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FORTBILDUNG
MR-Neurografie bei Neurofibromatose Typ 2 und Schwannomatose – State Of The Art
Neurofibromatosen sind zu den Phakomatosen zählende hereditäre Tumorsyndrome, welche unter anderem durch das Auftreten von peripheren Nervenscheidentumoren gekennzeichnet sind. Während sich die Neurofibromatose Typ 1 als häufigste Unterform in der Regel sicher diagnostizieren lässt, kann sich die klinische Differenzierung der selteneren Neurofibromatose Typ 2 von der Schwannomatose mitunter schwierig gestalten, insbesondere wenn eine genetische Diagnostik nicht verfügbar ist oder bilaterale Schwannome des 8. Hirnnervs zum Zeitpunkt der Diagnose noch nicht vorliegen. Grund für die pathomorphologische Überlappung ist ein recht einheitliches histopathologisches und bildmorphologisches Erscheinungsbild beider Entitäten mit dem Schwannom als prädominante periphere Tumormanifestation. Die MR-Neurografie kann als moderne bildgebende Methode zur Darstellung des peripheren Nervensystems nützliche Zusatzinformationen, insbesondere in Hinblick auf Diagnostik, Lokalisation und Therapieplanung, liefern.
Tim Godel Martin Bendszus
von Tim Godel1, Martin Bendszus1
Einführung
D ie Neurofibromatose Typ 2 (NF2) und die Schwannomatose gehören mit einer Inzidenz von 1 zu 33 000 bzw. 1 zu 60 000 Geburten, im Vergleich zu der Neurofibromatose Typ 1 (NF1) mit einer Inzidenz von 1 zu 3000 Geburten, zu den seltenen hereditären Tumorsyndromen. In der diagnostischen Abklärung der Neurofibromatosen steht an erster Stelle die Anamneseerhebung, darauf folgen die Inspektion und die klinisch-neurologische Untersuchung sowie die elektrophysiologische Diagnostik. Die Kombination dieser klinisch-neurologischen Standard-Untersuchungsmethoden erlaubt in der Mehrzahl der Fälle eine korrekte Zuordnung und hat sich seit vielen Jahren als Goldstandard in der Diagnostik gut bewährt. Allerdings kann sich die klinische Differenzierung der selteneren NF2 und der Schwannomatose mitunter schwierig gestalten, insbesondere wenn die klinischen Diagnosekriterien der NF2 nur teilweise erfüllt sind. In diesen Fällen kann, falls verfügbar, eine genetische Untersuchung die Diagnose absichern. Darüber hinaus steht mit der MRNeurografie (MRN) eine moderne bildgebende MRT-Methode zur Verfügung, welche bezüglich Diagnostik, Lokalisation, Tumorlast und Therapieplanung wertvolle Zusatzinformationen liefern kann (1–4).
Hochauflösende MRT-Bildgebung Sowohl die MRN als auch die Nervensonografie liefern ergänzend zur klinisch-neurologischen Untersuchung hochauflösende, visuelle Informationen, wodurch eine
1 Abteilung für Neuroradiologie, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
unmittelbare Aussage über die Lokalisation und das Verteilungsmuster einer Nervenschädigung sowie der denervierten Muskulatur getroffen werden kann (1–6). Auch lassen sich Nebenbefunde wie z. B. eine Infiltration einer tumorösen Raumforderung in Nachbarkompartimente mithilfe der MRT vollständig erfassen. In der MRN werden zwischenzeitlich nahezu ausschliesslich 3-Tesla-Tomografen verwendet, welche eine hohe strukturelle Auflösung bei auch in der klinischen Routine gut realisierbaren Untersuchungszeiten erlauben. Hauptvorteile der MRN gegenüber dem Ultraschall sind die Darstellungsmöglichkeit von auch tief gelegenen oder anatomisch komplex angelegten Nervenstrukturen (wie z. B. des Plexus inklusive der sensiblen Ganglien), das überaus sensitive und kontrastreiche Kriterium der T2-Signalsteigerung einzelner oder aller Nervenfaszikel (4, 7, 8) sowie der Nachweis von denervierter Muskulatur, auch in frühen Stadien. Hauptnachteil der MRN ist die geringe Verfügbarkeit in nur wenigen neuromuskulären Zentren, die Kosten, die mit einer MRTUntersuchung verbunden sind, eine gegenüber dem Ultraschall erniedrigte Ortsauflösung sowie die eingeschränkte Bildgebung durch Artefakte im Bereich von Metallimplantaten. Im klinischen Routinebetrieb dient als Standardsequenz eine fettgesättigte zweidimensionale T2-Turbo-SpinEcho-Sequenz, die einen optimalen Nervenkontrast und eine hohe In-plane-Auflösung (zwischen 100 × 100 und 300 × 300 µm) bietet. Als Hauptkriterium dient, neben dem Nerven- und Faszikelkaliber, insbesondere das faszikuläre T2-Signal, welches sich als sehr sensitiver Marker verschiedener Neuropathien unterschiedlichster Genese etabliert hat (7, 9, 10). Darüber hinaus lässt sich bei beiden bildgebenden Untersuchungsmethoden durch die langstreckige Darstellung eines peripheren Nervs ein Läsionsmuster erstellen. Dieses Muster erlaubt
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Copyright: Tim Godel
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die Differenzierung eines singulären, monofokalen Befundes, welcher eventuell reseziert werden kann, von multifokalen, polyneuropathischen Nervenschädigungen, welche sich in der Regel einer chirurgischen Therapie entziehen (1). Darüber hinaus lassen sich durch neue funktionelle Techniken wie die Diffusions-Tensor-Bildgebung oder die Perfusionsbildgebung auch quantitative Aussagen über die mikrostrukturelle Beschaffenheit des Nervs sowie dessen Durchblutungseigenschaften treffen (8, 11–13). Zusammengefasst kann die Bildgebung zusätzlich zu den bereits erhobenen klinisch-neurologischen Befunden folgende diagnostische Informationen sinnvoll ergänzen (9, 10): G sensitive und spezifische Detektion von Nervenlä-
sionen sowie eine direkte, exakte und ortsgenaue Lokalisation und Ausdehnung des Befundes G Bestimmung des Läsionsmusters, z. B. fokal (Schwannom, Neurofibrom) vs. multifokal (Mikroläsionen, multiple Tumoren, plexiformes Muster) G gegebenenfalls Visualisierung der Ursache einer Nervenläsion und damit ätiologische Aufklärung der Grunderkrankung G quantitative Aussage bezüglich struktureller Integrität und Durchblutung des peripheren Nervensegmentes G Darstellung der denervierten Muskulatur mit der Möglichkeit zur Erfassung von Denervationsmustern, die Rückschlüsse auf die geschädigten Nerven zulassen.
Das Schwanom – solitär oder Tumorsyndrom? Das Schwannom (Synonym: Neurinom) ist ein meist solider und langsam wachsender, solitärer Tumor, welcher sporadisch oder im Rahmen von hereditären Tumorsyndromen wie der NF2 oder der Schwannomatose auftritt. Das Schwannom entsteht aus Schwann-Zellen der Nervenscheide und wird im Gegensatz zum Neurofibrom vollständig von Bindegewebe umhüllt. Klinisch manifestiert sich das Schwannom in der Regel als schmerzlose Schwellung, oftmals begleitet von sensomotorischen Symptomen. In der MRN zeigt das Schwannom ein stark T2w-hyperintenses, spindelförmiges, exzentrisches Er-
Abbildung: T2-gewichtete Übersichtsdarstellung des Plexus lumbosacralis einschliesslich der Spinalganglien L2 bis L5 eines gesunden Probanden (A) sowie eines 11-jährigen Patienten mit NF2 (B). Neben dem für NF2 charakteristischen Vestibularisschwannom entwickeln NF2-Patienten bereits früh im Verlauf der Erkrankung eine zum Teil ausgeprägte Schwellung der sensiblen spinalen Ganglien , was als zusätzlicher diagnostischer Marker herangezogen werden kann.
scheinungsbild mit einer diffusen Kontrastmittelaufnahme. Eine maligne Entartung des Schwannoms ist sehr selten. Bei entsprechender Grösse und einer damit verbundenen Kompression von Nachbarstrukturen können allerdings Symptome auftreten, die eine chirurgische Behandlung erfordern. Rezidive treten nur selten auf.
Bildgebung der NF2 und der Schwannomatose Das Schwannom ist der prädominante Tumor sowohl der NF2 als auch der Schwannomatose und lässt sich im Gegensatz zum Neurofibrom der NF1 weder histopathologisch noch bildmorphologisch einer der beiden
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Erkrankungen zuordnen. Somit entsteht eine bedeutsame pathomorphologische Überlappung beider Entitäten, obwohl sich der genetische Hintergrund und die klinische Symptomatik deutlich voneinander unterscheiden. Während die NF2-Neuropathie vor allem durch ein sensomotorisches Defizit sowie eine Areflexie gekennzeichnet ist, ist das prädominante Symptom der Schwannomatose ein schweres, chronisches, distal betontes Schmerzsyndrom. Zunächst ging man davon aus, dass neuropathische Symptome im Rahmen beider Erkrankungen durch die Kompression eines Nervs durch ein Schwannom verursacht werden. Neuere Studien zeigen allerdings, dass kleinste, intrafaszikulär gelegene Mikroläsionen, welche histologisch auch als «Tumorlets» beschrieben wurden, das pathomorphologische Korrelat der NF2-Neuropathie darstellen (1, 14). Mithilfe der hochauflösenden MRN konnte erstmals nachgewiesen werden, dass der klinische und elektrophysiologische Schweregrad der NF2-Neuropathie hierbei sehr eng mit der Anzahl dieser kleinsten Nervenläsionen korreliert (1). Allerdings treten diese Mikroläsionen sowohl bei der NF2 als auch bei der Schwannomatose in identischer Anzahl und Ausprägung auf und lassen sich weder bildmorphologisch noch histopathologisch voneinander differenzieren. Dadurch ergab sich jüngst die Hypothese, das die unterschiedliche klinische Symptomatik der NF2 und der Schwannomatose möglicherweise auf polyneuropathischen Veränderungen auf Plexusebene beruht, wodurch das Spinalganglion als proximales Nervensegment ins Zentrum der Aufmehrksamkeit geriet (4). Dabei handelt es sich um eine Ansammlung von Nervenzellkörpern pseudounipolarer Neurone, welche sensible Informationen aus der Peripherie empfangen und in das zentrale Nervensystem weiterleiten. Durch die MRN konnte erstmals am Menschen gezeigt werden, dass diese Zellen bei der NF2, nicht aber bei der Schwannomatose deutlich hypertrophiert und geschwollen sind und dass das eine mögliche Ursache einer Areflexie im Rahmen der NF2-Neuropathie darstellt (Abbildung). Im NF2-Tiermodell wurden diese Veränderungen ebenfalls beschrieben und hypertrophierte Schwann-Zellen, welche um die sensilen Neurone liegen, als pathomorphologisches Korrelat identifziert (15).
Merkpunkte:
● Mithilfe der hochauflösenden MR-Neurografie können Nervenschädigungen punktgenau lokalisiert werden und zwischen prinzipiell fokal-operablen und nicht operablen, multifokal-polyneuropathischen Befunden differenziert werden.
● Während Schwannome und intraneurale Mikroläsionen sowohl bei der NF2 als auch bei der Schwannomatose auftreten, können anhand der Spinalganglienmorphologie beide Tumorentitäten sicher voneinander abgegrenzt werden.
● Sowohl Spinalganglienhypertrophien als auch Mirkoläsionen entstehen bereits früh im Verlauf der NF2 und stellen potenziell nützliche diagnostische Marker dar, insbesondere in unklaren Fällen oder falls eine genetrische Diagnostik nicht zur Verfügung steht.
Eine weitere MRN-Studie konnte zeigen, dass diese
Schwellungen bereits früh im Kindesalter auftreten und
einen potenziellen diagnostischen Marker darstellen,
anhand dessen beide Tumorsyndrome mit einer hohen
Sicherheit voneinander differenziert werden können (3).
Neben ausgeprägten Schwellungen der Spinalganglien
konnten aber auch intrafaszikuläre Mikroläsionen bei
Kindern und Jugendlichen mit NF2 bereits früh nach-
gewiesen werden, wobei der Schweregrad von Verän-
derungen des Spinalganglions und des peripheren
Nervs eng miteinanter korrelieren.
Zukünftige Studien befassen sich nun insbesondere mit
der Frage, ob diese Schwellungen bereits vor dem für
NF2 charakteristischen Vestibularisschwannom auftre-
ten und wie sich sowohl diese als auch Mikroläsionen
im zeitlichen Verlauf entwickeln.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Dr. med. univ. Tim Godel
Abteilung für Neuroradiologie
Universitätsklinikum Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 400
D-69120 Heidelberg
E-Mail: tim.godel@med.uni-heidelberg.de
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt: Dr. med. Dr. med. univ. Tim Godel und Prof. Dr. med. Martin Bendszus geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Alle im vorliegenden Manuskript beschriebenen Untersuchungen am Menschen wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäss der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt.
Bilder: Tim Godel
Literatur:
1. Baumer P et al.: Accumulation of non-compressive fascicular lesions underlies NF2 polyneuropathy. J Neurol, 2013. 260 (1): p. 38–46.
2. Farschtschi S et al.: Multifocal nerve lesions and LZTR1 germline mutations in segmental schwannomatosis. Ann Neurol, 2016. 80(4): p. 625–628.
3. Godel T et al.: Peripheral nervous system alterations in infant and adult neurofibromatosis type 2. Neurology, 2019. 93(6): p. e590–e598.
4. Godel T et al.: Dorsal root ganglia volume differentiates schwannomatosis and neurofibromatosis 2. Ann Neurol, 2018. 83(4): p. 854– 857.
5. Telleman JA et al.: Nerve ultrasound shows subclinical peripheral nerve involvement in neurofibromatosis type 2. Muscle Nerve, 2018. 57(2): p. 312–316.
6. Winter N et al.: Ultrasound assessment of peripheral nerve pathology in neurofibromatosis type 1 and 2. Clin Neurophysiol, 2017. 128(5): p. 702–706.
7. Baumer P et al.: Ulnar neuropathy at the elbow: MR neurography – nerve T2 signal increase and caliber. Radiology, 2011. 260(1): p. 199– 206.
8. Godel T et al.: Human dorsal root ganglion in vivo morphometry and perfusion in Fabry painful neuropathy. Neurology, 2017 Sep 19. 89(12): 1274–1282.
9. Pham M: [MR neurography for lesion localization in the peripheral nervous system. Why, when and how?. Nervenarzt, 2014. 85(2): p. 221–235; quiz 236–237.
10. Bendszus M, Stoll G: Technology insight: visualizing peripheral nerve injury using MRI. Nat Clin Pract Neurol, 2005. 1(1): p. 45–53.
11. Godel T et al.: Human dorsal-root-ganglion perfusion measured invivo by MRI. Neuroimage, 2016. 141: p. 81–87.
12. Baumer P et al.: Peripheral neuropathy: detection with diffusion-tensor imaging. Radiology, 2014. 273(1): p. 185–193.
13. Godel T et al.: Diffusion tensor imaging in anterior interosseous nerve syndrome – functional MR Neurography on a fascicular level. Neuroimage Clin, 2019. 21: p. 101659.
14. Sperfeld AD et al.: Occurrence and characterization of peripheral nerve involvement in neurofibromatosis type 2. Brain, 2002. 125(Pt 5): p. 996–1004.
15. Gehlhausen JR et al.: A murine model of neurofibromatosis type 2 that accurately phenocopies human schwannoma formation. Hum Mol Genet, 2015. 24(1): p. 1–8.
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