Transkript
Neurostimulationsverfahren: Die neue Zukunft der Psychiatrie
FORTBILDUNG
Verschiedene Neurostimulationsverfahren wie die Elektrokonvulsionstherapie erleben weltweit eine Renaissance – auch in der Schweiz. Im Interview spricht Prof. Sebastian Walther, Chefarzt und stellvertretender Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Bern, über die trotz nachgewiesener Wirksamkeit noch immer vorhandenen Vorbehalte bei Psychiatern gegenüber diesen Verfahren und erklärt, weshalb die Neurostimulation das Fach der Psychiatrie grundlegend beeinflussen wird.
Wie viele und welche Neurostimulationsverfahren werden derzeit in der Schweiz durchgeführt? Prof. Sebastian Walther: In der Schweiz werden die nicht invasiven Methoden wie transkranielle Magnetstimulation (TMS), transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) und Elektrokonvulsionstherapie (EKT) durchgeführt. Angaben zur Häufigkeit in der Schweiz liegen mir allerdings nicht vor, da diese Methoden nicht über die Krankenkassen abgerechnet werden. In Bern an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie führen wir rund 800 EKT-Sitzungen pro Jahr durch, die Erhaltungs-EKT miteingerechnet. Weitere EKT werden in Lausanne und Zürich an den universitären Klinken angeboten, aber auch beispielswiese in Meiringen, Münsterlingen und Heiden. Der Bedarf ist aber deutlich höher als das Angebot.
Wird sich das in nächster Zeit ändern, sodass es mehr Anbieter gibt? Sebastian Walther: Insgesamt ist viel Bewegung in diesem Bereich. Allerdings gibt es in der Schweiz noch immer gesellschaftlich-politische Vorurteile gegenüber der EKT. Die Methode war und ist trotz der nachgewiesenen Wirksamkeit aufgrund der Geschichte umstritten, und das hat sich in den Köpfen der Bevölkerung, aber auch der Mediziner hartnäckig festgesetzt. Erst wenn selber positive Erfahrungen mit dem Verfahren gemacht wurden und die Erfolge bei der Behandlung mittelschwerer und schwerer Depressionen und der Schizophrenie sichtbar sind, ändert sich die Überzeugung. Andere Länder sind diesbezüglich etwas weiter. In Grossbritannien, Belgien und den Niederlanden wird die EKT viel breiter eingesetzt. In Deutschland liegen bereits bindende Behandlungsleitlinien vor, und die EKT hat sich dort etabliert und wird an Unikliniken, aber auch nicht universitären Zentren angeboten.
Woher stammt die Skepsis? Sebastian Walther: Sie erklärt sich aufgrund der Vergangenheit, in der dieses Verfahren anders angewendet wurde. Zudem stellen sich Laien, aber auch Fachleute
Sebastian Walther
noch immer vor, dass quälende Elektroschocks verabreicht werden. Deshalb wird der Begriff Elektroschocktherapie auch oft abwertend eingesetzt. Tatsache ist, dass die EKT in kurzer Vollnarkose durchgeführt wird. Mit dem Strom wird ein epileptischer Anfall ausgelöst. Zwar wissen wir noch immer nicht ganz genau, warum es zu den positiven Veränderungen kommt. Aber es lassen sich neurotrophe Faktoren wie der BDNF (Brainderived neurotrophic factor) nachweisen, der aufgrund der Behandlung ansteigt. Auch der Gehirnstoffwechsel verändert sich, indem der Blutfluss und der Glukoseverbrauch ansteigen. Es kommt in der Folge zu einer Volumenzunahme in Hippocampus und Temporallappen.
Kritisiert wird der Gedächtnisverlust nach EKT. Sebastian Walther: Ja, aber dieser ist passager anterograd. Nach der EKT wird Neues nicht abgespeichert, auch Störungen des biografischen Gedächtnisses sind bekannt. Beides ist aber vorübergehend.
Warum braucht es Erhaltungs-EKT, wenn das Verfahren so wirksam ist? Sebastian Walther: Aufgrund der Studien sehen wir, dass sich das bewährt hat. Allerdings wissen wir auch hier den genauen Grund nicht. Vermutlich kommt es dabei zu einer Neuorganisation von Netzwerken – wie auch bei anderen Stimulationsverfahren.
16 3/2019
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Wie laufen die EKT am Inselspital ab? Sebastian Walther: Am Inselspital haben wir einen zentralen Aufwachraum, der unter anderem für die EKT genutzt wird. Unsere Assistenzärzte in Bern lernen alle das Verfahren kennen. Der Aufwand ist überschaubar, es braucht keinen Operationssaal, einfach einen Raum, in dem das Monitoring möglich ist und wo unter Intubationsbereitschaft die EKT durchgeführt werden kann. Die EKT dauert 1 bis 3 Minuten, danach wird der Patient überwacht und noch am gleichen Tag wieder entlassen. Die EKT ist ein ambulanter Eingriff, dennoch wird sie in der Schweiz nur an Kliniken und nicht in Praxen durchgeführt.
Wie ist derzeit die Weiterbildung im Bereich der Neurostimulation geregelt. Was müsste verbessert werden? Sebastian Walther: Wichtig ist erst einmal, dass Psychiater wissen, dass die EKT eine hochwirksame Behandlung ist, die lernbar ist. Im Moment läuft eine Initiative für die interventionelle Psychiatrie mit dem Ziel der Qualitätssicherheit und Zertifizierung. Gross ist die Unterstützung der Schweizerischen Gesellschaft für biologische Psychiatrie, die dazu einiges ins Rollen gebracht hat. Wir arbeiten auch eng mit dem Referat der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) zusammen, die für viel Aufklärung gesorgt hat. Zweimal im Jahr treffen sich die Mitglieder des DGPPN-Referates zu klinischen Stimulationsverfahren und führen Workshops zur EKT durch. In der Schweiz wurde die Gesellschaft für Interventionelle Psychiatrie gegründet. Diese hat einen Fähigkeitsausweis beim Schweizerischen Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) beantragt. Dieser Fähigkeitsausweis würde auch die Grundlage für die Abrechnung verbessern. Derzeit gibt es für die TMS oder tDCS Behandlungen keine separate Tarmed-Position.
Wohin geht die Forschung in diesem Bereich? Sebastian Walther: Bei der TMS gibt es genügend Evidenz, dass das Verfahren bei der leichten bis mittelschweren Depression wirksam ist. Die Patienten können damit Remission und Response erreichen. Derzeit ist die Verkürzung der Sitzungsdauer ein Forschungsgegenstand. Diese dauert 35 Minuten pro Tag. Mit intermittierender Theta-Burst-Stimulation kann die gleiche Wirksamkeit erzielt werden bei einer Sitzungsdauer von nur 7 Minuten. In Kanada lautet die Guideline sogar, dass nach einem ersten gescheiterten Versuch mit einem Antidepressivum die TMS erste Wahl sein kann. Nicht so wirksam, aber bis anhin auch schlecht untersucht ist das Ansprechen der TMS bei einer schweren und chronifizierten Depression.
Sie haben in einem Newsletter geschrieben: «Die Integration von Hirnstimulationsmethoden in das Behandlungsspektrum der Psychiatrie zwingt uns, wieder neu über psychiatrische Erkrankungen nachzudenken.» Inwiefern beeinflussen Neurostimulationsverfahren die Psychiatrie? Sebastian Walther: Die Psychiatrie wird sich in der Art und Weise, wie sie ausgeführt wird, ändern. Es haben bereits verschiedene Veränderungen stattgefunden, wie beispielsweise die Integration von Umwelteinflüs-
sen oder Spezifizierungen im Bereich der Psychotherapien, damit wir wissen, welches Verfahren bei welchem Patienten warum wirkt. Im Bereich der Psychopharmakologie passiert das Gleiche. Es ist einfach nicht realistisch, dass wir mit derselben Tablette allen Patienten helfen können. Bei der Hirnstimulation müssen wir noch genauer wissen, welche Parameter uns weiterhelfen. Dazu müssen Psychiater noch mehr von der Pathophysiologie psychiatrischer Erkrankungen wissen. Bei einzelnen psychopathologischen Phänomenen sind wir schon sehr weit im Verständnis. Hilfreich sind Ansätze wie die Research Domain Criteria (RDOC), die Krankheitsmechanismen über Diagnosen hinweg auf verschiedenen Ebenen anschauen. Der grosse Kritikpunkt bezüglich RDOC ist allerdings, dass momentan die klinische Realität der Patienten noch nicht in den wissenschaftlichen Konstrukten abgebildet wird. In Bern arbeiten wir an Stimulationsformen, die gezielt bestimmte Symptome durch die Modulation der relevanten zerebralen Netzwerke beheben, zum Beispiel bei akustischen Halluzinationen, motorischer Verlangsamung oder gestörter nonverbaler Kommunikation.
Sind die Patienten den Neurostimulationsverfahren gegenüber aufgeschlossen? Sebastian Walther: Das ist unterschiedlich. Aber es gibt erstaunlich viele Patienten, die sehr offen sind und nachfragen, ob sie von den Verfahren profitieren könnten, und diese dann auch wollen. Dies ist oftmals der Fall, wenn bereits viele Behandlungsversuche unternommen wurden und die Patienten nicht mehr weiterkommen und die Krankheit nicht loswerden.
Was ist für die Zukunft zu erwarten? Sebastian Walther: Auf dem Feld der Neurostimulationsverfahren verändert sich viel, tut sich viel. In Bern forschen wir intensiv bezüglich Schizophrenie und Depression. Für den Patienten stellen diese Verfahren auf jeden Fall einen zusätzlichen Gewinn dar. Sie lassen sich auch gut mit anderen Behandlungsmethoden kombinieren, sodass sich die Anzahl Werkzeuge im Therapiekoffer erhöht. Sie führen einfach zu mehr Behandlungsmöglichkeiten. In Bezug auf die Ausbildung wäre es wünschenswert, wenn Psychiater nicht nur die pharmakologischen Verfahren, die Psychotherapie und die systemischen Interventionen kennen würden, sondern auch die Hirnstimulationsverfahren – und wann diese beispielsweise indiziert sind. Zudem sollten Psychiater auch in der Lage sein, Hirnstimulation anzuwenden. Die Zukunft beginnt jetzt. In Bern bilden wir die Assistenten in diesem Sinne aus: Sie lernen, die neuen Verfahren anzuwenden. G
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Sebastian Walther
Chefarzt und stv. Direktor Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern
Murtenstrasse 21 3008 Bern
E-Mail: sebastian.walther@upd.unibe.ch
Sehr geehrter Herr Prof. Walther, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Annegret Czernotta.
3/2019
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
17