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Neuropsychiatrische Rehabilitation
FORTBILDUNG
Patienten mit neuropsychiatrischen Störungsbildern benötigen im Anschluss an die Akutversorgung möglichst zeitnah eine intensive stationäre Neurorehabilitation. Damit diese erfolgreich verläuft, sind spezialisierte medizinische, therapeutische und pflegerische Konzepte, der intensive Einbezug des sozialen und familiären Kontextes, eine besonders engmaschige interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie ein flexibel am individuellen Bedarf orientiertes milieutherapeutisches Rehabilitationssetting erforderlich. In diesem Übersichtsartikel werden diagnostische, klassifikatorische, therapeutische und neuropsychopharmakologische Aspekte der stationären neuropsychiatrischen Rehabilitation dargestellt.
Thilo Müller Robert Schomburg
von Thilo Müller und Robert Schomburg*
Einleitung
M it ihrer Aufnahme in einer Rehaklinik werden neurologische Patienten Teil eines komplexen sozialen Systems (1). Eine besondere Herausforderung für das Rehabilitationsmilieu stellen neuropsychiatrische Symptome dar, die sich auf das Beziehungsverhalten des Patienten auswirken. So können beispielsweise Patienten im Delir und ihre Bezugspersonen oft kein gemeinsam geteiltes Erleben von Realität entwickeln. Wahnhafte und halluzinatorische Erfahrungen, starke, vom sozialen Kontext nur schwer nachvollziehbare Emotionen sowie aggressives, bedrohliches und lautstarkes Verhalten lösen Verunsicherung und Überforderung des klinischen Umfelds aus. Schwere Gedächtnisstörungen können zu Desorientierung und konfabulatorischen Fehlinterpretationen der Situation führen, wobei diesbezüglich häufig kein adäquates Störungsbewusstsein besteht, was meist eine inadäquate Einschätzung von Selbst- und Fremdgefährdung zur Folge hat. Das Ausmass der Belastung im sozialen Kontext ist dann besonders hoch, wenn die betroffenen Patienten wegen Störungen des Antriebs, der Verhaltenssteuerung und der Impulskontrolle sowie der affektiven Schwingungs- und Empathiefähigkeit von ihrem sozialen Kontext als fremd, persönlichkeitsverändert und «schwierig» im Umgang erlebt werden (u.a. 2–7). Oft scheint in diesen Fällen der Abbruch der stationären Neurorehabilitation unvermeidbar und die Überweisung des als «nicht rehabilitierbar» eingeschätzten Patienten in eine psychiatrische Institution alternativlos zu sein.
* Robert Schomburg, Facharzt für Neurologie, Rehaklinik Zihlschlacht AG
Aufgabe stationärer neuropsychiatrischer Rehabilitation ist es daher, die Genese und die Funktionalität des herausfordernden Verhaltens zu entschlüsseln, Behandlungskonzepte individuell anzupassen und nicht indizierte Verlegungen in psychiatrische Behandlungsformen oder Institutionen der Langzeitpflege zu reduzieren. Ziel ist die Einleitung der Reintegration in den prämorbiden Lebenskontext trotz herausforderndem Verhalten (1). In der Rehaklinik Zihlschlacht AG ist ein entsprechendes Spezialsetting für kognitive und neuropsychiatrische Frührehabilitation langjährig etabliert.
Differenzialdiagnostische und klassifikatorische Aspekte Stationäre neuropsychiatrische Rehabilitation orientiert sich am Partizipationsverständnis der International Classification of Functioning, Disability and Health der WHO ([ICF], Kasten 1). Zentrale Aufgabe ist die Minderung sowohl von funktionellen als auch teilhabebezogenen Auswirkungen von Schädigungen des Nervensystems (8, 9). Die ICF interpretiert Teilhabe am Lebenskontext nach erworbener Hirnverletzung als Ergebnis einer komplexen Wechselwirkung zwischen der neurologischen Erkrankung (Gesundheitsproblem), betroffenen Funktionen und Aktivitäten des täglichen Lebens sowie individuellen Faktoren, wie zum Beispiel Biografie, Kompetenzen, Persönlichkeitsstil, sowie den sozialen Rahmenbedingungen im Umfeld. Neben dem Behinderungsaspekt fliessen aber auch Resilienzfaktoren und Ressourcen für eine bessere Lebensqualität in die Beurteilung mit ein (9, 10). In der ICD-10, Kapitel V F00-F09 (11), werden psychische Krankheiten mit nachweisbarer organischer Ursache kodiert. Ein zeitlicher Zusammenhang zum Kausalereignis ist erforderlich. Auch wenn Symptome nie ursachen-
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Körperfunktionen und -strukturen
Gesundheitsproblem
(Gesundheitsstörung oder Krankheit)
Aktivitäten
Partizipation (Teilhabe)
Umweltfaktoren
Kasten 1: Biopsychosoziales Modell der ICF (10)
personenbezogene Faktoren
spezifisch sind, kann das Vorliegen von Bewusstseinsstörungen, Orientierungsstörungen und Halluzinationen Hinweis auf eine organische Genese sein (12). Wenn Patienten in die Neurorehabilitation eintreten, ist nicht selten eine differenzialdiagnostische Abgrenzung zwischen (abklingendem) Delir, neurologischem Akutereignis und längerfristigen Folgen der Hirnverletzung erforderlich. Bei der Diagnose einer organisch bedingten psychischen Störung sowie organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung dürfen die Kriterien eines Delirs oder einer Demenz jedenfalls nicht erfüllt sein. Letztere spielt aufgrund der Zeitkriterien (> 6 Monate bestehend, progredient) in der postakuten Rehabilitation eine eher untergeordnete Rolle, es sei denn, sie ist vorbestehend. Kognitive Störungen zum Beispiel von Gedächtnis, Exekutivfunktionen, Wahrnehmung, Wahrnehmungsverarbeitung und Kommunikation treten sehr häufig nach Schädel-Hirn-Traumata oder Schlaganfällen auf (13). Aufmerksamkeitsstörungen sind die häufigste kognitive Folge von Hirnverletzungen. Bereits leichtgradige Störungen können je nach Kontext gravierende Alltagsbeeinträchtigungen zur Folge haben. Eine Hirnverletzung hat Folgen für das Erleben, das Verhalten und die Persönlichkeit des Betroffenen und damit auch seiner Umwelt. Diese Koinzidenz von psychischen und neurologischen Symptomen ist bei der neuropsychiatrischen Diagnostik besonders zu beachten. Bei den organisch bedingten affektiven, wahnhaften und Angststörungen bestehen phänotypisch Ähnlichkeiten zu nicht organisch bedingten Störungen, jedoch therapeutische und prognostische Unterschiede. Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen können begleitend auftreten. Viele Patienten, aber auch Angehörige leiden nach Hirnverletzungen unter depressiven Verstimmungen, die häufig mit Angststörungen und aggressivem Verhalten assoziiert sind (14). Nach Schädel-Hirn-Trauma treten gehäuft organische Persönlichkeitsstörungen sowie Psychosyndrome auf. Die Kenntnis prämorbider Persönlichkeitszüge, Werthaltungen, Überzeugungen und Lebenskonzepte sind wichtig, um eine krankheitsbedingte Akzentuierung nicht mit einer neu aufgetretenen Verhaltensstörung zu verwechseln. Bedeutsame Symptome einer aktuellen psychischen Störung werden im psychopathologischen Befund erfasst (15). Die angemessene Verwendung der Begriffe und die korrekte Befunderhebung ist für eine zuverlässige klinische Diagnose nach ICD-10 oder DSM5 unerlässlich. Diese gewährleistet das gut evaluierte
AMDP-System (16). Zur korrekten Erhebung eines neuropsychiatrischen Befundes sind daher Kenntnisse und Erfahrungen in der Neurologie und der Neuropsychologie sowie eine fundierte Anamnese und Verhaltensbeobachtung notwendig.
Neuropsychiatrische Therapieansätze Zwischen dem problemverursachenden Verhalten einer hirnverletzten Person, das aus subjektiver Perspektive sinnvoller und zielgerichteter Ausdruck einer bestimmten Realitätswahrnehmung, einer emotionalen Befindlichkeit, eines Anliegens oder eines psychischen Konflikts ist und dem sozialen Kontext, der dem Verhalten eine bestimmte Bedeutung zuschreibt und es zum Beispiel «auffällig», «bedrohlich» oder «gefährlich» empfindet und etikettiert, besteht eine Interaktion. Das betreffende Verhalten ist ein soziales Phänomen, es fordert eine Reaktion des Kontextes heraus. Aus diesem Grund sprechen wir im Folgenden von herausforderndem Verhalten (17). Die Therapie des herausfordernden Verhaltens ist ein zentraler Aspekt teilhabeorientierter Neurorehabilitation gemäss ICF.
Neuropsychiatrische Verhaltensanalyse Da sich Hirnverletzungen direkt oder indirekt auf alle Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Verarbeitungsprozesse auswirken können, die das Agieren und das Reagieren im Kontext der betroffenen Person bestimmen, entspricht das Verhalten neurologischer Patienten oft nicht dem Realitäts- und Adäquatheitsempfinden ihrer Mitmenschen, obwohl es mit ihrer eigenen Erlebenswelt konform ist. Hilfreich ist es daher, im Gespräch mit dem Patienten mittels Fremdanamnese, strukturierter Verhaltensbeobachtung und im interdisziplinären Diskurs Zugang zum kognitiven und emotionalen Bezugssystem des betroffenen Patienten zu gewinnen, wodurch es möglich wird, das «schwierige», oft nur bedingt nachvollziehbare Verhalten als sinnvolle und situationskonforme Reaktion zu verstehen (1, 18). Da die Auslöser von herausforderndem Verhalten multifaktoriell, sowohl psychischer als auch somatischer Ursache sein können und oft intraindividuell nicht einheitlich sind, kommt der interdisziplinären Verhaltensanalyse und Massnahmenplanung eine besondere Bedeutung zu. Besonders gründlich sollte immer auf Anzeichen eines neurologischen Zweitereignisses (z.B. Nachblutung, CVI) geachtet werden. Schmerzen sollten erkannt (nonverbale Zeichen beachten!) und deren Ursachen behandelt werden. Herausforderndes Verhalten weist oft auf sensorische Defizite (z.B. Hör- oder Sehstörungen) oder Elektrolyt- und Hormonentgleisungen hin, die bei Hirnverletzungen nicht selten auftreten. Ausserdem können Störungen der Harn- und Stuhlausscheidung (Cave: Harnverhalt, Harnwegsinfektion) sowie unausgewogene Ernährung und gestörter Schlaf-WachRhythmus zu herausforderndem Verhalten führen. Es sollten nur unerlässliche Medikamente verabreicht werden. Die frühzeitige und spezifische Behandlung eines Delirs setzt eine Ursachenabklärung voraus und orientiert sich an einschlägigen Leitlinien (19). In interdisziplinären Teamsitzungen sind Hypothesen über Probleme zu generieren, für die sich das betref-
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fende Verhalten als sinnvoller Lösungsversuch eignet – auch wenn es selbst Probleme verursacht (20). Die diagnostische Frage lautet also: Welche kognitive Verarbeitung, welches emotionale Erleben, welcher psychische Konflikt, welches persönliche Anliegen vermittelt der Patient in seinem Verhalten, und welche kausal behandelbaren medizinischen Ursachen könnten es verursachen (1)? Dieses Vorgehen weist Parallelen zum NeedDriven-Dementia-Compromised-Behavior-Modell auf (21), wobei die in der Neurorehabilitation auftretenden Krankheitsbilder eine andere zeitliche Dynamik und Prognose haben (22).
Nicht pharmakologische Therapie Herausforderndes Verhalten bildet sich in den meisten Fällen zurück, wenn die Ursachen des Unwohlseins erfolgreich behandelt worden sind und sich der Patient in seinem Anliegen sowie seiner Befindlichkeit akzeptiert und verstanden fühlt. Das herausfordernde Verhalten ist dann nicht mehr erforderlich, um auf eine bestimmte Notwendigkeit hinzuweisen. Ausgehend von der hypothesengesteuerten interdisziplinären Verhaltensanalyse ergeben sich vielfältige Ansätze, neuropsychiatrische Verhaltenssymptome positiv zu beeinflussen, wobei nicht pharmakologische Behandlungsansätze immer den Vorrang haben oder zumindest die Pharmakotherapie begleiten sollten (1, 18). Ausgehend von der hypothesengesteuerten interdisziplinären Verhaltensanalyse, ergeben sich vielfältige Ansätze, neuropsychiatrische Verhaltenssymptome positiv zu beeinflussen (1, 18). G Modifikation der Situationen, die herausforderndes Ver-
halten auslösen und aufrechterhalten: Geht zum Beispiel dem herausfordernden Verhalten der Kontakt mit einer bestimmten Person oder eine bestimmte Form der Ansprache voraus? Tritt das Verhalten zu einer bestimmten Tageszeit auf? G Orientierung therapeutischer Massnahmen am kognitiven und emotionalen Verarbeitungsmuster des Patienten: Drückt aggressives Verhalten zum Beispiel Angst, das Gefühl, bedroht zu sein, oder Desorientiertheit aus, wirken realitätsorientierende Massnahmen, die Gewährleistung eines sicheren Milieus und die Gestaltung einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung deeskalierend? G Orientierung therapeutischer Massnahmen am Persönlichkeitsstil und an der biografischen Prägung des Patienten: Wie erlebt zum Beispiel ein Mensch mit ausserordentlich starkem Autonomie- und Bewegungsbedürfnis die Einschränkung seiner Mobilität? G Verhaltensbezogene Therapieansätze (Kasten 2): Voraussetzung für den Erfolg verhaltensbezogener Massnahmen ist zumeist eine basale Selbstreflexionsfähigkeit sowie eine intrinsische Änderungsmotivation seitens des Patienten. In der therapeutischen Nachbereitung kritischer Situationen wird mit dem Patienten ein Störungsmodell erarbeitet, wobei das kognitive Störungsprofil des Patienten zu berücksichtigen ist. Daraus ergeben sich konkrete alltags- und bewältigungsbezogene Verhaltensziele, die in einem überschaubaren Zeitraum messbar, verhaltensnah und erreichbar sein sollten. Die Dokumentation und die Evaluation der Zielerreichung ermöglichen Selbstkontrolle (23, 24).
Kasten 2:
Verhaltensbezogene Therapieansätze in der neuropsychiatrischen Rehabilitation
● Feedback, Spiegeln, Reflexion durch andere Personen (Internalisierung sozialer Kontrolle)
● Selbstmanagement: – Time-out: Latenzzeit zwischen Handlungsimpuls und Handlung trainieren – Selbstinstruktion: «Moment, erst mal nachdenken!» – Selbstmonitoring: bewusste Selbstbeobachtung durch Externalisierung – bewusste kritische Selbstrückmeldung und Fehlerkontrolle – Dokumentation der erreichten Verhaltens-(zwischen-)ziele
● Verhaltensaufbau: ritualisierte Abfolge von Teilschritten, Checklisten, sukzessives Lernen von mehrschrittigen Verhaltenssequenzen (z.B. Chaining – Schrittfür-Schritt-Lernen; Shaping – vom Verhaltensziel ausgehend den jeweils vorgängigen Schritt lernen)
● Verhaltensmodifikation/Kontingenzmanagement: Veränderung der dem Verhalten nachfolgenden Bedingungen, Einsatz von Verstärkern (z.B. Lob und Anerkennung für Geleistetes, für den Patienten persönlich bedeutsame Belohnungen)
Kasten 3:
Grundprinzipien neuropsychopharmakologischer Behandlung
(adaptiert nach [26])
● Pharmakotherapie möglichst vereinfachen. Wenn immer möglich Monotherapie. ● Tiefe Startdosis und langsames Aufdosieren – oder zumindest eine Substanz
nach der anderen. ● Regelmässige Überprüfung der Indikation, zeitlich limitierter Einsatz. ● Regelmässige klinische Überwachung. ● Beachtung der erhöhten Nebenwirkungsrate und von möglichen Medikamen-
ten-Interaktionen. ● Rezeptorantagonisten (d.h. Anticholinergika, Antihistaminika, Dopaminant-
agonisten) möglichst vermeiden. ● Hinsichtlich Verträglichkeit Orientierung an in der Gerontologie etablierten Lis-
ten und elektronischen Datenbanken (27, 28).
Sozialtherapeutisches Rehabilitationsmilieu/ soziales Lernen Hinter dem Begriff Milieutherapie steht die Überzeugung, dass der gesamte Kontext, in dem Rehabilitation stattfindet, prinzipiell sowohl förderliche als auch behindernde Auswirkungen haben kann (25, 26). Das sozialtherapeutische Milieu einer neuropsychiatrischen Spezialabteilung fördert soziales Lernen, zum Beispiel durch gemeinschaftliche Einnahme der Mahlzeiten, Gruppentherapien, gemeinsames Lösen von Konflikten und Austausch über die emotionale Befindlichkeit unter den Patienten, Übernahme von kleinen Verantwortungsbereichen im Stationsalltag. Die überschaubare und reizarme räumliche Gestaltung der Stations- und Patientenzimmer, ein familiäres Ambiente mit Privatsphäre sowie die Strukturierung therapiefreier Zeit bietet viele Ansatzpunkte, das Rehabilitationsmilieu therapeutisch zu nutzen. Neuropsychiatrische Rehabilitation ist langfristig angelegt, von hoher Bedeutung ist daher die tragfähige therapeutische Beziehung mit besonders qualifiziertem Personal (z.B. idealerweise Psychiatrieerfahrung, psychische Belastbarkeit, Toleranz, Fähigkeit zur konsequenten Umsetzung von therapeu-
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tischen Massnahmen, Teamfähigkeit, Humor). Die enge Zusammenarbeit mit Angehörigen und Freunden des Patienten ermöglicht dem Behandlungsteam, wichtige Informationen zu gewinnen, instruierte Angehörige können sich im Rehabilitationsprozess aktiv einbringen (1). Der Patient spürt, dass seine Familie und das Personal an einem Strang ziehen.
Pharmakologische Therapie Patienten mit hirnorganischen Störungen sind oft multimorbid. Das führt oft zu Polypharmazie mit schwerwiegenden Folgen. Unabhängig von der Urteilsfähigkeit sollte der Betroffene immer über die Therapie aufgeklärt werden. Die Grundprinzipien der neuropsychopharmakologischen Behandlung sind in Kasten 3 dargestellt. Depression und Angst sind häufige Symptome und können zu Verschlechterung der Kognition und der Alltagsfunktion beitragen. Neuere selektive Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Escitalopram oder Sertralin sowie Mirtazapin sind gut verträglich und haben sich bewährt. Die Evidenzlage der SSRI zum Einsatz bei Antriebslosigkeit und Aphasie ist schlechter, im Einzelfall kann ein (off-label) Therapieversuch erfolgen. Bei Angstsymptomen ist gelegentlich Pregabalin hilfreich, bei hirnverletzten Patienten aber nebenwirkungsreicher (Myoklonien usw., Sedierung zu Behandlungsbeginn). Falls keine kardialen Kontraindikationen bestehen, kann Trazodon eingesetzt werden (Cave: Priapismus). Bei Unruhe und Schlaflosigkeit haben sich in leichten Fällen pflanzliche Präparate wie Baldrian, bei stärkerer Ausprägung Quetiapin und Pipamperon oder aber Mirtazapin– jeweils in niedrigster individueller Wirkdosierung – bewährt. Bei psychotischen Symptomen oder Eigenoder Fremdgefährdung beispielsweise durch Aggressivität lässt sich mitunter der befristete Einsatz von höher potenten Neuroleptika nicht vermeiden. Risperidon hat trotz geringer Evidenz in der Praxis ein relativ günstiges Wirkungs-/Nebenwirkungsverhältnis, wobei die niedrigste effektive Dosierung und Behandlungsdauer zu wählen ist. Zur symptomatischen Behandlung bei Delir kann im Einzelfall Haloperidol eingesetzt werden, es ist effektiv und passager in sehr niedrigen Dosierungen (< 5 mg) wahrscheinlich nicht nebenwirkungsreicher als Atypika. Bei Vorliegen von extrapyramidalen Sym-
Merkpunkte:
● Zentrale Aufgabe stationärer Neurorehabilitation ist die Minderung sowohl funktioneller als auch teilhabebezogener Auswirkungen von Schädigungen des Nervensystems.
● Neuropsychiatrische Symptome wirken sich gravierend auf die Beziehungen im sozialen Kontext aus und sind daher in hohem Masse relevant für die Wiedereingliederung.
● Alle therapeutischen Ansätze basieren auf einem Verständnis des kognitiven und emotionalen Bezugssystems der betroffenen Patienten. Depression und Angst sind häufige neuropsychiatrische Symptome und können zu Verschlechterung von Kognition und Alltagsfunktionen beitragen.
● Die neuropsychopharmakologische Behandlung ist Bestandteil des interdisziplinären Rehabilitationskonzepts im Rahmen eines sozialtherapeutischen Stationsmilieus.
ptomen sind Neuroleptika kontraindiziert, abgesehen von Quetiapin (off-label) und Clozapin in strenger Indikation und unter engmaschiger Kontrolle (Cave: Agranulozytose). Am schnellsten wirksam bei Aggressivität und Angst (häufig die Not hinter der Aggression!) sind Benzodiazepine, Präparate mit geringem Kumulationsrisiko wie Oxazepam und Lorazepam zu bevorzugen. Oftmals werden niedrigere Dosierungen benötigt als bei nicht hirnverletzten Patienten, das zunehmende Sturzrisiko ist ebenso zu berücksichtigen wie allfällige Abhängigkeitserkrankungen.
Krisenintervention Im Zusammenhang mit stark ausgeprägter neuropsychiatrischer Symptomatik kann es zu psychischen Notsituationen kommen, die die Bewältigungsmöglichkeiten der beteiligten Personen übersteigen. Im Moment des Kontrollverlusts besteht die Gefahr, dass die Betroffenen sich selbst und anderen schweren Schaden zufügen. Aufgrund der von herausforderndem Verhalten in der Krise ausgehenden Gefährdung für Patient, Mitpatienten und Personal, zum Beispiel Agitiertheit, verbale oder tätliche Fremdaggressivität, Bedrohlichkeit, destruktives Verhalten gegenüber Personen und Gegenständen oder Entweichung, ist im Sinne der Krisenintervention prioritär Fürsorge, Schutz und Gefahrenminimierung für die betroffenen Personen zu gewährleisten. Die Patienten sind vor Selbstverletzung zu bewahren, Mitarbeiter sollen sich auf der Arbeit sicher fühlen und Mitpatienten keine Angst vor Übergriffen haben. Eine weitere Eskalation ist unbedingt zu vermeiden, eine sofortige Entlastung ist zu gewährleisten, sowie psychische, somatische und soziale Folgeschäden sind zu vermeiden. Im Vordergrund des neuropsychiatrischen Stationsalltags sollte allerdings die Krisenprävention mithilfe oben genannter Massnahmen stehen sowie möglichst die Verlegung in eine psychiatrische Institution vermieden werden.
Zusammenfassung
Adäquate Verhaltenssteuerung und Impulskontrolle,
hinreichende neurokognitive und soziale Kompeten-
zen, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität bestimmen
massgeblich den Wiedereingliederungserfolg nach
Hirnverletzung. Gelingt es dem interdisziplinären Be-
handlungsteam in enger Zusammenarbeit mit den An-
gehörigen, Ursachen, Bedeutung und Funktionalität
neuropsychiatrischer Verhaltenssymptomatik zu erken-
nen sowie bedarfsgerechte Massnahmen zu generie-
ren, trägt die stationäre Neurorehabilitation dazu bei,
dass auch bei zunächst schwer betroffenen Patienten
die Teilhabe am prämorbiden Lebenskontext realisiert
werden kann.
G
Korrespondenzadresse:
Dipl. Psych. Thilo Müller
Klinischer Neuropsychologe GNP
Systemischer Paar- und Familientherapeut DGSF
Rehakoordinator Station Wilen
Rehaklinik Zihlschlacht AG
Hauptstr. 2–4
8588 Zihlschlacht
E-Mail: t.mueller@rehaklinik-zihlschlacht.ch
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