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FORTBILDUNG
Somatische Belastungsstörung und funktionelle Störungen bei Adoleszenten
Neben einer Übersicht zur neuen Klassifikation DSM-5 (2) der somatischen Belastungsstörung und der verwandten Störungen wird am Bespiel chronischer funktioneller Bauchschmerzen und speziell dem Reizdarmsyndroms dargelegt, wie mit einer strukturierten Vorgehensweise unnötige Abklärungen und Therapien vermieden und trotzdem mit hoher Wahrscheinlichkeit eine angemessene Patientenzufriedenheit erreicht werden kann – ohne Gefahr zu laufen, eine bedrohliche organische Erkrankung zu verpassen.
Josef Laimbacher
von Josef Laimbacher
S omatische Belastungsstörungen sind in der Praxis und Klinik häufig anzutreffen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass eine Diskrepanz zwischen objektiven Befunden und subjektivem Befinden besteht. Unauffällige organmedizinische Befunde stehen mit intensiv erlebten Beschwerden und starker Beeinträchtigung im Alltag des Patienten einander gegenüber. Zusätzlich sind sie häufig mit grosser Angst und Sorge um die Gesundheit assoziiert. Solche Störungsbilder lassen sich als psychosomatische Störungen oder als funktionelle Störungen definieren. Sie werden aber auch unter dem Konzept der somatischen Belastungsstörung und verwandten Störungen gemäss der neuen Klassifikation DSM-5 (2) behandelt (Kasten 1). Die somatische Belastungsstörung und verwandte Störungen sind gemäss dieser Klassifikation psychiatrische Diagnosen, obwohl Patienten aus dieser Diagnosegruppe sehr selten primär einen Psychiater aufsuchen oder von sich aus psychotherapeutisch Hilfe in Anspruch nehmen. Vielmehr konsultieren diese Patienten Grundversorger, also Pädiater, Allgemeininternisten oder Gynäkologen. Von daher geht nach Langewitz (1) die Umdeutung dieser Diagnosegruppe in ein rein psychiatrisches Krankheitsbild an der klinischen Realität vorbei. Bedauernswert ist aber vor allem die Tatsache, dass diese Störungsbilder in den gängigen Lehrbüchern der Fachgebiete der Grundversorger nahezu vollständig fehlen, obwohl sich gerade diese Ärztegruppen täglich mit diesen Patienten konfrontiert sehen. Dies gilt ganz wesentlich auch für Patienten mit chronischen Schmerzzuständen. Die Störungen der neuen Klassifikation DSM-5 weisen das gemeinsame Merkmal auf, dass die somatischen Symptome mit ausgeprägtem Leidensdruck und Beeinträchtigungen verbunden sind. Diese neue Klassifikation erscheint deshalb nützlicher für den Grundversorger im klinischen Alltag. Der neue Begriff der somatischen Belastungsstörung hebt das Vorhandensein positiver Symptome und Merkmale hervor, wie belastende somatische Symptome, abnorme Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen als Reaktion auf diese körperli-
chen Symptome. Somit wird nicht, wie in früheren Klassifikationen, das Fehlen einer körperlichen Ursache somatischer Beschwerden gefordert. Ein Charakteristikum ist auch, dass nicht die somatische Symptomatik per se, sondern vielmehr die Art und Weise, wie Betroffene diese sehen und interpretieren, das Leiden prägen. Dies ist von hoher Relevanz, insbesondere auch bei der Begutachtung in der Versicherungsmedizin. Demgegenüber schliessen Krankheiten mit einer primär klar somatischen Diagnose grundsätzlich nicht aus, dass auch psychiatrische Komorbiditäten oder eine somatische Belastungsstörung vorliegen können (2).
Funktionelle gastroenterologische Störungen in der Pädiatrie Funktionelle Störungen im weiteren Sinne sind auch in der Pädiatrie und insbesondere in der Adoleszenz im Praxisalltag häufig anzutreffen. Davon betroffen ist insbesondere das kardiovaskuläre, gastrointestinale, respiratorische oder urogenitale System. Die häufigsten Symptome sind wiederkehrende Bauchbeschwerden, Kopfschmerzen, Erschöpfung und Übelkeit. Beispielhaft werden im Folgenden die Gruppe der funktionellen gastrointestinalen Störungen und im Speziellen das Reizdarmsyndrom besprochen. Gemäss Rom-IVKlassifikation (3, 4) werden die funktionellen gastrointestinalen Störungen bei Kindern und Adoleszenten wie folgt eingeteilt: G H1 Funktionelle Störungen mit Nausea und Erbre-
chen G H2 Funktionelle gastrointestinale Schmerzstörun-
gen H2a: Funktionelle Dyspepsie H2b: Reizdarmsyndrom H2c: Abdominale Migräne H2d: Funktionelle gastrointestinale Schmerzen nicht näher spezifiziert G H3 Funktionelle Störungen des Stuhlgangs Gastrointestinale Schmerzen gehören in der Lebensphase der Pädiatrie zu den häufigsten Symptomen (5, 6). Die funktionellen gastrointestinalen Störungen sind charakterisiert durch die komplexe Interaktion zwischen Gastrointestinaltrakt und dem zentralen Nervensystem (ZNS). Es gibt keine pathophysiologischen Marker und
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Kasten 1:
Somatische Belastungsstörung und verwandte Störungen DSM-5-Klassifikation (2)
1. Somatische Belastungsstörung: Diagnostische Kriterien F 45.1
A. Eines oder mehrere somatische Symptome, die belastend sind oder zu erheblichen Einschränkungen in der
alltäglichen Lebensführung führen.
B. Exzessive Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen bezüglich der somatischen Symptome oder damit ein-
hergehender Gesundheitssorgen, die sich in mindestens einem der folgenden Merkmale ausdrücken:
1. Unangemessene und andauernde Gedanken bezüglich der Ernsthaftigkeit der vorliegenden Symptome.
2. Anhaltende stark ausgeprägte Ängste in Bezug auf die Gesundheit oder die Symptome.
3. Exzessiver Aufwand an Zeit und Energie, die für die Symptome oder Gesundheitssorgen aufgebracht
werden.
C. Obwohl keines der einzelnen somatischen Symptome durchgängig vorhanden sein muss, ist der Zustand der
Symptombelastung persistierend (typischerweise länger als 6 Monate).
Bestimme, ob:
4. Mit überwiegendem Schmerz (früher: «Schmerzstörung»): Diese Spezifikation ist für Personen bestimmt,
bei denen die hauptsächlichen somatischen Symptome Schmerzen sind.
Bestimme, ob:
5. Andauernd: Ein chronischer Verlauf ist gekennzeichnet durch schwergradige Symptome, deutliche
Beeinträchtigungen und eine lange Dauer (länger als 6 Monate).
Bestimme den aktuellen Schweregrad:
6. Leicht: Nur eines der unter Kriterium B bezeichneten Symptome trifft zu.
7. Mittel: Zwei oder mehr der unter Kriterium B bezeichneten Symptome treffen zu.
8. Schwer: Zwei oder mehr der unter Kriterium B bezeichneten Symptome treffen zu; zusätzlich bestehen
multiple somatische Beschwerden (oder ein sehr schwer ausgeprägtes somatisches Symptom).
2. Krankheitsangststörung
F 45.21
3. Konversionsstörung (Störung mit funktionellen neurologischen Symptomen)
F 44.4-7
4. Psychologische Faktoren, die eine körperliche Krankheit beeinflussen
F 54
5. Vorgetäuschte Störung
F 68.10
6. Andere näher bezeichnete somatische Belastungsstörung und verwandte Störungen F 45.8
7. Nicht näher bezeichnete somatische Belastungsstörung und verwandte Störung
F 45.9
auch keine diagnostischen Tests dafür. Pathologische Organveränderungen werden nicht gefunden. Letztere müssen jedoch sorgfältig ausgeschlossen werden (9).
Diagnostik mit Augenmass Die Diskrepanz von Bauchbeschwerden mit akutem Handlungsbedarf, z.B. in lebensbedrohlichen Situationen und harmlosen Beschwerden, ist bezüglich Intensität und Invasivität der Diagnostik sowie konsekutiver therapeutischer Intervention gross. Somit bildet die umfassende Erstanamnese als zentrales ärztliches Tool die unabdingbare Basis. Diese soll das weitere Prozedere und unser ärztliches Tun massgebend und wegweisend bestimmen. Dazu gehören das Vorliegen von Warnsymptomen, die Lokalisation der Bauchbeschwerden, Übelkeit, Erbrechen, Häufigkeit der Beschwerden, Stuhlungewohnheiten wie Obstipation oder Diarrhö, Ernährungsgewohnheiten (übermässiger Genuss von Milchprodukten, Früchten oder Fruchtsäften, süssstoffhaltigen Getränken und Nahrungsmitteln), eine positive Familienanamnese bezüglich funktioneller Erkrankung und die psychosoziale Anamnese. Eine gut erhobene Anamnese gibt entscheidende Hinweise für das Vorliegen von sogenannten «Red Flags» (5), die im Idealfall eine weiterführende und patientengerechte Abklärung implizieren.
Nach den ersten differenzialdiagnostischen Überlegungen und Eingrenzungen gilt es in der Folge eine Vielzahl von zum Teil schwerwiegenden organischen Ursachen, die durch zielführende Untersuchungen auszuschliessen sind. Bei dieser komplexen Ausgangslage gilt es insbesondere das richtige Augenmass für die folgerichtigen diagnostischen Schritte zu bewahren, sicherlich eine der schwierigsten ärztlichen Aufgaben, um nicht aus Unsicherheit oder Angst etwas zu verpassen und eine Tirade von Überdiagnostik zu veranlassen. Gut ist der Arzt damit bedient, wenn er gleichzeitig auch die Möglichkeit von funktionellen Beschwerden in Betracht zieht und umfassend nach psychosozialen Faktoren exploriert. Dies mit dem Ziel, unnötige, psychisch und physisch belastende sowie aus gesundheitsökonomischer Sicht teure und invasive Untersuchungen zu vermeiden.
Therapiekonzept transparent kommunizieren Das gleiche Prinzip gilt auch für die Therapiemassnahmen. Dazu braucht es ein klares und transparent kommuniziertes Therapiekonzept, beginnend mit einer umfassenden Information zum Abklärungsgang und den Resultaten. Ziel ist es, ein gemeinsames Krankheitskonzept und -verständnis zu entwickeln und im Sinne der partizipatorischen Entscheidungsfindung die nächsten therapeutischen Schritte zu vereinbaren. Dies soll
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langwierige und erfolglose Therapieversuche verhindern, die meistens zu grosser Verunsicherung der Betroffenen sowie deren Umfeld führen kann und konsekutiv eine deutlich eingeschränkte Lebensqualität und Belastungsstörungen im familiären Kontext mit sich ziehen. Dies gilt insbesondere auch für die negativen Konsequenzen für die Schule, Lehre respektive Arbeitsplatz bei Adoleszenten.
Beispiel Reizdarmsyndrom Das Reizdarmsyndrom ist sicherlich das am besten untersuchte Beschwerdebild aus dem Bereich der funktionellen gastrointestinalen Störungen und die häufigste Ursache gastrointestinaler Beschwerden beim Erwachsenen. Die Prävalenz liegt bei 5 bis 15 Prozent in den westlichen Industrienationen (7). Im Kindes- und Jugendalter wird das Reizdarmsyndrom bei 22 bis 45 Prozent der Patienten mit funktionellen Bauchschmerzen diagnostiziert (5, 9). Pathophysiologisch kann es noch immer nicht umfassend erklärt werden, obwohl in den letzten Jahren deutlich mehr von diesem multifaktoriellen Geschehen verstanden wird. Die Fachwelt geht von einer viszeralen Hypersensitivität, einer abnormen gastrointestinalen Motilität, einer Dysfunktion des autonomen Nervensystems, einer Aktivierung des mukosalen Immunsystems sowie psychologischen und (epi-)genetischen Faktoren aus (8, 9). Das momentan sehr beachtete Forschungsfeld beschäftigt sich vor allem mit der komplexen Interaktion zwischen Darm und ZNS.
Abklärungsschritte Basis der Diagnostik bildet die ausführliche Anamnese (somatisch, psychologisch, sozial) und die Erfassung der entsprechenden Symptomatologie. Der weitere Abklärungsgang und die Sicherung der Diagnose eines Reizdarmsyndroms richtet sich wie oben aufgeführt in Umfang und Invasivität nach allfällig vorliegenden Red Flags. Ein mögliches, pragmatisch sinnvolles diagnostisches Vorgehen ist in Kasten 2 ersichtlich. Nach diesem Vorgehen ist ersichtlich, dass z. B. eine endoskopische Untersuchung des Magen-Darm-Trakts nicht in jedem Fall erfolgen sollte, sondern nur bei positiven Biomarkern, wie einem erhöhten Calprotectin, respektive bei Vorliegen von Warnsymptomen. Nach erfolgter Diagnostik kann das Reizdarmsyndrom gemäss der Rom-IV-Kriterien (4) für Erwachsene klassifiziert werden (Kasten 3). In dieser Tabelle sind auch die Veränderungen gegenüber den Rom-III-Kriterien aufgeführt. Die Reizdarmsymptomatik und deren Ausprägung präsentieren sich für Kinder und Adoleszente etwas unterschiedlich, daher wurden zwei verschiedene altersgerechte Rom-IV-Kriterien (3, 4) verfasst. Die Symptomatik bei Adoleszenten gleicht sich meistens derjenigen der Erwachsene an, daher verwenden wir für die Adoleszenten die Rom-IV-Kriterien (4) für Erwachsene. Das Reizdarmsyndrom wird in einem ersten Schritt nach wie vor über die klinischen Symptome definiert, entspricht aber keiner Ausschlussdiagnose, sondern ist eine klinische Diagnose gemäss den Rom-IV-Kriterien.
Entwicklung eines Therapiekonzeptes Nach erfolgter massgerechter Diagnostik und Ausschluss relevanter organischer Ursachen folgt im Ideal-
Kasten 2:
Diagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf Reizdarmsyndrom (7)
Sorgfältige Anamnese, Status und Abklärung
eher organisch ● Anamnese < 24 Monate ● (sub-)akuter Beginn ● Kontinuierliche Diarrhö eher RDS ● Rom-IV-positiv ● Intermittierende Diarrhö Labor Hämatologie, CRP, TSH, Ferritin, Transglutaminase IgA-Antikörper, IgA quant. Differenzialdiagnose ● Patient voroperiert? (Verwachsungen, bakterielle Fehlbesiedlung, Gallesalzverlustsyndrom) ● Zöliakie ● IBD, inkl. mikroskopische Kolitis ● Nahrungsmittel-/Disaccharidintoleranz Calprotectin im Stuhl Warnsymptome ● entzündliche Aktivität ● Anämie ● Alter > 50 Jahre ● Gewichtsverlust ● (okkulter) Blutverlust
> 50 µg/g
Endoskopie Bildgebung
fall eine transparente Kommunikation über die Abklärungsergebnisse. Ziel ist es, ein gemeinsames Krankheitsverständnis zur Diagnose eines Reizdarmsyndroms zu entwickeln, das idealerweise in einem gemeinsam erarbeiteten Therapiekonzept münden sollte. Die Kommunikationstechnik der partizipatorischen Entscheidungsfindung ist dafür hilfreich. Aufwändig gestaltet sich erfahrungsgemäss die Ausgestaltung eines schrittweise zu etablierenden Behandlungsprozesses. Dabei spielt der multidisziplinäre Therapieansatz die zentrale Rolle (bio-psycho-soziales Behandlungsmodell). Er umfasst bei voller Ausprägung des Krankheitsbildes eines Reizdarmsyndroms im Wesentlichen: G ein aufklärendes Gespräch zum Krankheitsbild und
Verhandlung des Therapiekonzeptes durch den Grundversorger G eine einfache Ernährungsmodifikation/spezifische diätetische Massnahmen G seine symptomorientierte medikamentöse Therapie, allenfalls in Zusammenarbeit mit den Spezialärzten G eine psychosomatische Behandlung und allenfalls weiterführende Psychotherapie G eine Einbindung komplementärer Therapieformen im Sinne der integrativen Medizin.
Vernetzungprozess Zentral ist in diesem Prozess die Vernetzung aller therapeutischen Akteure, wie Hausarzt, Gastroenterologen, Ernährungsberatung oder Psychotherapeuten. Die Drehscheibenfunktion und das Case Management obliegt meistens dem Grundversorger, der auch die entsprechende Zuweisung zu den involvierten Fachstellen veranlasst. Dies ist für die Zuweisung zum Gastroenterologen oder zur Ernährungsberaterin meistens relativ einfach, da häufig eine klare Fragestellung formuliert werden kann. Schwieriger gestaltet sich die Zuweisung zur allenfalls notwendigen Psychotherapie, da der Grundversorger umfassende Kenntnisse von diesem Fachgebiet haben muss, beispielsweise in Bezug auf die psychotherapeutischen Verfahren, die individuellen Bedürfnisse respektive Neigungen des Patienten. Beim
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Kasten 3:
Rome IV-Kriterien für Reizdarmsyndrom beim Erwachsenen (4) (Änderungen gegenüber Rome III)
Wiederholte Bauchschmerzen (Unwohlsein gestrichen) assoziiert mit ≥ 2 der folgenden Kriterien: 1. Zusammenhang mit der (statt Erleichterung durch) Stuhlentleerung 2. Änderung der Stuhlfrequenz 3. Änderung der Stuhlkonsistenz
Zeitkriterien: ● ≥ 1 Tag/Woche (statt ≥ 3 Tag/Monat) ● In den letzten 3 Monaten ● Beginn vor ≥ 6 Monaten
Reizdarmsyndrom: Nebenkriterien, welche die Diagnose unterstützen, aber für sich keine Diagnose erlauben, sind: ● abnorme Stuhlhäufigkeit (z.B. mehr als drei Stühle pro Tag oder weniger als drei
Stühle pro Woche) ● abnorme Stuhlkonsistenz ● abnormes Absetzen von Stuhl (z.B. starkes Pressen, imperativer Stuhldrang, Ge-
fühl der unvollständigen Entleerung) ● schleimiger Stuhl ● Blähungen und Gefühl des Aufgeblähtseins
Reizdarmsyndrom werden vor allem die kognitive Verhaltenstherapie, verschiedene Entspannungsverfahren, die Hypnose-, die psychodynamisch orientierte Therapieform oder die familienbasierte Therapie praktiziert. Eine psychotherapeutische Behandlung bei Reizdarmsyndrom ist dann indiziert, wenn die psychischen und sozialen Belastungssituationen zunehmen und das Krankheitsbild dominieren. Der Übergang der Entität «Reizdarmsyndrom» als funktionelle gastroenterologische Störung hin zu einer somatischen Belastungsstörung gemäss DSM-5 ist fliessend. Das alleinige Vorhandensein der Rom-IV-Kriterien für das Reizdarmsyndrom (4) (siehe Tabelle 5) erfüllt per se nicht die Kriterien für eine somatische Belastungsstörung. Wenn aber gleichzeitig die B-Kriterien der somatischen Belastungsstörung vorliegen, kann das Reizdarmsyndrom einer somatischen Belastungsstörung zugeordnet werden. Die B-Kriterien umfassen exzessive Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen, welche die somatischen Symptome des Reizdarmsyndroms überlagern. Die Gedanken sind un-
Merkpunkte:
● Die Umdeutung somatischer Störungen in ein rein psychiatrisches Krankheitsbild geht an der klinischen Realität vorbei.
● Ziel ist ein gemeinsames Krankheitskonzept und ein Krankheitsverständnis von Arzt und Patient, um langwierige und erfolglose Therapieversuche zu vermeiden.
● Die Vernetzung aller therapeutischen Akteure wie Hausarzt, Gastroenterologe, Ernährungsberater oder Psychotherapeut ist sehr wichtig.
● Auch während einer Psychotherapie muss die somatische Behandlung weitergehen.
angemessen und andauernd. Dazu bestehen ausgeprägte Ängste und ein exzessiver Aufwand an Zeit und Energie für die Symptome oder die Gesundheitssorgen (2). Daraus ist ersichtlich, dass in dieser Situation psychotherapeutische Massnahmen unabdingbar sind.
Einbezug der Eltern Bei Adoleszenten stellt sich die Frage, inwieweit das soziale Umfeld in den Therapieprozess einbezogen werden muss. Denn bei einer somatischen Belastungsstörung ist im therapeutischen Prozess der systemische Ansatz mit Einbezug der Familie und allenfalls des erweiterten sozialen Umfelds unseres Erachtens von zentraler Bedeutung. Dabei kann idealerweise die Anwendung einer familienbasierten Psychotherapie wichtige Unterstützung bieten. Dies betrifft insbesondere Adoleszente, die noch zu Hause leben. Aspekte der systemischen Betreuung müssen dann trotz zunehmender Selbstständigkeit und Ablösung Berücksichtigung finden. Bei Adoleszenten, die schon eine hohe Selbstständigkeit erreicht haben oder sogar extern wohnen, gleicht sich die Vorgehensweise jene der Erwachsenen an. Trotzdem ist es aber häufig notwendig, auch hier situationsadaptiert Angehörige oder weitere Bezugspersonen aus dem sozialen Nahraum von Adoleszenten mit in die Betreuung einzubeziehen.
Zusammenfassung
Die neue Klassifikation gemäss DSM-5 der somatischen
Belastungsstörung und verwandter Störungen ist nütz-
lich und hilfreich für die differenzialdiagnostischen
Überlegungen im klinischen Alltag und die entspre-
chende Zuordnung.
Eine strukturierte Vorgehensweise sollte zur Diagnose
und Klassifizierung des Störungsbildes führen. Dafür
bedarf es einer umfassenden Primäranamnese, dem
Erkennen der Red Flags, weiterführender differenzial-
diagnostischer Überlegungen und zielführender Unter-
suchungen zum Ausschluss einer organisch bedingten
Ursache.
Nach erfolgter Aufklärung und Information zum Krank-
heitsbild erfolgt in einem nächsten Schritt die Anwen-
dung eines multiprofessionellen Therapieprogramms
(bio-psycho-soziales Modell), in welchem alle Akteure
vernetzt und im Idealfall durch den Grundversorger im
Langzeitverlauf koordiniert werden. Bei Vorliegen einer
somatischen Belastungsstörung wird die Behandlung
der psychiatrischen Komorbiditäten eingeleitet.
Wenn wir so handeln, ist die Wahrscheinlichkeit hoch,
dass wir eine angemessene Patientenzufriedenheit
auch des Umfeldes erreichen können. So schützen wir
uns auch vor eigener Frustration und unnötigem Stress,
wenn trotz des subjektiv gefühlten hohen Engage-
ments der Behandlungserfolg ausbleibt.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Josef Laimbacher
Chefarzt Jugendmedizin
Ostschweizer Kinderspital St. Gallen
FMH für Pädiatrie
FA Psychosomatische und psychosoziale Medizin SAPPM
E-Mail: josef.laimbacher@kispisg.ch
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Literatur: 1. Langewitz W: Funktionelle Störungen – somatoforme Störungen. In:
Adler HR et al. (Hrsg.) Psychosomatische Medizin. München: Urban und Fischer Verlag, 2011, 739–774. 2. Winfried R et al.: Somatische Belastungsstörung und verwandte Störungen in Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5; Hogrefe ; 2015, 421–447. 3. Hyams JS, Di Lorenzo C et al.: Childhood Functional Gastrointestinal Disorder Child/Adolescent. Gastroenterology 2016;150: 1456–1468. 4. Lacy BE et al.: Rome IV – Functional GI Disorders: Disorders of GutBrain Interaction. Gastroenterology 2016; 150:1257–1261. 5. Bufler P et al.: Chronische Bauchbeschwerden bei Kindern und Jugendlichen. Deutsches Ärzteblatt 2011, Jg.108, Heft 17: 295–304. 6. Du Y et al.: Pain perceived in a national community sample of German children and adolescents. European Journal of Pain, 2010, 15(6): 649–657. 7. Schaub N et al.: Reizdarmsyndrom: Einblicke und Ausblicke 2012. Schweiz Med Forum, 2012, 12(25) 505–513. 8. Kellow JE et al.: Applied principles of neurogastroenterology: physiology/motility sensation. Gastroenterology 2006, 130(5): 1412– 1420. 9. Keller K M et al.: Funktionelle Störungen des Darms bei Kindern und Jugendlichen, In Springer Nature, Hoffmann G et al. (Hrsg.) Pädiatrie 2019. https://doi.org/10.1007/978/-3-642-54671-6_156-2
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