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SYMPOSIUM
MS State-of-the-Art-Symposium 2019:
«Noch sind längst nicht alle Herausforderungen gemeistert»
Das Wissen zur Pathogenese der Multiplen Sklerose (MS) sowie das Angebot an Therapien haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Doch es gilt weiterhin, verschiedene Herausforderungen zu meistern, sei dies die zunehmende Zahl an älteren MS-Patienten oder seien es die Risiken, die mit einer jahrelangen Behandlung einhergehen. Das diesjährige State-of-the-Art-Symposium der Schweizerischen Multiple-Sklerose-Gesellschaft befasste sich mit dem Thema Herausforderungen sowohl im Bereich der Forschung als auch der Therapie.
W ie Prof. Dr. med. Bernhard Hemmer, München (D), erläuterte, seien in den vergangenen Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht worden, verschiedene, mit einem MS-Risiko einhergehende genetische Faktoren zu identifizieren. Die aktuelle Herausforderung bestehe nun unter anderem darin, zu verstehen, wie genetische Faktoren die Krankheitsprogression beeinflussten.
Immer mehr ältere Patienten Ebenfalls eine Herausforderung stellen ältere MS-Patienten dar. Zu diesem Thema sprach in Luzern Prof. Dr. med. Melinda Magyari aus Kopenhagen (DK). Verschiedene Studien zeigen, dass die Inzidenz und die Prävalenz einer MS in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit zugenommen haben –insbesondere bei Frauen (1, 2). Daten, die über sechs Dekaden in Dänemark gesammelt wurden, machten deutlich, dass vor allem die Inzidenz einer MS bei Personen ab einem Alter von 50 Jahren zugenommen hat (3). Untersuchungen ergaben, dass in einer Kohorte älterer Patienten (≥ 60 Jahre) zum Zeitpunkt der Diagnose 8 Prozent ein klinisch isoliertes Syndrom (CIS) aufwiesen (4). Im Weiteren litten 33 Prozent an einer schubförmig verlaufenden MS (RRMS), 23 Prozent an einer sekundär progredienten und 32 Prozent an einer primär progredienten Erkrankung. Bei 46 Prozent der Patienten mit CIS und RRMS liessen sich Gadolinium-anreichernde Läsionen als Zeichen einer aktiven Entzündung nachweisen.
Höheres Alter bedeutet schlechtere Prognose Mittlerweile ist belegt, dass Patienten mit einem Erkrankungsbeginn im Alter von über 50 Jahren eine schlechtere Prognose aufweisen (5). Trojano et al. fanden bei Patienten im Alter von 36 bis 50 und von 51 bis 65 Jahren eine signifikant kürzere mediane Zeit bis zum Errei-
chen eines EDSS-Scores (Expanded Disability Status Scale) von 4,0 beziehungsweise 6,0 im Vergleich zu den 20- bis 35-Jährigen (6). «Daneben weisen ältere Patienten oft eine Vielzahl an Komorbiditäten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Atemwegs- oder auch Tumorerkrankungen auf», gab Prof. Magyari zu bedenken. Damit sei das Management dieser Patienten, nicht zuletzt auch aufgrund einer Polypharmazie, eine grosse Herausforderung. Erschwerend komme hinzu, so die Expertin weiter, dass in die randomisierten, kontrollierten Studien zu den existierenden krankheitsmodifizierenden Therapien keine Patienten über 55 eingeschlossen würden: «Auch zeigten bisher nur die wenigsten Therapien eine Wirkung bei den progredienten Formen der Erkrankung, unter denen viele ältere Patienten leiden.» Aufgrund der zunehmenden Zahl an älteren MS-Patienten und der ungenügenden Evidenz zu Wirksamkeit und Sicherheit der aktuellen Therapien forderte Prof. Magyari die Durchführung spezifischer Studien mit diesem Patientenkollektiv.
Langzeitsicherheit der Therapie Eine weitere Herausforderung ist der langfristige Therapieverlauf. Prof. Dr. med. Michael Linnebank, Hagen (D), ging auf mögliche Langzeitrisiken verschiedener verfügbarer Therapeutika ein. Linnebank wies darauf hin, dass MS-Patienten die Risiken einer Therapie generell unterschätzten, während sie den Nutzen überschätzten (7): «Unsere Aufgabe ist es, die Risiken einer Therapie – auch die Langzeitrisiken – gut zu verstehen, dies den Patienten entsprechend zu kommunizieren und sie zu beraten.» Der grösste Pool an Langzeitsicherheitsdaten besteht für Interferon-beta-Präparate und Glatirameracetat. «Für die Interferone konnten bisher keine spezifischen Langzeitsicherheits-
signale in Bezug auf Infektionen und Malignome, Schwangerschaftsverlauf und Teratogenität festgestellt werden», fasste er die entsprechenden Daten zusammen. «Die relevantesten Langzeitnebenwirkungen stellen bei diesen Substanzen die Reaktionen an den Injektionsstellen dar.» Zum oralen MS-Therapeutikum Fingolimod liegen Sicherheitsdaten von etwa 9000 Patienten vor (8). Diese zeigen, dass Makulaödeme längerfristig keine Bedeutung zu haben scheinen. Kardiovaskuläre Risiken seien gemäss Daten vor allem kurzfristig ein Thema, längerfristig aber von geringer Relevanz. «Es existieren allerdings mehrere Berichte, dass es während einer Behandlung mit Fingolimod zu einem chronisch erhöhten Blutdruck kommen kann. Es wird daher empfohlen, den Blutdruck regelmässig zu überwachen», hielt Prof. Linnebank fest. «Zudem wird diskutiert, ob mit Fingolimod behandelte Patienten allenfalls ein erhöhtes Risiko für Tumoren, insbesondere Hauttumoren, aufweisen. Dazu liegt aktuell jedoch noch kein Beweis vor.» Im Hinblick auf das Risiko für eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) sagte er: «Aktuell liegt die Inzidenz bei den Patienten, die länger als zwei Jahre mit Fingolimod behandelt wurden, bei etwa 1:6000.» Dies könnte sich in der Diskussion von Therapiealternativen für JCV-positive (JCV = humanes Polyomavirus) Patienten als relevant erweisen. Im Zusammenhang mit Alemtuzumab sind insbesondere Autoimmunerkrankungen von Bedeutung (9). «Die wichtigste unter ihnen stellt die Autoimmunthyroiditis dar, dies mit einer kumulativen Inzidenz von annähernd 40 Prozent in den ersten vier Jahren», erläuterte Linnebank. Daher sei es wichtig, bei Patienten unter Alemtuzumab die Schilddrüsenfunktion regelmässig zu überwachen. Aufgrund seiner kurzen Halbwertszeit könnte sich Alemtuzumab allerdings für Patientinnen eignen, die eine Schwangerschaft planen. Bis anhin liegen Daten zum Verlauf von 248 Schwangerschaften unter Alemtuzumab vor (10). Die überwiegende Mehrheit der Schwangerschaften verlief normal. «Und die Rate an Schwangerschaften mit ungünstigem Verlauf lag im Bereich der Rate in der Normalbevölkerung», so Prof. Linnebank. Zu Ocrelizumab liegen Sicherheitsdaten von annähernd 4000 Patienten vor (11). Dabei zeigte sich eine erhöhte Rate an Infektionen, vor allem Harnwegsinfekten und Pneumonien.
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
SYMPOSIUM
Hinweise auf eine erhöhte Malignomrate gibt
es bisher nicht. Bei den sechs bestätigten PML-
Fällen handelte es sich um mit Natalizumab
oder Fingolimod vorbehandelte Patienten.
Abschliessend fasste Prof. Linnebank zusam-
men: «Die verfügbaren MS-Therapeutika sind
alle recht sicher. Das höchste Risiko besteht ei-
gentlich darin, dass keine krankheitsmodifizie-
rende Therapie durchgeführt wird.»
G
Dr. Therese Schwender
Quelle:
«Challenges in MS Treatment and Research.» 21. State-of-theArt-Symposium der Schweizerischen Multiplen Sklerose Gesellschaft, 26. Januar 2019, Luzern.
Literatur:
1. Alonso A, Hernan MA.: Temporal trends in the incidence of multiple sclerosis: a systematic review. Neurology 2008; 71: 129–135.
2. Koch-Henriksen N, Sorensen PS: The changing demographic pattern of multiple sclerosis epidemiology. Lancet Neurol 2010; 9: 520–525.
3. Koch-Henriksen N et al.: Incidence of MS has increased markedly over six decades in Denmark particularly with late onset and in women. Neurology 2018; 90: e1954– e1963.
4. Bermel RA et al.: Diagnosing multiple sclerosis at a later age: more than just progressive myelopathy. Mult Scler 2010; 16: 1335–1340.
5. Guillemin F et al.: Older Age at Multiple Sclerosis Onset Is an Independent Factor of Poor Prognosis: A PopulationBased Cohort Study. Neuroepidemiology 2017; 48(3–4): 179–187.
6. Trojano M et al.: Age-related disability in multiple sclerosis. Ann Neurol 2002; 51: 475–480.
7. Reen GK et al.: Multiple sclerosis patients’ understanding and preferences for risks and benefits of disease-modifying drugs: A systematic review. J Neurol Sci 2017; 375: 107–122.
8. Druart C et al.: Long-term safety and real-world effectiveness of fingolimod in relapsing multiple sclerosis. Patient Relat Outcome Meas 2017; 9: 1–10.
9. Comi G et al.: Alemtuzumab improves clinical and MRI disease activity outcomes, including slowing of brain volume loss, in RRMS patients over 8 years: CARE-MS I follow-up (TOPAZ study). Ectrims 2018, Poster P1235.
10. Rog D et al.: Pregnancy Outcomes in Patients With RRMS Treated With Alemtuzumab From the Clinical Development Program. Actrims/Ectrims 2017, Poster P749.
11. Hauser SL et al.: Safety of ocrelizumab in multiple sclerosis: updated analysis in patients with relapsing and primary progressive multiple sclerosis. Ectrims 2018, Poster P1229.
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