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Selbstregulation und Neurobiologie in der Adoleszenz
FORTBILDUNG
Die moderne Neurowissenschaft assoziiert menschliches Verhalten, Emotionen und Gedanken mit neurobiologischen Prozessen des Gehirns. Indem wir diese Verknüpfungen genauer kennenlernen, sind die Regulationsprobleme bei Jugendlichen und auch psychopathologische Entwicklungen in diesem vulnerablen Alter besser zu verstehen.
Kerstin Jessica von Plessen
von Kerstin Jessica von Plessen
Z entrale Prozesse der Selbstregulation entstehen durch eine komplexe Wechselwirkung zwischen Beziehungen, Erfahrungen und Handlungen des Individuums mit seinen biologischen und genetischen Eigenschaften. Ein erweitertes Verständnis der biologischen Grundlagen, kann dazu beitragen, typische Verhaltensmerkmale in verschiedenen Altersstufen besser zu erkennen, und damit können wir unsere Behandlungsansätze durch Verstärkung der Synergien optimieren. Die Fähigkeit von Kindern und Jugendlichen, eigene Impulse und Emotionen zu regulieren, sind unerlässlich für die Entwicklung einer guten psychischen Gesundheit. Umgekehrt kann das Fehlen dieser Fähigkeit zum Entstehen psychischer Krankheiten prädisponieren. Interessanterweise manifestiert sich ein Grossteil der schweren psychischen Erkrankungen in der Adoleszenz, während der sich das menschliche Gehirn in seine erwachsene Form umorganisiert.
Selbstregulation Probleme der Selbstregulation begleiten diverse psychische Erkrankungen in mehr oder weniger ausgeprägter Form und Intensität und beeinflussen unterschiedliche Gebiete des Denkens, des Verhaltens und der Gefühlswelt. Das manifestiert sich in erster Linie bei Jugendlichen mit psychischen Störungen, wie dem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), und einem gestörten Sozialverhalten, aber auch bei Angststörungen, Störungen des Essverhaltens oder Zwangsstörungen sowie Abhängigkeitsproblematiken oder affektiven Erkrankungen (1). Verstärkte Aufmerksamkeit auf diese transdiagnostischen Dimensionen und die damit verbundenen Probleme kann sich positiv auf die Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychia-
trie auswirken. Insbesondere liessen sich Therapieprogramme und Präventivmassnahmen zur Förderung der Selbstregulation vor allem auch der emotionalen Regulation entwickeln. Verschiedene Therapieformen zielen bereits darauf ab, die Fähigkeit der Selbstregulation bei Kindern und Jugendlichen zu stärken, wie beispielsweise die psychodynamische Psychotherapie oder kognitive Therapieansätze. Auf längere Sicht wäre es ebenfalls relevant, die Entwicklung von Therapieprogrammen voranzubringen, die noch direkter auf die neurobiologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen fokussieren. Ansätze zu derartigen Interventionsprogrammen werden sowohl bereits beim Neurofeedback als auch bei der kognitiven Remediation umgesetzt, bedürfen allerdings noch weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen.
Das emotionale Netzwerk Das emotionale Netzwerk (Amygdala, Hippocampus, ventrales Striatum [auch Fundus-Striatum]), der ventrale Anteil des anterioren cingulären Cortex (ACC), der ventromediale präfrontale Cortex und der orbitofrontale Cortex verarbeiten emotionale Reize und zeigen eine Aktivierung bei emotionalen Reaktionen und auch bei Erwartungen an negative oder positive Begebenheiten – also Bestrafung und Belohnung (2). Dieses Netzwerk ist verbunden mit Annäherungs- oder belohnungssuchendem Verhalten (3) und ist von zentraler Bedeutung für die soziale Kommunikation und das Lernen in der Adoleszenz (4).
Das kognitive Netzwerk Das kognitive Netzwerk umfasst dorsal frontale Regionen, wie den dorsalen Anteil des ACC und den dorsolateralen präfrontalen Cortex, ebenso ist das dorsale Striatum von wesentlicher Bedeutung für die Regulierung von Verhalten und Gefühlen (5, 6). Diese Gehirn-
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regionen tragen dazu bei, unangemessenes Verhalten zu kontrollieren und automatisches Verhalten zu festigen und führen zu rationaler und flexibler Entscheidungsfindung. Die Fähigkeit, mit einer Gewohnheit zu brechen und etwas Unbekanntes zu versuchen, hängt ebenfalls von diesem Netzwerk ab. Auch sozial angemessene Verhaltensweisen werden mit diesem Netzwerk in Verbindung gebracht (7).
Neuronale Verknüpfungen zwischen den Netzwerken Reife Selbstregulation kann nur erreicht werden, wenn Schlüsselbereiche des Gehirns voll entwickelt und koordiniert sind (8). Der präfrontale Cortex, bestehend aus ACC, orbitopräfrontalem (9), ventromedialem und dorsolateralem präfrontalem Cortex, spielt dabei eine zentrale Rolle. Diese Gehirnregionen regulieren primäre emotionale Reaktionen der limbischen Regionen, insbesondere der Amygdala, aber auch Impulse kognitiver und motorischer Art aus dem Striatum. Der ACC umfasst verschiedene Funktionsbereiche, und die Verarbeitung, und vor allem die Verknüpfung emotionaler und kognitiver Informationen sind von grundlegender Bedeutung für die Aufmerksamkeitskontrolle (10). Der ACC hat enge Verbindungen zum dorsolateralen präfrontalen, parietalen und motorischen Cortex (dorsaler Bereich des ACC) und teilt gleichzeitig strukturelle und funktionelle Verbindungen mit orbitofrontalem Cortex, Amygdala und Hippocampus (ventraler Bereich des ACC). Diese Region kann somit zwischen den emotionalen und kognitiven Netzwerken des Gehirns koordinieren.
Reifung der Selbstregulation Die Funktionen des emotionalen und des kognitiven Netzwerks reifen, während das Gehirn erhebliche strukturelle Veränderungen in der Kindheit und Jugend erfährt. Die Wechselwirkung von Umwelteinflüssen und biologischen Faktoren, insbesondere auch genetisch determinierte, ist grundlegend für diese Entwicklung. Obwohl die Gehirnentwicklung ein äusserst individueller Prozess ist, folgt sie doch auch einem allgemein gültigen Entwicklungsschema: Die Reifung der grauen Substanz des Gehirns (hauptsächlich bestehend aus Neuronen) folgt einem umgekehrt u-förmigen Entwicklungsverlauf während der Kindheit und Jugend. Dieser Verlauf ist zunächst gekennzeichnet durch Wachstum, dann aber durch einen aktivitätsabhängigen Verlust an Masse durch die Elimination der überschüssigen Synapsen, jener, die nicht aktiv in Gebrauch genommen werden, während der Pubertät (11–13). Die weisse Substanz hingegen (hauptsächlich Myelin) zeigt eine lineare Zunahme des Durchmessers in Kindheit und Jugend. Diese Informationen ergaben sich aus longitudinalen Studien, bei denen mithilfe von MRT-(Magnetresonanztomografie-)Untersuchungen die kortikalen Durchmesser der grauen und weissen Substanz über lange Entwicklungszeiträume hindurch an Kindern und Jugendlichen gemessen wurden.
Umorganisierung während der Adoleszenz Die zunehmende Myelinisierung trägt zu einer schnelleren neuronalen Impulsübertragung bei, bewirkt gleichzeitig aber auch indirekt eine Reduktion des
Cortexdurchmessers. Die graue Substanz wird mit fortschreitender Myelinisierung in den Gehirnregionen, die häufig beansprucht und aktiviert werden, schneller reduziert (11). Die Geschwindigkeit, mit der sich die weisse Substanz entwickelt, hängt vom Alter und von Umwelteinflüssen ab. Die Myelinisierung führt zu einer effizienteren und feiner abgestimmten Informationsverarbeitung und bildet damit die Basis für eine erhöhte Konnektivität des Gehirns (14). Studien, die diese Konnektivität mithilfe von funktionalen oder DiffusionsTensor-MRT- oder EEG- (Elektroenzephalogramm-)Kohärenzstudien untersuchen, bestätigen, dass sich die Interaktion zwischen den einzelnen Gehirnregionen sowie die Bildung verschiedener Netzwerke im Takt mit emotionaler und kognitiver Entwicklung ausbildet (15).
Diskontinuierliche Entwicklung Das Verhalten von Jugendlichen kann zuweilen unreifer, impulsiver und unreflektierter als das präpubertärer Kinder wirken. Diese Diskontinuation im Verhalten und in der Gefühlswelt kann in Verbindung gesetzt werden zu einer Inkongruenz des Reifegrades der zentralen Netzwerke des Gehirns. Teile des emotionalen Netzwerks im menschlichen Gehirn reifen im Vergleich deutlich früher als das kognitive Kontrollnetzwerk, mit der zentralen Rolle des frontalen Cortex (16, 17). Das könnte erklären, weshalb das Erlernen der Emotionsregulation einen eher diskontinuierlichen Prozess in der Entwicklung darstellt. Funktionelle MRT-Studien zeigen, dass Jugendliche, die eine Belohnung erwarten, den Nucleus accumbens im Striatum in höherem Masse aktivieren als Kinder in derselben Situation (18). Gleichzeitig erfolgt die Aktivierung im orbitofrontalen Cortex bei Jugendlichen diffuser als bei Erwachsenen (19). Diese Tatsache kann erklären, warum Jugendliche oft in der Lage sind, in emotional neutralen Situationen, vernünftige Entscheidungen zu treffen, während sie in emotional aufgeladenen Situationen grosse Probleme damit haben (6, 20). Schliesslich ist dieses Ungleichgewicht bezüglich der Reifung verschiedener Teile des Gehirns bedeutsam, um die Risikobereitschaft und die Impulsivität im Verhalten junger Menschen zu verstehen. Die Bereitschaft, sich in ungewohntes Terrain zu wagen, ist wichtig, um Autonomie zu erlangen, und von grosser Bedeutung in Kulturen, in denen Jugendliche früh die gewohnte und beschützte Umgebung verlassen, um sich in jungem Alter selbstständig zu machen. Die Nachteile der beschleunigten Autonomieentwicklung können allerdings auch in verstärktem Risikoverhalten von Jugendlichen gesehen werden, die heute lange in der beschützenden Umgebung der Familie leben und häufig (zu) wenig natürlichen Herausforderungen begegnen (5).
Schlussfolgerung Die Adoleszenz ist eine kritische Phase der Gehirnentwicklung, während deren komplexe Prozesse die Reifung des Gehirns beeinflussen: das komplexe Zusammenspiel zwischen Reifung von weisser und grauer Substanz sowie der dynamischen Balance zwischen emotionalen und kognitiven Netzwerken. Erkenntnisse über die Entwicklung des Gehirns könnten in der Zukunft in grösserem Umfang die Basis für die Entwicklung evidenzbasierter Therapiemethoden bei Kindern
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und Jugendlichen bieten. Klinische Forschung sollte
vermehrt darauf abzielen, experimentelle Methoden zu
entwickeln, die neurowissenschaftliche Grundlagen
(beispielsweise mit funktionalen MRT oder EEG) mit der
Registrierung momentaner Anpassungen des Verhal-
tens oder der affektiven Situation, sogenannte EMA
(ecological momentary assessment), kombinieren und
die damit eine höhere ökologische Validität haben.
Längsschnittstudien von Kohorten, mit oder ohne In-
terventionen über lange Zeiträume hinweg, sind beson-
ders wichtig, um die Charakteristika einer vulnerablen
Population frühzeitig zu erkennen und um in einem
nächsten Schritt präventiv tätig zu werden.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Kerstin Jessica von Plessen
Klinik für Kinder-und Jugendpsychaitrie
Universitätsspital Lausanne, CHUV
Avenue d’Echallens 9
Lausanne 1004
E-Mail: kerstin.plessen@chuv.ch
Merkpunkte:
● Die Fähigkeit von Kindern und Jugendlichen, die eigenen Impulse und Emotionen zu regulieren, sind unerlässlich für die Entwicklung einer guten psychischen Gesundheit.
● Die Adoleszenz ist eine kritische Phase der Gehirnentwicklung, während derer sich das menschliche Gehirn auf dem Weg in seine erwachsene Form umorganisiert.
● Erkenntnisse über die Entwicklung des Gehirns könnten in der Zukunft in grösserem Umfang die Basis für die Entwicklung evidenzbasierter Therapiemethoden bei Kindern und Jugendlichen bieten.
Literatur:
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