreut werden.
Jugendalter berichtet haben. Dieser Befund, der prinzipiell richtig ist, wurde aber häufig fehlinterpretiert und hat einige Therapeuten dazu bewogen, suizidalen Kindern und Jugendlichen keine Antidepressiva mehr zu verschreiben.
Deshalb folgende Empfehlung: G Beim Ansetzen von Psychopharmaka ist immer ein
enges, frühes und mindestens einige Tage andauerndes Monitoring erforderlich, um eventuelle Nebenwirkungen jeder Art frühzeitig erkennen zu können. In seltenen Fällen können tatsächlich suizidale Gedanken unter Einnahme von Antidepressiva zunehmen, und die Medikamente müssen dann reduziert oder abgesetzt werden. Ansonsten sind Antidepressiva nach wie vor die wirksamsten Mittel zur Behandlung depressiv-suizidaler Verstimmungen. G Bei Anspannung, Unruhe, starkem Gedankendrängen und drohenden impulsiven Handlungen werden eher beruhigende Medikamente oder Neuroleptika gegeben, meist nur für eine begrenzte Zeit. G Eine alleinige medikamentöse Therapie ist in der Regel nicht sinnvoll, eine optimale Medikation eventuell komorbider Störungen ist aber unerlässlich.
Änderung sozialer Umstände: Inadäquate Beschulung, belastende Familienkonstellationen, Migration, Misshandlung oder andere Belastungen können zu Suizidalität führen und sollten direkt und nicht über den Umweg über die Psychotherapie beeinflusst werden. Unterstützung gewähren in solchen Fragen Schulpsychologen, Jugendämter und spezielle Beratungsstellen.
Postvention
Nach einem Suizidversuch ist eine gründliche Aufarbei-
tung mit dem Suizidenten anzustreben, um weitere
Suizidversuche nach Möglichkeit zu vermeiden und
konstruktivere Problemlösungsstrategien zu verankern.
Nach einem Suizid scheidet diese Möglichkeit aus, aber
die Angehörigen und das soziale Umfeld sollten so in-
tensiv wie möglich nachbetreut werden. Dazu zählen
auch Schulklassen, Heimgruppen und die Angehörigen
des Rettungswesens. Auch hier steht die Verhütung von
weiteren suizidalen Handlungen und von imitativen
Verhaltensweisen im Vordergrund.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Hellmuth Braun-Scharm
Leiter Ärztlicher Dienst
Stiftung Enzian
Hagenholzstrasse 65
8050 Zürich
E-Mail: hellmuth.braun-scharm@stiftung-enzian.ch
Literatur:
1. Zalsman G, Hawton K, Wasserman D, Heeringen van K, Arensman E, Sarchiapone M, Carli V, Höschl C, Barzilay R, Balazs J, Purebl G, Kahn JP, Pilar AS, Bursztein Lipsicas C, Bobes J, Cozman D, Hegerl U, Zohar J: Suicide prevention strategies revisited: 10-Year systematic review. Lancet Psychiatry June 8 2016, http://dx.doi.org/10.1016/ S22150366(16)30030-X
2. Catsam J, Held D, Weckwerth K: U 25 Deutschland – Ein online Beratungsangebot zur Suizidprävention. Pädagogik heute 68/2 Seite 21– 26, 2017.
3. Schramm E: Interpersonelle Psychotherapie 2. Aufl. Schattauer, Stuttgart 1998.
4. Stiglmayr C, Gunia H: Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) der Borderline Persönlichkeitsstörung: Ein Manual für die ambulante Therapie, 2017, Hofgrefe Verlag, Göttingen.
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