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EDITORIAL
Hirnstimulation: Die Stigmatisierung nimmt langsam ab
D as Fach Psychiatrie und Psychotherapie befindet sich in ständiger Bewegung und Veränderung: Behandlungen werden vorwiegend ausserhalb der Spitäler angeboten, störungsspezifische Psychotherapieverfahren werden genau bei den Betroffenen eingesetzt, die davon profitieren können, Pharmakotherapie wird immer gezielter eingesetzt und die Behandlungskonzepte werden immerzu ergänzt. Ständige Weiterentwicklung ist auch zwingend nötig, weil trotz aller Innovation weiterhin ein Teil der Betroffenen chronisch psychisch krank bleibt. Die Hirnstimulation wird eine weitere Bereicherung, aber auch Veränderung bringen: Die gezielte Stimulation von Hirnarealen mittels magnetischer und elektrischer Impulse setzt fundiertes Wissen bei der Pathophysiologie psychiatrischer Erkrankungen voraus. So wie eine Tablette nicht alle psychiatrischen Erkrankungen heilen kann, braucht es auch bei der Hirnstimulation gezielte Stimulationsverfahren. Der Psychiater wird zudem aktiv Handelnder, der ein Verfahren tatsächlich in die Hand nimmt und den Patienten «körperlich» behandelt.
Zu den Hirnstimulationsverfahren zählt die invasive oder tiefe Hirnstimulation, die in dieser Ausgabe vom anerkannten internationalen Experten Prof. Thomas Schläpfer, Freiburg im Breisgau (D), vorgestellt wird (Seite 12 ff.), sowie die nicht invasiven Verfahren wie die Elektrokonvulsionstherapie (EKT), beschrieben von PD Dr. Annette Brühl, Zürich, (Seite 8 ff.) und die transkranielle Magnetstimulation (TMS) und transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS), deren Indikation und Wirkmechanismen Dr. Tobias Bracht, Bern, erläutert (Seite 4 ff.).
Die Hirnstimulationsverfahren sind wirksam in der Behandlung von therapieresistenten Depressionen, schweren katatonen Zuständen oder Psychosen. Sie
verändern die Hirnfunktion auf Ebene der neuronalen Netzwerke, wobei Wirkmechanismen im Detail noch nicht ausreichend verstanden sind. Leider stehen uns für die Evaluation dieser wichtigen Verfahren bei Weitem nicht so umfassende Forschungsmittel zur Verfügung wie bei der Einführung neuer Pharmaka. Es wird daher noch einige Jahre dauern, bis wir die Wirkmechanismen entschlüsseln können.
Die neuen Methoden verändern aber trotzdem schon jetzt den psychiatrischen Behandlungsalgorithmus: Nicht mehr die Diagnose allein bestimmt die Therapieform, sondern die Behandlung kann gezielt auf der Ebene von Symptomen eingesetzt werden wie dem Stimmenhören, Anhedonie oder einzelnen Gedächtnisprozessen. Auch die Ausbildung von Psychiatern wird sich dementsprechend verändern oder anpassen müssen. Zertifizierte Verfahren und Ausbildungsgänge werden notwendig. Assistenzärzte sollten bereits während der Weiterbildung die nicht invasiven Verfahren einsetzen lernen. In Bern ist dies schon heute der Fall. Aber auch erfahrene Fachärzte staunen über die Wirksamkeit der neuen Verfahren für ihre Patienten, wodurch eventuell vorhandene Abwehr in vielen Fällen abgebaut werden kann.
Die Hirnstimulation wird die Kompetenzen der Psychiater sinnvoll erweitern. Und das Fach Psychiatrie wird dadurch noch spannender.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre. G
Prof. Dr. med. Sebastian Walther Chefarzt und stv. Direktor
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern
E-Mail: sebastian.walther@upd.unibe.ch
3/2019
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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