Transkript
EDITORIAL
«Psyche und Soma bilden eine Einheit»
W ir leben in einer besonderen Zeit: Die meisten Menschen fallen zunehmend heraus aus sie tragenden kollektiven Lebensmustern. Zugleich verdichten sich alle Handlungsfelder im privaten und beruflichen Bereich, was immer häufiger Zustände des Gestresstseins erzeugt. Denn die immer drängender zu treffenden Entscheidungen bei nahezu unendlichen Wahlmöglichkeiten machen eine bewusste Fokussierung auf den eigenen Weg immer schwieriger. Die Angst, existenziell zu scheitern, führt dann auch noch zu einer quälenden Selbstkontrolle, die sich häufig am Aussen orientiert, aber nur noch selten auf einen tiefen inneren Halt in einer stabilen Identität zurückgreifen kann.
In diesen Situationen betrachten wir unseren Körper gerne wie eine Maschine, die unsere gestresste Psyche möglichst ohne Widerstand zu unterstützen hat. Uns missfällt, wenn sich der Körper mit Schmerzen, irritierenden Funktionsveränderungen oder -einschränkungen meldet. Dann muss schnell Abhilfe geschaffen werden. Der Arzt soll es richten. Und in der Tat: Für die meisten Akutprobleme der «Maschine» kann die Schuldmedizin eine speditive, oft sehr klare und effektive Hilfe anbieten. Schnell sind Erklärungen gefunden, plausible Heilmassnahmen aufgezeigt und beruhigende Verlaufsszenarien abgesteckt. Aber was passiert, wenn sich aus dem Akutproblem eine chronische Entwicklung ergibt, wenn der Arzt plötzlich nicht mehr konkret und klar sein kann in seinem Angebot?
Der Umgang mit Patienten, die unter chronischen Schmerzen und anderen anhaltenden Beschwerden ohne sogenanntes organisches Korrelat leiden, zählt zu den grössten Herausforderungen im heutigen ärztlichen und therapeutischen Alltag. Wenn die direkten Interventions- oder Hilfsmöglichkeiten des Arztes am Patienten nicht mehr greifen, wird an den Zugang des Patienten zu sich selbst appelliert. Es wird ihm plötzlich eine erhebliche Mitverantwortung für seinen eigenen Heilungsprozess zuge-
sprochen, was häufig eine Überforderung und entsprechende emotionale Reaktionen hervorruft. Dem Arzt und Therapeuten kommt in der Folge die wichtige Aufgabe zu, diesen Selbstzugang bestmöglich zu begleiten, wenn nicht sogar anzuleiten.
In dieser Ausgabe beschreiben die Autoren psychosomatische Erkrankungen aus verschiedenen Perspektiven, wobei neue Ansätze eines Umgangs aufgezeigt werden, der die Krankheitssituation als ganzheitliches Geschehen von Psyche, sozialen Rahmenbedingungen und kulturellen Aspekten versteht.
Ulrich T. Egle, Zürich, unterstreicht in seinem Beitrag, dass stressinduzierte Schmerzerkrankungen in der Diagnostik chronischer Schmerzerkrankungen weiterhin kaum berücksichtigt werden (Seite 9 ff.). Dabei ist die Anerkennung der beschriebenen Beschwerden zentral und das Krankheitskonzept des Patienten ist zu akzeptieren – so lautet das Fazit von Beatrice Geml (Seite 4 ff.). Christian Schubert, Innsbruck, stellt die psychosomatischen Symptome, die mit dem Burn-outSyndrom verbunden sind, aus Sicht der Psychoneuroimmunologie dar und schreibt in seinem Beitrag, dass es an der Zeit sei, einen kritischen Blick auf die mit Burn-out einhergehenden biopsychosozialen Entfremdungsphänomene in Gesellschaft und Wissenschaft zu werfen (Seite 18 ff.). Dietmar Hansch, Meilen, stellt ein integratives Modell für Pathogenese und Behandlung von somatoformen Störungen und Angsterkrankungen vor (Seite 13 ff.).
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre. G
Dr. med. Dipl. Theol. Michael Pfaff Chefarzt
Clinica Holistica Engiadina SA 7542 Susch
E-Mail: m.pfaff@clinica-holistica.ch
2/2019
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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